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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Familie 2Gplus

Wer ein­mal erle­ben möch­te, wie zwei Jah­re Coro­na die Men­schen ver­än­dert hat, braucht heu­te nur eine Geburts­tags­fei­er im Ver­wand­ten­kreis zu absol­vie­ren. Natür­lich regel­kon­form im klei­nen Kreis und nach den gel­ten­den Vorschriften.

Sicher, Oma Anna hat irgend­wie gei­stig abge­baut. Seit das Senio­ren­zen­trum geschlos­sen ist, lau­fen bei ihr nur noch Volks­mu­sik und Lokal­nach­rich­ten. Wen wun­dert es also! Aber die ande­ren? Es ist nicht zu ent­schul­di­gen, dass erwach­se­ne Men­schen, wenn sie sich in der Sinn­lo­sig­keit ihres Lebens zu ver­lie­ren dro­hen, stolz davon berich­ten, mit wel­chen Nich­tig­kei­ten sie einen neu­en Blick auf ihr Dasein gewin­nen wol­len. Dass sie nun jeden Mor­gen medi­tie­ren (»Soll­test du auch mal ver­su­chen!«) oder ein Tuto­ri­al zum The­ma »Fil­ter­kaf­fee und Röst­aro­men« absol­vie­ren. Schlim­mer noch als die diver­sen Frei­zeit­be­schäf­ti­gun­gen, die die Net­flix-müde Fami­lie für sich ent­deckt hat, ist die unge­nier­te Lust, der­ar­ti­ge Belang­lo­sig­kei­ten zu unter­halt­sa­men oder wenig­stens ange­mes­se­nen Gesprächs­the­men machen zu wol­len. Spä­te­stens, wenn der eige­ne Bru­der, mit dem man doch Tisch und Bett geteilt hat, über die Vor­zü­ge unter­schied­li­cher Pod­casts räso­niert, weiß man sicher, dass man auch eng­ste Ver­wand­te an die Coro­na-Pan­de­mie ver­lo­ren hat.

Es ist schon selt­sam, wenn selbst Onkel Tho­mas, der sich bis­her um jede Fami­li­en­fei­er erfolg­reich gedrückt hat, plötz­lich ganz rühr­se­lig davon schwärmt, dass man nun doch end­lich, trotz 2Gplus, wie­der ein­mal zusam­men­ge­fun­den hat. Nur wozu? Ein Gespräch will sich jeden­falls nicht ent­wickeln. Wor­über möch­te man auch schon reden? Über Poli­tik, Gesund­heit, all das, was man ver­passt vom Leben da drau­ßen? Wenn Tan­te Inge bedau­ert, dass sie nun schon seit zwei Jah­ren kei­nen »so rich­tig schö­nen Urlaub« pla­nen konn­te, ist es schwer zu ver­ges­sen, dass sie ihr Leben lang nie über einen Zelt­platz an der Meck­len­bur­gi­schen Seen­plat­te hin­aus­ge­kom­men ist.

Coro­na hat die Ver­wandt­schaft ver­än­dert. Das wird erschreckend klar, wenn sie doch ein­mal zum Kaf­fee­trin­ken vor­bei­kommt. Sie sind frem­der gewor­den, trotz der regel­mä­ßi­gen Tele­fo­na­te. Sie bewe­gen sich irgend­wie zurück­hal­ten­der und förm­li­cher. Es ist erschreckend, dass es nie­man­den erschreckt, wenn die Nich­te dar­über spricht, dass sie dar­auf war­tet, dass ihr die aktu­el­le Kri­se »etwas See­li­sches« schenkt.

Wäh­rend sie auf ihre Offen­ba­rung war­tet, fällt es schwer, The­men abseits des alles bestim­men­den The­mas zu fin­den. Wenn selbst die Fra­ge, woher der Kuchen stammt, dazu führt, dass über die vie­len krank­heits­be­ding­ten Aus­fäl­le beim Bus­un­ter­neh­men geklagt wird, wirkt die Kaf­fee­run­de nicht nur depri­mie­rend. Es scheint, als wäre es nie so lang­wei­lig gewe­sen, Fami­lie um sich zu haben.

Viel­leicht, wenn all das ein­mal vor­bei sein wird, geht es wie­der berg­auf. Viel­leicht macht es irgend­wann wie­der ein­mal Spaß, die Fami­lie zu besu­chen oder – noch ris­kan­ter – ein­zu­la­den. Aktu­ell ist es vor allem aber eines: brand­ge­fähr­lich. Vor allem für die eige­ne Stimmung.