»Jeder hat dieselbe Möglichkeit, etwas aus seinem Leben zu machen«, meint die achtzehnjährige Anne. Sie glaubt an Chancengleichheit bei Bildung oder Arbeitsmöglichkeiten. Anne ist eine selbstbewusste Frau, die nach dem Abitur ein freiwilliges soziales Jahr im Krankenhaus ableistet. Danach wird sie, wie ihr Vater, Medizin studieren.
Die zehnjährige Dana ist vor zwei Jahren mit Eltern und Geschwistern nach Deutschland gezogen und besucht noch die Grundschule. Die Familie kommt aus Rumänien und möchte sich hier eine bessere Existenz aufbauen. Die Eltern sprechen nur rudimentär Deutsch. Die Mutter arbeitet auf dem Feld. Sie hält mir eine Kartoffel entgegen, um zu erklären, dass sie während der Saison als Erntehelferin arbeitet. Der Vater verdingt sich als Hilfsarbeiter auf dem Bau. Dana hat zwei Geschwister. Wenn die Mutter auf dem Feld ist, muss sie sich um die jüngere vierjährige Schwester kümmern und kann dann nicht zur Schule gehen. Die ältere Schwester arbeitet als Reinigungskraft, u. a. in einer Pizzeria.
Dana zeigt mir das Zimmer, in dem sie mit ihren beiden Schwestern wohnt. Ich stelle mir vor, wie schwierig es für die Zehnjährige sein muss, zwischen den auf dem Boden liegenden drei Matratzen und in Anwesenheit der beiden Schwestern ihre Hausaufgaben zu machen. Einen Schreibtisch suche ich vergebens. Obwohl die Eltern arbeiten, reicht das Geld nicht für alle Schulmaterialien oder für Ausflüge. Oder für modischere Kleidung. In der Schule erlebt Dana die verbreiteten Vorurteile gegen Rumänen. Um etwas aus ihrem Leben zu machen, muss Dana deutlich höhere Hürden überwinden als die wohlbehütete und geförderte Anne. Diese junge Frau hatte ein eigenes Zimmer, konnte jeden Tag zur Schule gehen, an allen Ausflügen teilnehmen, ihre Freunde nach Hause einladen. Sie erhielt Nachhilfe- und Klavierunterricht. Ihre Eltern wissen um die Relevanz einer guten Bildung und haben die materiellen und immateriellen Ressourcen, ihre Tochter zu fördern.
PISA- und IGLU-Studien haben seit den 2000er Jahren die Diskussion über die Chancenungleichheiten im Bildungssystem befördert. Kinder, die aus einem Akademiker-Haushalt kommen, haben deutlich größere Chancen auf den Erwerb eines hohen Bildungsabschlusses als Kinder aus Nichtakademiker-Haushalten, so eines der Ergebnisse dieser Studien. Arm bleibt in der Regel arm und reich bleibt in der Regel reich, so könnte man es kurz und knapp zusammenfassen.
Eine differenzierte Erklärung, weshalb soziale Disparitäten zumeist über Generationen hinweg bestehen bleiben, hat der französische Sozialphilosoph Pierre Bourdieu erforscht. In seinem 1979 erschienen soziologischen Klassiker »Die feinen Unterschiede« hat er sich intensiv mit der Reproduktion sozialer Ungleichheiten beschäftigt. Die Überlegungen von Bourdieu gehen dabei über die ökonomisch begründeten Klassenverhältnisse von Karl Marx hinaus. Auf den sozialen Feldern unserer Gesellschaft begründet sich die Klassenzugehörigkeit, so Bourdieu, zunächst durch das ökonomische, das soziale und das kulturelle Kapital eines Menschen. Gemeint sind neben finanzieller Starthilfe zum Beispiel soziale Kontakte in Form von Nachhilfe oder Arbeits- bzw. Praktikumsgelegenheiten: Sie sind entscheidend für den Bildungserfolg oder das Erlangen eines attraktiven Jobs. Besonders wichtig ist das kulturelle Kapital, die erlernten kulturellen Werte: Sprachfertigkeiten, Geschmacksbildung, das Erlernen eines Instruments, Besuche von Theateraufführungen oder weltläufigen Restaurants, die Umgebung von Büchern, Benimmregeln – Erfahrungen, Fähigkeiten und Verhaltensweisen, die Kinder aus Akademiker-Haushalten von klein auf vorgelebt bekommen. Ein entscheidender Vorteil, um in einem von Akademikern gemachten System zurechtzukommen.
