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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Europäische Unmenschlichkeit(4)

Euro­pa macht sich gegen­wär­tig zur Festung, um uner­wünsch­te Men­schen fern­zu­hal­ten. Am 23. April brach­te Rishi Sunak sein Gesetz, das Ruan­da als siche­ren Dritt­staat defi­niert, durchs Unter­haus; das Ober­haus gab sei­nen Wider­stand dage­gen auf. Für den Som­mer kün­dig­te Sunak die ersten Abschieb­flü­ge an. Am 10. April beschloss das EU-Par­la­ment, eben­falls künf­tig die Men­schen­wür­de von Geflüch­te­ten ekla­tant zu ver­let­zen, was in der media­len Bericht­erstat­tung meist nur sum­ma­risch »Ver­schär­fung des Asyl­rechts« genannt wird. Ver­däch­tig oft bezeich­nen Poli­ti­ker die­se »Ver­schär­fung« als »huma­ni­tä­ren Stan­dards« genü­gend, womit sie offen­sicht­lich ihr schlech­tes Gewis­sen unter Beweis stel­len. Zu einer Selbst­ver­ständ­lich­keit gewor­den ist die Rede von »ille­ga­ler« Migra­ti­on. Da es jedoch ein Men­schen­recht ist, das eige­ne Land zu ver­las­sen und in einem ande­ren Land um Asyl und Schutz nach­zu­su­chen, gibt es kei­ne ille­ga­le oder irre­gu­lä­re Migra­ti­on. Die­se von fast allen Poli­ti­kern gebrauch­te (und von Jour­na­li­sten unre­flek­tiert über­nom­me­ne) Aus­drucks­wei­se ist eine bewuss­te Irre­füh­rung, die dazu die­nen soll, die geplan­ten Men­sch­rechts­ver­let­zun­gen zu recht­fer­ti­gen. Alle Flücht­lin­ge wer­den künf­tig in Lagern »an den EU-Außen­gren­zen« (also in Nicht-EU-Staa­ten) bis zu sechs Mona­te inter­niert, wäh­rend ihr Asyl­ver­fah­ren abge­wickelt wird. Akzep­tier­te Asy­lan­ten sol­len in Kon­tin­gen­ten »gerecht« auf die EU-Staa­ten ver­teilt wer­den; Staa­ten, die kei­ne Asy­lan­ten auf­neh­men, müs­sen eine finan­zi­el­le Kom­pen­sa­ti­on lei­sten, 20 000 Euro pro nicht auf­ge­nom­me­ne Per­son. Abge­lehn­te Flücht­lin­ge wer­den in Dritt­staa­ten abge­scho­ben, zu denen sie irgend­ei­nen »Bezug« haben. Was das bedeu­tet, darf jeder EU-Staat sel­ber inter­pre­tie­ren; ein »Bezug« besteht bereits, wenn ein Flücht­ling auf sei­ner Flucht­rou­te durch die­sen Staat gekom­men ist. Die EU-Staa­ten erkau­fen sich die Koope­ra­ti­on der Regie­run­gen von die­sen Dritt­staa­ten mit Geld. Ita­li­en hat bereits einen Deal mit Alba­ni­en geschlos­sen, Deutsch­land mit Tune­si­en und Mau­re­ta­ni­en. Anfang Mai unter­schrieb Kom­mis­si­ons­prä­si­den­tin von der Ley­en eine Ver­ein­ba­rung mit der Regie­rung Liba­nons, das bis 2027 ca. eine Mil­li­ar­de Euro erhält. Mit Ägyp­tens Dik­ta­tor al-Sisi wur­de ein ähn­li­ches Abkom­men im März ver­ein­bart. »Mit ihrem Migra­ti­ons-Deal mit Ägyp­ten expor­tiert die EU ihre Grau­sam­keit in einen Dritt­staat – und das nicht zum ersten Mal«, schrieb Giu­lia Mess­mer, Spre­che­rin von Sea-Watch, in der taz am 22. März. Mit Marok­ko ist Innen­mi­ni­ste­rin Faeser noch am Ver­han­deln. Die EU beab­sich­tigt fer­ner, die EU-Behör­de FRONTEX, die sich bis­lang an rechts­wid­ri­gen Push­backs von Flücht­lin­gen (z. B. in Liby­en, in Bal­kan­staa­ten und an der grie­chisch-tür­ki­schen Gren­ze) betei­ligt, in afri­ka­ni­schen Staa­ten als Unter­stüt­zung der dor­ti­gen Poli­zei tätig wer­den zu las­sen, um die aber­ma­li­ge Flucht von abge­lehn­ten Bewer­ben zu unter­bin­den. Nicht nur vie­le Migra­ti­ons­for­scher, auch Akti­vi­sten pro­gno­sti­zie­ren, dass die­se euro­päi­sche Abschot­tungs­po­li­tik, die Inhaf­tie­rung von Migran­ten außer­halb Euro­pas nicht funk­tio­nie­ren wird. Die Men­schen wer­den sich immer wie­der auf den Weg machen, weil die wohl­ha­ben­de erste Welt ihnen dort, wo sie leben (und ver­mut­lich gern blei­ben wür­den, wenn sie könn­ten), das Leben zur Höl­le macht. Schon jetzt wer­den die ersten Regio­nen durch den Kli­ma­wan­del unbewohnbar.

Wäh­rend die EU jene Men­schen, die man nicht haben will und nicht zu brau­chen glaubt, nach Afri­ka ent­sor­gen und dort depo­nie­ren will, suchen euro­päi­sche Regie­run­gen in Afri­ka gleich­zei­tig nach aus­ge­bil­de­ten Arbeits­kräf­ten. »Brüs­sel will Fach­kräf­te anlocken. Talent­pool soll Kräf­te aus Dritt­staa­ten ver­mit­teln«, so die FAZ (16.11.2023). »Die EU-Kom­mis­si­on will mit einer neu­en Job­platt­form für Arbeit­neh­mer aus Dritt­staa­ten gegen den Fach­kräf­te­man­gel in Euro­pa vor­ge­hen.« Ein Fern­seh­be­richt zeigt Nan­cy Faeser (SPD) in Marok­ko auf dop­pel­ter Wer­be­tour. Sie wirbt zum einen dafür, dass das Land »unbrauch­ba­re Men­schen« auf­nimmt und zum ande­ren dafür, dass es aus­ge­bil­de­te Men­schen an Deutsch­land abgibt. Vor allem Pfle­ge­kräf­te, die sich nach Deutsch­land abwer­ben las­sen, wer­den gesucht. Auch pri­va­te Kli­ni­ken und ande­re Unter­neh­men suchen in Eigen­in­itia­ti­ve nach Arbeits­kräf­ten und wer­den dabei von der Bun­des­re­gie­rung unter­stützt. Für die afri­ka­ni­schen Gesell­schaf­ten ist das eine Kata­stro­phe, sagt etwa der marok­ka­ni­sche Öko­nom und Migra­ti­ons­exper­te Meh­di Lahl­ou vom Natio­nal Insti­tu­te of Sta­tis­tics and Applied Eco­no­mics (INSEA) in Rabat: »Län­der wie Marok­ko gehen als Ver­lie­rer her­vor. Denn sie ver­lie­ren gut aus­ge­bil­de­te Men­schen, und so ver­liert das Land die Chan­ce sich zu ent­wickeln.« Der EU ist – nach dem Mot­to »Jeder ist sich selbst der näch­ste« – die Ent­wick­lung der Län­der, wo sie unbrauch­ba­re Men­schen ent­sorgt und Fach­kräf­te abwirbt, völ­lig egal. Es ist die alte kolo­nia­li­sti­sche Ein­stel­lung der Euro­pä­er, die nie auf­ge­hört hat und hier wie­der zuta­ge tritt. Heu­te nimmt man sich, was man haben will, nicht mehr wie einst mit grau­sa­mer Gewalt, son­dern mit Geld, das die Gewalt ersetzt. Die EU betreibt einen pri­mi­ti­ven und wider­wär­ti­gen Scheck­buch­ko­lo­nia­lis­mus, der ein­mal mehr die Armut der Län­der, die von den euro­päi­schen Mäch­ten in die Armut gezwun­gen wur­den, aus­nützt. Dass die so genann­ten Ent­wick­lungs­län­der »unter­ent­wickelt« sind, ist nicht ihre eige­ne Schuld, son­dern wur­de von den impe­ria­li­sti­schen Euro­pä­ern bewusst