Europa macht sich gegenwärtig zur Festung, um unerwünschte Menschen fernzuhalten. Am 23. April brachte Rishi Sunak sein Gesetz, das Ruanda als sicheren Drittstaat definiert, durchs Unterhaus; das Oberhaus gab seinen Widerstand dagegen auf. Für den Sommer kündigte Sunak die ersten Abschiebflüge an. Am 10. April beschloss das EU-Parlament, ebenfalls künftig die Menschenwürde von Geflüchteten eklatant zu verletzen, was in der medialen Berichterstattung meist nur summarisch »Verschärfung des Asylrechts« genannt wird. Verdächtig oft bezeichnen Politiker diese »Verschärfung« als »humanitären Standards« genügend, womit sie offensichtlich ihr schlechtes Gewissen unter Beweis stellen. Zu einer Selbstverständlichkeit geworden ist die Rede von »illegaler« Migration. Da es jedoch ein Menschenrecht ist, das eigene Land zu verlassen und in einem anderen Land um Asyl und Schutz nachzusuchen, gibt es keine illegale oder irreguläre Migration. Diese von fast allen Politikern gebrauchte (und von Journalisten unreflektiert übernommene) Ausdrucksweise ist eine bewusste Irreführung, die dazu dienen soll, die geplanten Menschrechtsverletzungen zu rechtfertigen. Alle Flüchtlinge werden künftig in Lagern »an den EU-Außengrenzen« (also in Nicht-EU-Staaten) bis zu sechs Monate interniert, während ihr Asylverfahren abgewickelt wird. Akzeptierte Asylanten sollen in Kontingenten »gerecht« auf die EU-Staaten verteilt werden; Staaten, die keine Asylanten aufnehmen, müssen eine finanzielle Kompensation leisten, 20 000 Euro pro nicht aufgenommene Person. Abgelehnte Flüchtlinge werden in Drittstaaten abgeschoben, zu denen sie irgendeinen »Bezug« haben. Was das bedeutet, darf jeder EU-Staat selber interpretieren; ein »Bezug« besteht bereits, wenn ein Flüchtling auf seiner Fluchtroute durch diesen Staat gekommen ist. Die EU-Staaten erkaufen sich die Kooperation der Regierungen von diesen Drittstaaten mit Geld. Italien hat bereits einen Deal mit Albanien geschlossen, Deutschland mit Tunesien und Mauretanien. Anfang Mai unterschrieb Kommissionspräsidentin von der Leyen eine Vereinbarung mit der Regierung Libanons, das bis 2027 ca. eine Milliarde Euro erhält. Mit Ägyptens Diktator al-Sisi wurde ein ähnliches Abkommen im März vereinbart. »Mit ihrem Migrations-Deal mit Ägypten exportiert die EU ihre Grausamkeit in einen Drittstaat – und das nicht zum ersten Mal«, schrieb Giulia Messmer, Sprecherin von Sea-Watch, in der taz am 22. März. Mit Marokko ist Innenministerin Faeser noch am Verhandeln. Die EU beabsichtigt ferner, die EU-Behörde FRONTEX, die sich bislang an rechtswidrigen Pushbacks von Flüchtlingen (z. B. in Libyen, in Balkanstaaten und an der griechisch-türkischen Grenze) beteiligt, in afrikanischen Staaten als Unterstützung der dortigen Polizei tätig werden zu lassen, um die abermalige Flucht von abgelehnten Bewerben zu unterbinden. Nicht nur viele Migrationsforscher, auch Aktivisten prognostizieren, dass diese europäische Abschottungspolitik, die Inhaftierung von Migranten außerhalb Europas nicht funktionieren wird. Die Menschen werden sich immer wieder auf den Weg machen, weil die wohlhabende erste Welt ihnen dort, wo sie leben (und vermutlich gern bleiben würden, wenn sie könnten), das Leben zur Hölle macht. Schon jetzt werden die ersten Regionen durch den Klimawandel unbewohnbar.
