Die Europawahl im Juni hat wie erwartet einen Durchmarsch der Rechten gebracht; aber auch viele Linke fragen sich: Ist die EU in ihrer bisherigen Form überhaupt noch zu retten? Dazu gibt es jetzt zwei Studien, eine deutsche und eine französische. Daniel Keil hat im Schmetterling-Verlag eine »Materialistische Europakritik« vorgelegt, die einen Überblick über die Geschichte der EU gibt. Er betont mehrfach, »materialistisch« bedeute gerade nicht, dass die EU ausschließlich von wirtschaftlichen Interessen bestimmt sei; politische und ideologische Elemente würden einen Eigenwert behaupten.
Der Autor schreibt, dass die EU von Anfang an ein Feld von Interessenskonflikten und Krisen war, die zwischen politischen und wirtschaftlichen Eliten der beteiligten Staaten, aber auch im Rahmen des Alltags der beteiligten Länder ausgetragen wurden. Keil unterscheidet fünf Phasen der Geschichte der EU, die letzte ist für ihn die Phase der »multiple(n) Desintegrationskrisen«. Themen der Konflikte waren, neben den Kämpfen der verschiedenen Kapitalanleger untereinander, u. a. der nicht aufgearbeitete Kolonialismus; die mangelnde demokratische Legitimierung der EU; Migration und Abschottung; der Brexit; Aufbau der EWG im Antagonismus gegen den Ostblock, was nach 1989 in Abhängigkeit von den USA wiederbelebt wurde; gegensätzliche Interessen zu den USA; die bisherige Unfähigkeit, eine eigene Armee aufzubauen, was aus pazifistischer Sicht natürlich begrüßt wird; die Finanzkrise von 2008 und in der Folge die Niederlage der Syriza-Regierung im gedemütigten Griechenland.
Die multiplen Krisen könnten zu einer Auflösung des Staatenbundes führen, aber die Aussichten sind selbst für Gegner der EU wenig erfreulich: Sowohl im Rahmen der EU wie in den Mitgliedsstaaten läuft die Politik in Richtung autoritärer Bearbeitung der Probleme. Die Ultrarechten schließlich, von der AfD und ihren »Geschwistern« in den anderen Ländern, haben nicht nur keine widerspruchsfreie Theorie anzubieten, nein, diese Widersprüche seien ihr Wesenskern, argumentiert Keil. Was sie wollen, ist im Grunde nichts weiter als ein gewaltsames Dreinschlagen (wohl in der illusionären Hoffnung, wenn alles kaputt sei, könne doch wie Phönix aus der Asche etwas Neues entstehen). Versteht man aber nach der Lektüre wirklich die Ursachen für das Driften der Bevölkerung nach rechts?
So materialreich und instruktiv die Studie von Daniel Keil ist, so fehlen doch gelegentlich wichtige Argumente. Beispielsweise wirft er Sahra Wagenknecht vor, sie übernehme in der Migrationsfrage Positionen der Rechten. In ihrem Buch »Die Selbstgerechten« hat aber Wagenknecht genau differenziert: Sie schreibt, es seien gerade die Arbeitgeber, die Migration förderten, um in Deutschland die Löhne niedrig zu halten, und das sei zu unterbinden (S. 159 ff.). Sie meint also, Menschen aus fernen Ländern sollten nicht mit dem Versprechen auf Arbeit hergelockt werden, denn sie würden auf diese Weise für Zwecke missbraucht, die ihnen ganz fern liegen. Bei Menschen, die aus Not hierher geflohen sind, ist Wagenknechts Position dagegen völlig eindeutig: Sie seien bedingungslos aufzunehmen (S. 149). Eine Frage ist auch, ob Keil der Problematik der Identität gerecht wird. Wir sehen das ja gerade bei »subalternen Gruppen« (wie sie Keil nennt), beispielsweise bei Migranten aus der Türkei, die ihre Identität im Islam suchen, weil die Mehrheitsgesellschaft ihnen keine wirkliche Perspektive bietet.