Eine zentrale Rolle in der Theorie von Bourdieu spielt der Habitus, also das Auftreten, die Umgangsformen, die Körpersprache oder die Kleidung. Anders ausgedrückt: Die allgemeine Grundhaltung eines Menschen, die Gesamtheit seines Verhaltens in der sozialen Welt. Gemeint sind seine einverleibten Strukturen, seine Neigungen und Veranlagungen, seine Lebensweise, Einstellungen und Wertvorstellungen. Der Habitus, so Bourdieu, ist die »strukturierte und strukturierende Struktur«. Unsere Umwelt und die Reaktion der Umwelt auf uns werden durch den Habitus geprägt. Unser Habitus ist ein Ergebnis von Sozialisation, wird unbewusst durch unsere soziale Herkunft oder unsere Kultur geprägt. Durch seinen Habitus kann sich das Individuum innerhalb seiner Klasse erfolgreich bewegen. Gleichzeitig schränkt ihn sein Habitus jedoch ein. Der Mensch erkennt und akzeptiert oft nur das, was er zu erkennen gewohnt ist. Dennoch ist der Habitus nicht statisch und darf als ein dynamisches Konzept verstanden werden, welches begrenzt verändert werden kann. Der Habitus oder der »Klassenhabitus«, wie Bourdieu auch sagt, ist innerhalb der gleichen sozialen Schicht keineswegs gleich, auch hier hängt es im Detail von »unterschiedlichen Positionen« im sozialen Raum ab und kann durch eigenständige Bildung beeinflusst werden.
In den vergangenen 40 Jahren hat sich Gesellschaft vielschichtig verändert, jedoch zeigen die Implikationen aus den Lebenswelten von Dana und Anna, dass die Mechanismen der Reproduktion sozialer Ungleichheiten weiterhin bedeutende Elemente sozialen Zusammenlebens ausmachen.
Den »Malocher« von früher scheint es nicht mehr zu geben. So ist der klassische Arbeiter, wie zum Beispiel der Bergarbeiter, der aus einer Arbeiterfamilie stammt und – genau wie seine Vorfahren und Nachkommen – ein regional verwurzeltes Leben führt, quantitativ betrachtet hierzulande viel seltener anzutreffen. Aus der Arbeiterklasse ist ein Milieu von Gelegenheitsjobbern, Saisonarbeitern und Leistungsaufstockern geworden, deren Arbeit nicht mehr identitätsstiftend sein kann, weil sie für viele zu fragil ist. Die Situation der sporadischen Hilfsarbeiter, die sich regional immer weniger verankern können, sondern vielmehr den Arbeitsgelegenheiten, die sich ihnen bieten, mitsamt ihren Familien hinterher ziehen müssen, führt dazu, dass sich räumliche Identitäten auflösen und kulturelle sowie soziale Enträumlichungen stattfinden. Diese beeinflussen soziale, kulturelle, ökonomische und, dadurch bedingt, politische Partizipationsasymmetrien. Warum sollte man sich in Vereinen engagieren, politisch einbringen oder das Schulleben mitgestalten, wenn einem die Perspektiven langfristig zu verweilen und ein Zuhause zu finden, verwehrt bleiben? Fehlende Zugehörigkeiten bedeuten auch fehlende Anerkennung.
Die feinen Unterschiede sind heute vielschichtiger, aber nicht weniger bedeutsam. Soziale Disparitäten reproduzieren sich weiterhin und auch der Zugang zu Bildung, Arbeit oder kulturellen Milieus hängt immer noch vom sozialen Hintergrund ab. Dana wird sich stärker anstrengen müssen, um einen hohen Bildungsabschluss zu erlangen und eine befriedigende Arbeit, als Anna, die von ihrer Familie auf dem Weg zu einem Bildungsabschluss unterstützt wird und den Habitus der Mittelschicht sozusagen mit der Muttermilch aufgesogen hat.
Die Aussage von Anne bedarf der Ergänzung, dass zwar jeder die Möglichkeit hat, etwas aus seinem Leben zu machen, jedoch die Chancen dafür sehr ungleich sind. Ein erster Schritt, Chancenungleichheiten zu reduzieren, ist, sich deren Existenz bewusst zu werden. Hier kommt der politischen Bildung eine tragende Rolle zu und auch die grundlegenden Überlegungen Bourdieus können helfen, das Verständnis für Partizipationsasymmetrien in unserer Gesellschaft zu fördern. Die Auflösung von Identitätsankern, die Zunahme fragiler Lebensformen und die wachsende Verachtung der Homeoffice-Arbeiter gegenüber den ungeschützten Straßen-Dienstleistern befördern weitaus stärker die zentrifugalen Kräfte gesellschaftlichen Zusammenlebens als dies vor 40 Jahren der Fall war.