Während die EU jene Menschen, die man nicht haben will und nicht zu brauchen glaubt, nach Afrika entsorgen und dort deponieren will, suchen europäische Regierungen in Afrika gleichzeitig nach ausgebildeten Arbeitskräften. »Brüssel will Fachkräfte anlocken. Talentpool soll Kräfte aus Drittstaaten vermitteln«, so die FAZ (16.11.2023). »Die EU-Kommission will mit einer neuen Jobplattform für Arbeitnehmer aus Drittstaaten gegen den Fachkräftemangel in Europa vorgehen.« Ein Fernsehbericht zeigt Nancy Faeser (SPD) in Marokko auf doppelter Werbetour. Sie wirbt zum einen dafür, dass das Land »unbrauchbare Menschen« aufnimmt und zum anderen dafür, dass es ausgebildete Menschen an Deutschland abgibt. Vor allem Pflegekräfte, die sich nach Deutschland abwerben lassen, werden gesucht. Auch private Kliniken und andere Unternehmen suchen in Eigeninitiative nach Arbeitskräften und werden dabei von der Bundesregierung unterstützt. Für die afrikanischen Gesellschaften ist das eine Katastrophe, sagt etwa der marokkanische Ökonom und Migrationsexperte Mehdi Lahlou vom National Institute of Statistics and Applied Economics (INSEA) in Rabat: »Länder wie Marokko gehen als Verlierer hervor. Denn sie verlieren gut ausgebildete Menschen, und so verliert das Land die Chance sich zu entwickeln.« Der EU ist – nach dem Motto »Jeder ist sich selbst der nächste« – die Entwicklung der Länder, wo sie unbrauchbare Menschen entsorgt und Fachkräfte abwirbt, völlig egal. Es ist die alte kolonialistische Einstellung der Europäer, die nie aufgehört hat und hier wieder zutage tritt. Heute nimmt man sich, was man haben will, nicht mehr wie einst mit grausamer Gewalt, sondern mit Geld, das die Gewalt ersetzt. Die EU betreibt einen primitiven und widerwärtigen Scheckbuchkolonialismus, der einmal mehr die Armut der Länder, die von den europäischen Mächten in die Armut gezwungen wurden, ausnützt. Dass die so genannten Entwicklungsländer »unterentwickelt« sind, ist nicht ihre eigene Schuld, sondern wurde von den imperialistischen Europäern bewusst und gezielt herbeigeführt. In Walter Rodneys wichtigem (jüngst wieder aufgelegtem) Buch Wie Europa Afrika unterentwickelte (1965) wird es detailliert erklärt. Von der frühen Neuzeit bis in die Gegenwart haben europäische Mächte den afrikanischen Kontinent und seine Menschen nach Kräften unterjocht, versklavt, ausgebeutet, verkauft, zerstört – und damit in die größtmögliche Armut getrieben. Heute nutzen sie diesen Zustand weiterhin aus. Auch nach der Entkolonialisierung haben IWF und Weltbank afrikanische Länder als Bedingung für Kredite immer wieder zu Maßnahmen genötigt, die den kapitalistischen Ländern zugutekamen. Mali zum Beispiel hatte eine funktionierende und diversifizierte Wirtschaftsstruktur, bis es vom IWF zur Umstellung auf eine Monokultur der Baumwollproduktion gezwungen wurde. Als der Weltmarktpreis für Baumwolle einbrach, stand das Land vor der Katastrophe. Jahrzehntelang subventionierte die EU die eigenen Landwirte, die auch nach Afrika exportierten und damit die dortigen Bauern ruinierten, die gegen die von der EU subventionieren Billigexporte nicht konkurrieren konnten. Heute rühmt sich die EU, dass sie Agrarexporte nach Afrika nicht mehr direkt unterstütze. Die Subventionen der EU-Bauern und deren Export nach Afrika aber blieben bestehen. Dass Europa selber die Ursachen für die jetzige Migrationsbewegung geschaffen hat und weiterhin schafft, wollen