Wer einmal erleben möchte, wie zwei Jahre Corona die Menschen verändert hat, braucht heute nur eine Geburtstagsfeier im Verwandtenkreis zu absolvieren. Natürlich regelkonform im kleinen Kreis und nach den geltenden Vorschriften.
Sicher, Oma Anna hat irgendwie geistig abgebaut. Seit das Seniorenzentrum geschlossen ist, laufen bei ihr nur noch Volksmusik und Lokalnachrichten. Wen wundert es also! Aber die anderen? Es ist nicht zu entschuldigen, dass erwachsene Menschen, wenn sie sich in der Sinnlosigkeit ihres Lebens zu verlieren drohen, stolz davon berichten, mit welchen Nichtigkeiten sie einen neuen Blick auf ihr Dasein gewinnen wollen. Dass sie nun jeden Morgen meditieren (»Solltest du auch mal versuchen!«) oder ein Tutorial zum Thema »Filterkaffee und Röstaromen« absolvieren. Schlimmer noch als die diversen Freizeitbeschäftigungen, die die Netflix-müde Familie für sich entdeckt hat, ist die ungenierte Lust, derartige Belanglosigkeiten zu unterhaltsamen oder wenigstens angemessenen Gesprächsthemen machen zu wollen. Spätestens, wenn der eigene Bruder, mit dem man doch Tisch und Bett geteilt hat, über die Vorzüge unterschiedlicher Podcasts räsoniert, weiß man sicher, dass man auch engste Verwandte an die Corona-Pandemie verloren hat.
Es ist schon seltsam, wenn selbst Onkel Thomas, der sich bisher um jede Familienfeier erfolgreich gedrückt hat, plötzlich ganz rührselig davon schwärmt, dass man nun doch endlich, trotz 2Gplus, wieder einmal zusammengefunden hat. Nur wozu? Ein Gespräch will sich jedenfalls nicht entwickeln. Worüber möchte man auch schon reden? Über Politik, Gesundheit, all das, was man verpasst vom Leben da draußen? Wenn Tante Inge bedauert, dass sie nun schon seit zwei Jahren keinen »so richtig schönen Urlaub« planen konnte, ist es schwer zu vergessen, dass sie ihr Leben lang nie über einen Zeltplatz an der Mecklenburgischen Seenplatte hinausgekommen ist.
Corona hat die Verwandtschaft verändert. Das wird erschreckend klar, wenn sie doch einmal zum Kaffeetrinken vorbeikommt. Sie sind fremder geworden, trotz der regelmäßigen Telefonate. Sie bewegen sich irgendwie zurückhaltender und förmlicher. Es ist erschreckend, dass es niemanden erschreckt, wenn die Nichte darüber spricht, dass sie darauf wartet, dass ihr die aktuelle Krise »etwas Seelisches« schenkt.
Während sie auf ihre Offenbarung wartet, fällt es schwer, Themen abseits des alles bestimmenden Themas zu finden. Wenn selbst die Frage, woher der Kuchen stammt, dazu führt, dass über die vielen krankheitsbedingten Ausfälle beim Busunternehmen geklagt wird, wirkt die Kaffeerunde nicht nur deprimierend. Es scheint, als wäre es nie so langweilig gewesen, Familie um sich zu haben.
Vielleicht, wenn all das einmal vorbei sein wird, geht es wieder bergauf. Vielleicht macht es irgendwann wieder einmal Spaß, die Familie zu besuchen oder – noch riskanter – einzuladen. Aktuell ist es vor allem aber eines: brandgefährlich. Vor allem für die eigene Stimmung.