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Front Populaire (Volksfront) nennt sich eine europakritische Gruppe um den Philosophen Michel Onfray. Gerade ist die Nummer 16 ihrer gleichnamigen Zeitschrift erschienen, unter dem Titel »L’Europe démystifiée. Vie et mort d‘un empire« (Das entmystifizierte Europa. Leben und Tod eines Reiches). Auf dem Titelblatt ein langnasiger Pinocchio-Kopf mit Europamütze. Hauptkritik an Europa ist: 1. die EU ist nicht demokratisch. 2. Die EU untergräbt die Souveränität der demokratisch gewählten Regierungen der Mitgliedsländer. 3. Der Europäische Gerichtshof maßt sich Rechte an, die ihm nicht einmal durch die Verträge von Maastricht übertragen worden sind. 4. Die Europäische Zentralbank ordnet wie die deutsche alles dem Diktat der Geldstabilität unter und befördert damit die Verarmung.
Dass die EU ein neoliberales Wirtschaftsprojekt ist, ist unbestritten. Ziel war von Anfang an der freie Fluss von Kapital, Gütern und Menschen. General De Gaulle weigerte sich aber, die französische Souveränität aus der Hand zu geben, und das rechnen ihm Onfrays Mitarbeiter (unter 22 Männern nur eine Frau) hoch an. Die Autoren werfen der Regierung Mitterand vor, die Souveränität Frankreichs aufgegeben zu haben. Souveränität wird seit Jean Bodin (1529-1596) definiert als die Fähigkeit eines Staates, eigenes Geld in Umlauf zu bringen, die eigenen Grenzen zu kontrollieren und eine höchste Gerichtsbarkeit zu haben. All dieses sei inzwischen angekratzt, die Kommission gebe den Regierungen der Einzelstaaten Regeln vor, sei aber im Gegensatz zu diesen nicht demokratisch legitimiert. Dazu seien die versprochenen Erwartungen in keiner Weise erfüllt worden: Die Lage der Menschen und auch der heimischen Indus-trie habe sich nicht verbessert, im Gegenteil. Die EU habe vielmehr dazu geführt, dass Europa zum Spielball des internationalen, meist US-Kapitals geworden sei. Das spiegele sich auch in der Sicherheitspolitik, bei der man sich in die völlige Abhängigkeit vom Großen Bruder jenseits des Atlantiks begeben habe. Auch Deutschland kriegt sein Fett ab, aber mit Grund: Wiederholt hat ja die deutsche Regierung Frankreich brüskiert. Die deutsche Austeritätspolitik mit Hartz4 geht zu Lasten der übrigen Länder der EU.
Die Gruppe plädiert also für einen Austritt Frankreichs aus der EU, im Grunde damit für deren Auflösung. Leider fehlt bei dem Thema Energiepolitik eine Kritik an der in Frankreich dominierenden Atomkraft. Über deren Rolle für die französische Souveränität ist viel die Rede, aber nicht über ihre Gefahren. Das Thema Grenzen spielt in der Argumentation m. E. eine übertriebene Rolle. Die ungeregelte Migration, die wir im Augenblick erleben, lässt sich auch von Nationalstaaten nicht eindämmen oder nur unter fortwährender Verletzung der elementarsten Menschenrechte; diese Einsicht fehlt in den Beiträgen. Und dass einem Mann wie Alain de Benoist Raum gegeben wird, seine kruden Thesen über europäische Geschichte und Identität auszubreiten, nährt den Verdacht, die Gruppe wolle auf dem Feld der Ideologie die Ultrarechten noch rechts überholen.
Daniel Keil argumentiert in seinem letzten Kapitel, die Arbeiterschaft sei übernational, schon deshalb werde sich die Lage durch Rückgriff auf die Nationalstaaten nicht verbessern. Er sieht die gegenwärtige Struktur der EU als einen Ausdruck gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse; man könne also nicht einfach die übernationale Ebene streichen und glauben, das sei eine bessere Ausgangsbasis. »Linke Bewegungen wurden dann stark, als sie konkrete Verhältnisse des Kapitals bearbeiteten und beispielsweise Zwangsräumungen verhinderten, sich in Stadtteilen zusammenschlossen und Selbsthilfenetzwerke aufbauten (wie autonome Krankenhäuser usw.). Eine linkspopulistische Analyse, die von diesen konkreten Kämpfen absieht und sie in ein ›Wir-das-Volk-gegen-die-da-oben‹ presst, wird notwendigerweise scheitern und letztendlich in nationalistischen Phrasen versinken« (S. 189).
Daniel Keil: Materialistische Europakritik. Elemente kritischer Europaforschung. Black Books, Schmetterling Verlag, Stuttgart 2024, 222 S., 16,80 €.Front Populaire. La Revue de Michel Onfray, Nr. 16, Mai 2024, 159 S.