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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Feiern ist gut, Verwirklichen wäre besser

70 Jah­re Grund­ge­setz. Karls­ru­he, Sitz des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richts, ist ganz aus dem Häus­chen. Vom 22. bis 25. Mai lädt die Stadt alle Men­schen zum gro­ßen Ver­fas­sungs­FEST ein. Für mich eher Anlass zu kri­ti­schen Gedan­ken, die ich dem Prä­si­den­ten des höch­sten Gerichts nicht vor­ent­hal­ten woll­te. Denn ich mei­ne: Nichts gegen Fei­ern, aber wich­ti­ger wäre wohl die Ver­wirk­li­chung der Grund­rech­te. Mein Brief an Herrn Voß­kuh­le ist nach­fol­gend in Aus­zü­gen abgedruckt.

»Sehr geehr­ter Herr Pro­fes­sor Dr. Voß­kuh­le! […] Erfüllt es Sie nicht auch mit Sor­ge, dass zwi­schen den Grund- und Men­schen­rech­ten einer­seits und der erfahr­ba­ren Rea­li­tät eine wach­sen­de Kluft besteht? Zum Bei­spiel wur­den und wer­den Mil­lio­nen von Kin­dern über Gene­ra­tio­nen die Rech­te ver­wei­gert, die jetzt gefei­ert wer­den sol­len. Auf dem Papier steht: Wür­de und freie Ent­fal­tung der Per­sön­lich­keit! Ver­bot jeder Benach­tei­li­gung! Eigen­tum zum Wohl der All­ge­mein­heit! Ver­ge­sell­schaf­tung und Gemein­ei­gen­tum! Sozia­ler Rechts­staat und Volks­sou­ve­rä­ni­tät! Das alles klingt ja fast revo­lu­tio­när. Die allein­er­zie­hen­den Müt­ter mit ihren Kin­dern, die Mini­job­ber und pre­kär Beschäf­tig­ten haben von den schö­nen Wor­ten nichts. Sie wis­sen doch auch, Herr Voß­kuh­le: Tau­sen­de Stu­di­en zei­gen die Benach­tei­li­gung die­ser Men­schen, nicht nur im Ein­zel­fall, son­dern in Mil­lio­nen Fäl­len. Nicht weil sie ein gutes Leben in Sicher­heit nicht wünsch­ten, son­dern weil sie auf­grund ihrer sozia­len Lage von einer gerech­ten Ver­tei­lung der gemein­sam erar­bei­te­ten Güter aus­ge­schlos­sen sind.

Die syste­ma­ti­sche Benach­tei­li­gung der Kin­der betrifft alle Lebens­be­rei­che, ins­be­son­de­re die Gesund­heit, die Bil­dung, das Woh­nen, die sozia­le Aner­ken­nung und als Sum­me all des­sen die Lebens­er­war­tung. Das Mate­ri­el­le beein­flusst und beein­träch­tigt das Lebens­ge­fühl der Betrof­fe­nen, ihre Mög­lich­keit der Betei­li­gung, die Fami­li­en­stim­mung; ihr Selbst­bild, ihre Selbst­wirk­sam­keit wer­den davon geprägt. Das beginnt in der Schwan­ger­schaft. Prof. U. T. Egle fass­te 2015 für das Natio­na­le Zen­trum Frü­he Hil­fen zusam­men: ›Nach­ge­wie­sen wer­den konn­te, dass sich das Risi­ko für in der Kind­heit stark bela­ste­te Men­schen 2,4-fach erhöht, vor dem 65. Lebens­jahr zu ster­ben. Kom­men meh­re­re Kind­heits­be­la­stungs­fak­to­ren zusam­men, liegt die durch­schnitt­li­che Lebens­er­war­tung fast um 20 Jah­re unter der von unbe­la­ste­ten Kindern.‹

Sozia­ler Rechts­staat‹ ver­pflich­tet den Staat zu gerech­tem sozia­len Aus­gleich und dazu, für die tat­säch­li­che Gel­tung der Grund­rech­te für alle zu sor­gen. Bei­de Grund­säu­len har­ren eben­so der Umset­zung wie die wirt­schaft­lich-sozia­len Men­schen­rech­te. Die Ungleich­heit hat erschrecken­de Aus­ma­ße ange­nom­men. Über die Lebens­chan­cen ent­schei­den­den die sozia­len Ver­hält­nis­se, in die Kin­der hin­ein­ge­bo­ren wer­den: Ob die Mut­ter allein­er­zie­hend ist, ob die Eltern Arbeit haben oder aus einem ande­ren Land kom­men. Feu­da­le Ver­hält­nis­se? Oder sind das eher die Klas­sen­ver­hält­nis­se, von denen der Mul­ti­mil­li­ar­där War­ren Buf­fett sagt, es sei ein Krieg der Rei­chen gegen die Armen – und es sei sei­ne Klas­se, die die­sen Krieg gewinnt? Herr Voß­kuh­le, gibt es eigent­lich Ver­fas­sungs­rich­te­rIn­nen, die sol­che Ver­hält­nis­se aus eige­ner Erfah­rung kennen?

