70 Jahre Grundgesetz. Karlsruhe, Sitz des Bundesverfassungsgerichts, ist ganz aus dem Häuschen. Vom 22. bis 25. Mai lädt die Stadt alle Menschen zum großen VerfassungsFEST ein. Für mich eher Anlass zu kritischen Gedanken, die ich dem Präsidenten des höchsten Gerichts nicht vorenthalten wollte. Denn ich meine: Nichts gegen Feiern, aber wichtiger wäre wohl die Verwirklichung der Grundrechte. Mein Brief an Herrn Voßkuhle ist nachfolgend in Auszügen abgedruckt.
»Sehr geehrter Herr Professor Dr. Voßkuhle! […] Erfüllt es Sie nicht auch mit Sorge, dass zwischen den Grund- und Menschenrechten einerseits und der erfahrbaren Realität eine wachsende Kluft besteht? Zum Beispiel wurden und werden Millionen von Kindern über Generationen die Rechte verweigert, die jetzt gefeiert werden sollen. Auf dem Papier steht: Würde und freie Entfaltung der Persönlichkeit! Verbot jeder Benachteiligung! Eigentum zum Wohl der Allgemeinheit! Vergesellschaftung und Gemeineigentum! Sozialer Rechtsstaat und Volkssouveränität! Das alles klingt ja fast revolutionär. Die alleinerziehenden Mütter mit ihren Kindern, die Minijobber und prekär Beschäftigten haben von den schönen Worten nichts. Sie wissen doch auch, Herr Voßkuhle: Tausende Studien zeigen die Benachteiligung dieser Menschen, nicht nur im Einzelfall, sondern in Millionen Fällen. Nicht weil sie ein gutes Leben in Sicherheit nicht wünschten, sondern weil sie aufgrund ihrer sozialen Lage von einer gerechten Verteilung der gemeinsam erarbeiteten Güter ausgeschlossen sind.
Die systematische Benachteiligung der Kinder betrifft alle Lebensbereiche, insbesondere die Gesundheit, die Bildung, das Wohnen, die soziale Anerkennung und als Summe all dessen die Lebenserwartung. Das Materielle beeinflusst und beeinträchtigt das Lebensgefühl der Betroffenen, ihre Möglichkeit der Beteiligung, die Familienstimmung; ihr Selbstbild, ihre Selbstwirksamkeit werden davon geprägt. Das beginnt in der Schwangerschaft. Prof. U. T. Egle fasste 2015 für das Nationale Zentrum Frühe Hilfen zusammen: ›Nachgewiesen werden konnte, dass sich das Risiko für in der Kindheit stark belastete Menschen 2,4-fach erhöht, vor dem 65. Lebensjahr zu sterben. Kommen mehrere Kindheitsbelastungsfaktoren zusammen, liegt die durchschnittliche Lebenserwartung fast um 20 Jahre unter der von unbelasteten Kindern.‹
›Sozialer Rechtsstaat‹ verpflichtet den Staat zu gerechtem sozialen Ausgleich und dazu, für die tatsächliche Geltung der Grundrechte für alle zu sorgen. Beide Grundsäulen harren ebenso der Umsetzung wie die wirtschaftlich-sozialen Menschenrechte. Die Ungleichheit hat erschreckende Ausmaße angenommen. Über die Lebenschancen entscheidenden die sozialen Verhältnisse, in die Kinder hineingeboren werden: Ob die Mutter alleinerziehend ist, ob die Eltern Arbeit haben oder aus einem anderen Land kommen. Feudale Verhältnisse? Oder sind das eher die Klassenverhältnisse, von denen der Multimilliardär Warren Buffett sagt, es sei ein Krieg der Reichen gegen die Armen – und es sei seine Klasse, die diesen Krieg gewinnt? Herr Voßkuhle, gibt es eigentlich VerfassungsrichterInnen, die solche Verhältnisse aus eigener Erfahrung kennen?
Viele Menschen wissen und spüren, dass die anstehenden GG-Feiern eine einseitige Narration, eine Fake-Reality unterstützen sollen, die die bestehende Ungerechtigkeit aufrecht halten – und die Reichen noch reicher, die Ungleichheit noch größer machen sollen. Der Menschen, auf deren Kosten sie reich werden, wird nicht gedacht. Die Politik untergräbt ständig das Vertrauen (und das BverfG unterstützt sie dabei) der Bevölkerung, wenn in existenziellen Fragen der Gesundheit, des Friedens, der sozialen Gerechtigkeit salbungsvolle Reden und prunkvolle Feiern die Verwirklichung dieser Werte ersetzen. Herr Voßkuhle, wenn wir all die Ungerechtigkeiten und Skandale (Klima, CumEx, Diesel, Waffenexporte, Wohnungsnot …) sehen, erkennen wir, dass Profit, Markt und Investoreninteressen als dominierende Werte die Würde des Menschen ersetzen.
Alle unsere Petitionen, alle engagierten Bemühungen zur Durchsetzung der Grundrechte für alle Menschen sind bisher ohne Ergebnis geblieben. Es ist geradezu makaber zu sehen, wie kritische Artikel zum sozialen Rechtsstaat samt Forderungen nach Gerechtigkeit, die vor zehn oder zwanzig Jahren geschrieben wurden, ihre volle Gültigkeit behalten haben. 2011 schrieb ich Ihnen: »Wenn nicht eine einzelne politische Entscheidung, sondern eine große Zahl von Gesetzen (etwa zur Liberalisierung des Arbeits- und Finanzmarktes, zu Steuer-, Gesundheits- und Sozialpolitik) im Ergebnis ein grundlegendes Staatsziel, eine verpflichtende Verfassungsnorm außer Kraft setzt, wer ist dann in der Lage und dazu verpflichtet, dem Einhalt zu gebieten? Wenn die soziale Herkunft immer massiver die Lebenschancen bestimmt, wenn Grundrechte faktisch nur für Einflussreiche und Wohlhabende gelten, ist dann die Bundesrepublik Deutschland ein sozialer oder ein bürgerlich-liberaler Rechtsstaat? Wenn das BVerfG nicht einmal bei Vorliegen einer Klage zu den politischen Grundlagen dieser wachsenden Ungleichheit die Realgeltung der Grundrechte und den sozialen Ausgleich anmahnt – wer kann (und muss) dann die schleichende, aber massive Aushöhlung der Verfassung verhindern?« Sehr geehrter Herr Voßkuhle, ich muss wiederholen: Wie gedenken Sie beziehungsweise das Bundesverfassungsgericht dafür zu sorgen, dass die Grund- und Menschenrechte auch real Geltung erlangen und nicht nur auf dem Papier erscheinen und in Feierstunden gepriesen werden? (Ich möchte dieses Schreiben gern ebenso als offenen Brief behandeln wie Ihre Antwort.) Mit freundlichen Grüßen, Georg Rammer«