und gezielt her­bei­ge­führt. In Wal­ter Rod­neys wich­ti­gem (jüngst wie­der auf­ge­leg­tem) Buch Wie Euro­pa Afri­ka unter­ent­wickel­te (1965) wird es detail­liert erklärt. Von der frü­hen Neu­zeit bis in die Gegen­wart haben euro­päi­sche Mäch­te den afri­ka­ni­schen Kon­ti­nent und sei­ne Men­schen nach Kräf­ten unter­jocht, ver­sklavt, aus­ge­beu­tet, ver­kauft, zer­stört – und damit in die größt­mög­li­che Armut getrie­ben. Heu­te nut­zen sie die­sen Zustand wei­ter­hin aus. Auch nach der Ent­ko­lo­nia­li­sie­rung haben IWF und Welt­bank afri­ka­ni­sche Län­der als Bedin­gung für Kre­di­te immer wie­der zu Maß­nah­men genö­tigt, die den kapi­ta­li­sti­schen Län­dern zugu­te­ka­men. Mali zum Bei­spiel hat­te eine funk­tio­nie­ren­de und diver­si­fi­zier­te Wirt­schafts­struk­tur, bis es vom IWF zur Umstel­lung auf eine Mono­kul­tur der Baum­woll­pro­duk­ti­on gezwun­gen wur­de. Als der Welt­markt­preis für Baum­wol­le ein­brach, stand das Land vor der Kata­stro­phe. Jahr­zehn­te­lang sub­ven­tio­nier­te die EU die eige­nen Land­wir­te, die auch nach Afri­ka expor­tier­ten und damit die dor­ti­gen Bau­ern rui­nier­ten, die gegen die von der EU sub­ven­tio­nie­ren Bil­lig­ex­por­te nicht kon­kur­rie­ren konn­ten. Heu­te rühmt sich die EU, dass sie Agrar­ex­por­te nach Afri­ka nicht mehr direkt unter­stüt­ze. Die Sub­ven­tio­nen der EU-Bau­ern und deren Export nach Afri­ka aber blie­ben bestehen. Dass Euro­pa sel­ber die Ursa­chen für die jet­zi­ge Migra­ti­ons­be­we­gung geschaf­fen hat und wei­ter­hin schafft, wol­len hie­si­ge Poli­ti­ker nicht begrei­fen. Sie erfin­den lie­ber »Pull-Fak­to­ren«; Deutsch­land sei so schön und attrak­tiv, lau­tet das natio­nal-nar­ziss­ti­sche Nar­ra­tiv, dass »alle zu uns kom­men wol­len«. Es gibt Poli­ti­ker, die das glau­ben. Oder wenig­stens so tun. Stel­len sie sich nur dumm, oder sind sie es wirk­lich? Ein Bei­spiel für letz­te­res ist der als (mut­maß­li­cher, aber nicht rechts­kräf­tig ver­ur­teil­ter) Maut­be­trü­ger bekannt gewor­de­ne CSU-Mann Andre­as Scheu­er, der am 15. Sep­tem­ber 2016 im Regens­bur­ger Pres­se­club dies zum Besten gab: »Das Schlimm­ste ist ein fuß­ball­spie­len­der, mini­strie­ren­der Sene­ga­le­se, der über drei Jah­re da ist. Weil den wirst du nie wie­der abschie­ben. Aber für den ist das Asyl­recht nicht gemacht, son­dern der ist Wirt­schafts­flücht­ling.« Ein christ­li­cher Poli­ti­ker über­lässt den »Wirt­schafts­flücht­ling« gern dem Hun­ger­tod. Dass er selbst dafür ver­ant­wort­lich ist, dass die Wirt­schaft, aus der Men­schen flüch­ten müs­sen, so desa­strös ist, leuch­tet ihm nicht ein. Und am »schlimm­sten« ist es, wenn jemand dann tat­säch­lich inte­griert und von sei­ner Umge­bung akzep­tiert ist, denn dann set­zen sich sogar – anders als ein Scheu­er, Söder, Lin­ne­mann oder Merz es jemals tun wür­den – Deut­sche für die­sen »Wirt­schafts­flücht­ling«, mit dem sie Fuß­ball spie­len, ein. Das kommt, zum Ent­set­zen von christ­li­chen Poli­ti­kern, tat­säch­lich auch vor.