Vie­le Men­schen wis­sen und spü­ren, dass die anste­hen­den GG-Fei­ern eine ein­sei­ti­ge Nar­ra­ti­on, eine Fake-Rea­li­ty unter­stüt­zen sol­len, die die bestehen­de Unge­rech­tig­keit auf­recht hal­ten – und die Rei­chen noch rei­cher, die Ungleich­heit noch grö­ßer machen sol­len. Der Men­schen, auf deren Kosten sie reich wer­den, wird nicht gedacht. Die Poli­tik unter­gräbt stän­dig das Ver­trau­en (und das BverfG unter­stützt sie dabei) der Bevöl­ke­rung, wenn in exi­sten­zi­el­len Fra­gen der Gesund­heit, des Frie­dens, der sozia­len Gerech­tig­keit sal­bungs­vol­le Reden und prunk­vol­le Fei­ern die Ver­wirk­li­chung die­ser Wer­te erset­zen. Herr Voß­kuh­le, wenn wir all die Unge­rech­tig­kei­ten und Skan­da­le (Kli­ma, CumEx, Die­sel, Waf­fen­ex­por­te, Woh­nungs­not …) sehen, erken­nen wir, dass Pro­fit, Markt und Inve­sto­ren­in­ter­es­sen als domi­nie­ren­de Wer­te die Wür­de des Men­schen ersetzen.

Alle unse­re Peti­tio­nen, alle enga­gier­ten Bemü­hun­gen zur Durch­set­zung der Grund­rech­te für alle Men­schen sind bis­her ohne Ergeb­nis geblie­ben. Es ist gera­de­zu maka­ber zu sehen, wie kri­ti­sche Arti­kel zum sozia­len Rechts­staat samt For­de­run­gen nach Gerech­tig­keit, die vor zehn oder zwan­zig Jah­ren geschrie­ben wur­den, ihre vol­le Gül­tig­keit behal­ten haben. 2011 schrieb ich Ihnen: »Wenn nicht eine ein­zel­ne poli­ti­sche Ent­schei­dung, son­dern eine gro­ße Zahl von Geset­zen (etwa zur Libe­ra­li­sie­rung des Arbeits- und Finanz­mark­tes, zu Steu­er-, Gesund­heits- und Sozi­al­po­li­tik) im Ergeb­nis ein grund­le­gen­des Staats­ziel, eine ver­pflich­ten­de Ver­fas­sungs­norm außer Kraft setzt, wer ist dann in der Lage und dazu ver­pflich­tet, dem Ein­halt zu gebie­ten? Wenn die sozia­le Her­kunft immer mas­si­ver die Lebens­chan­cen bestimmt, wenn Grund­rech­te fak­tisch nur für Ein­fluss­rei­che und Wohl­ha­ben­de gel­ten, ist dann die Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land ein sozia­ler oder ein bür­ger­lich-libe­ra­ler Rechts­staat? Wenn das BVerfG nicht ein­mal bei Vor­lie­gen einer Kla­ge zu den poli­ti­schen Grund­la­gen die­ser wach­sen­den Ungleich­heit die Real­gel­tung der Grund­rech­te und den sozia­len Aus­gleich anmahnt – wer kann (und muss) dann die schlei­chen­de, aber mas­si­ve Aus­höh­lung der Ver­fas­sung ver­hin­dern?« Sehr geehr­ter Herr Voß­kuh­le, ich muss wie­der­ho­len: Wie geden­ken Sie bezie­hungs­wei­se das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt dafür zu sor­gen, dass die Grund- und Men­schen­rech­te auch real Gel­tung erlan­gen und nicht nur auf dem Papier erschei­nen und in Fei­er­stun­den geprie­sen wer­den? (Ich möch­te die­ses Schrei­ben gern eben­so als offe­nen Brief behan­deln wie Ihre Ant­wort.) Mit freund­li­chen Grü­ßen, Georg Rammer«