hiesige Politiker nicht begreifen. Sie erfinden lieber »Pull-Faktoren«; Deutschland sei so schön und attraktiv, lautet das national-narzisstische Narrativ, dass »alle zu uns kommen wollen«. Es gibt Politiker, die das glauben. Oder wenigstens so tun. Stellen sie sich nur dumm, oder sind sie es wirklich? Ein Beispiel für letzteres ist der als (mutmaßlicher, aber nicht rechtskräftig verurteilter) Mautbetrüger bekannt gewordene CSU-Mann Andreas Scheuer, der am 15. September 2016 im Regensburger Presseclub dies zum Besten gab: »Das Schlimmste ist ein fußballspielender, ministrierender Senegalese, der über drei Jahre da ist. Weil den wirst du nie wieder abschieben. Aber für den ist das Asylrecht nicht gemacht, sondern der ist Wirtschaftsflüchtling.« Ein christlicher Politiker überlässt den »Wirtschaftsflüchtling« gern dem Hungertod. Dass er selbst dafür verantwortlich ist, dass die Wirtschaft, aus der Menschen flüchten müssen, so desaströs ist, leuchtet ihm nicht ein. Und am »schlimmsten« ist es, wenn jemand dann tatsächlich integriert und von seiner Umgebung akzeptiert ist, denn dann setzen sich sogar – anders als ein Scheuer, Söder, Linnemann oder Merz es jemals tun würden – Deutsche für diesen »Wirtschaftsflüchtling«, mit dem sie Fußball spielen, ein. Das kommt, zum Entsetzen von christlichen Politikern, tatsächlich auch vor.
Viel ist gegenwärtig von Schleusern und »Menschenhändlern« die Rede, die Flüchtlinge auf illegale Weise nach Europa bringen. Ja, sie verletzen das Recht. Aber warum nicht? Warum soll man ein inhumanes Recht nicht brechen? Ein Recht, das keinen Respekt verdient, hat keine Dignität. Es kann nur mit Strafe drohen. Das heißt: Man darf sich nur nicht erwischen lassen. Moralisch stehen die Schleuser also auch nicht tiefer als die Politiker, die solches Recht in die Welt setzen. Übel ist es, wenn sie für ihre Dienste eine Menge Geld verlangen und dann auch noch unter Umständen die Menschen, die sich ihnen anvertraut haben, im Stich lassen. Aber auch solche Schleuser befinden sich noch immer im selben Kreis der Danteschen Hölle wie – pars pro toto: – Faeser und von der Leyen, Scholz und Macron. Die EU selber erzeugt dieses Geschäftsmodell, da sie keine legalen und sicheren Wege für alle Flüchtlinge schaffen will. Auch hier regieren ganz kapitalistisch Angebot und Nachfrage.
Im Juni 2024 wird das neue EU-Parlament gewählt, in dem eine migrationspolitische Koalition aus Rechtsextremen und Konservativen (EVP) die Mehrheit haben wird. Linksparteien werden keinerlei Einfluss ausüben. Natürlich stehen eine Carola Rackete und die Linke für das Gegenteil dessen, was kommen wird. Trotzdem legitimiert man durch Beteiligung an dieser Wahl ein Parlament, das sich schon jetzt mehrheitlich auf europäische Unmenschlichkeit, zu der auch die SPD und die deutschen Grünen sich bekennen, festgelegt hat. Ergo stellt sich für nachdenklichere EU-Bürger die Frage, ob man sich die Teilnahme an Wahlen zu einer Institution, in der die kolonialistischen rechten und liberalen Parteien im Verein mit der Kommission und dem Rat diese menschenverachtende Politik des Ruanda-Modells und der Abwerbung von Fachkräften betreiben, aus ethischen Gründen nicht kategorisch verbieten muss. Soll man ein Parlament der Inhumanität, das die Rechte der Menschen im globalen Süden rücksichtslos verletzt, ein Parlament, das die Demokratie zu einem Muster ohne Wert macht, wirklich legitimieren? Sapere aude!