Viel ist gegen­wär­tig von Schleu­sern und »Men­schen­händ­lern« die Rede, die Flücht­lin­ge auf ille­ga­le Wei­se nach Euro­pa brin­gen. Ja, sie ver­let­zen das Recht. Aber war­um nicht? War­um soll man ein inhu­ma­nes Recht nicht bre­chen? Ein Recht, das kei­nen Respekt ver­dient, hat kei­ne Digni­tät. Es kann nur mit Stra­fe dro­hen. Das heißt: Man darf sich nur nicht erwi­schen las­sen. Mora­lisch ste­hen die Schleu­ser also auch nicht tie­fer als die Poli­ti­ker, die sol­ches Recht in die Welt set­zen. Übel ist es, wenn sie für ihre Dien­ste eine Men­ge Geld ver­lan­gen und dann auch noch unter Umstän­den die Men­schen, die sich ihnen anver­traut haben, im Stich las­sen. Aber auch sol­che Schleu­ser befin­den sich noch immer im sel­ben Kreis der Dan­te­schen Höl­le wie – pars pro toto: – Faeser und von der Ley­en, Scholz und Macron. Die EU sel­ber erzeugt die­ses Geschäfts­mo­dell, da sie kei­ne lega­len und siche­ren Wege für alle Flücht­lin­ge schaf­fen will. Auch hier regie­ren ganz kapi­ta­li­stisch Ange­bot und Nachfrage.

Im Juni 2024 wird das neue EU-Par­la­ment gewählt, in dem eine migra­ti­ons­po­li­ti­sche Koali­ti­on aus Rechts­extre­men und Kon­ser­va­ti­ven (EVP) die Mehr­heit haben wird. Links­par­tei­en wer­den kei­ner­lei Ein­fluss aus­üben. Natür­lich ste­hen eine Caro­la Racke­te und die Lin­ke für das Gegen­teil des­sen, was kom­men wird. Trotz­dem legi­ti­miert man durch Betei­li­gung an die­ser Wahl ein Par­la­ment, das sich schon jetzt mehr­heit­lich auf euro­päi­sche Unmensch­lich­keit, zu der auch die SPD und die deut­schen Grü­nen sich beken­nen, fest­ge­legt hat. Ergo stellt sich für nach­denk­li­che­re EU-Bür­ger die Fra­ge, ob man sich die Teil­nah­me an Wah­len zu einer Insti­tu­ti­on, in der die kolo­nia­li­sti­schen rech­ten und libe­ra­len Par­tei­en im Ver­ein mit der Kom­mis­si­on und dem Rat die­se men­schen­ver­ach­ten­de Poli­tik des Ruan­da-Modells und der Abwer­bung von Fach­kräf­ten betrei­ben, aus ethi­schen Grün­den nicht kate­go­risch ver­bie­ten muss. Soll man ein Par­la­ment der Inhu­ma­ni­tät, das die Rech­te der Men­schen im glo­ba­len Süden rück­sichts­los ver­letzt, ein Par­la­ment, das die Demo­kra­tie zu einem Muster ohne Wert macht, wirk­lich legi­ti­mie­ren? Sape­re aude!