Titelte eine Zeitung mit der Schlagzeile »Bundeskanzler Scholz lobt Einigung auf Menschenrechtsverletzungen«, würde man das nicht glauben wollen. Es ist aber wahr. Im Bundestag pries Olaf Scholz die »Reform« des Asylverfahrens, auf die sich die EU-Innenminister am 8. Juni 2023 verständigten, als »historische Einigung«, die zeige, »dass die EU ihre Differenzen auch bei den kontroversesten Themen überwinden kann«. Und: »Alle haben dafür Kompromisse eingehen müssen, auch in Deutschland.«
Der sogenannte »Asylkompromiss« sieht vor, dass Asylbewerber – auch Kinder – künftig an den Grenzen der EU in »Aufnahmeeinrichtungen« inhaftiert werden, wo über ihren Asylantrag entschieden wird und von wo bei Ablehnung die Abschiebung erfolgt. Diese Internierung ist eine eklatante Verletzung der Menschenrechte. Die EU versucht, sich und die Öffentlichkeit damit zu beschwichtigen, dass der Aufenthalt nicht lang sein werde, da Asylverfahren im Regelfall in zwölf Wochen, maximal in sechs Monaten durchgezogen werden sollen. Dennoch ist die Inhaftierung von Menschen, die keine Straftat begangen haben, und ohne Urteil durch eine unabhängige Judikative eine Menschrechtsverletzung. Abgelehnte Asylbewerber sollen keine Widerspruchsmöglichkeit gegen die Entscheidung und die Abschiebung haben. Das wiederum ist eine Verletzung des Rechtsstaatsprinzips. Zu einem Rechtsstaat, so steht es (jedenfalls bisher, aber vielleicht wird es demnächst ja geändert) im Grundgesetz, gehört der Rechtsweg. So wenig jedoch eine Leiter mit nur einer Sprosse eine Leiter ist, so wenig ist ein Rechtsweg mit nur einer Instanz ein Rechtsweg. Er ist ein weiterer Bruch der Verfassung.
Der gepriesene historische Kompromiss wird aber vor allem darin gesehen, dass die (wenigen) anerkannten Asylsuchenden proportional auf die EU-Mitgliedsländer verteilt werden. Nimmt ein Land nicht die ihm zugewiesene Anzahl von Asylsuchenden auf, soll es für jede nicht aufgenommene Person 20.000 Euro Kompensation zahlen müssen. Keine neue Idee und auch keine wirkliche Einigung: Die ungarische und die polnische Regierung haben postwendend erklärt, dass sie weder Flüchtlinge aufnehmen noch Kompensation bezahlen werden.
Eine tatsächlich neue und kaum wahrgenommene Komponente der »Reform« besteht jedoch darin, dass abgelehnte Bewerber nicht mehr in ihr Herkunftsland, sondern auch in irgendwelche anderen Drittländer abgeschoben werden können, die von der EU als sichere Drittländer deklariert werden und mit denen sie entsprechende Verträge über die Aufnahme abgelehnter Migranten – natürlich gegen Bezahlung – schließt. Wie unbrauchbares Material werden die abgelehnten Menschen irgendwohin deportiert, vorzugsweise in die »Dritte Welt«, wo man das Geld braucht – und dort sich selbst bzw. der jeweiligen Regierung überlassen. Ähnliche Verträge gibt es bereits über die Abnahme von Müll aus Europa mit Afrika oder Asien.
Kanzler Scholz, der so gerne und unablässig von Respekt redet, hat solchen für Flüchtlinge nur dann übrig, wenn sie sich als »dringend benötigte Fachkräfte« erweisen. Ganz kurz kam innerhalb der SPD und der Partei der Grünen Protest gegen die von Deutschland befürworteten menschenverachtenden Pläne der EU auf. Die Juso-Vorsitzende Jessica Rosenthal nannte die Pläne »beschämend« und »ein einziges Unrecht«. Ihre Kritik (»Die menschenunwürdige Behandlung von Geflüchteten wird hiermit rechtlich abgesichert.«) hatte aber keinerlei Folgen. Auch achtzig Mandatsträger der Grünen in diversen Landtagen appellierten an ihre Parteiführung, die EU-Pläne nicht mitzutragen, aber ebenso erfolglos. Zwar sah der SPIEGEL (der Schlagzeile wegen) die Partei schon »vor einer Zerreißprobe«, aber wer sich daran erinnerte, wie schnell die Grünen 1999 einem Angriffskrieg zustimmten, wusste, dass sie sich auch jetzt mit Menschenrechtsverletzungen einverstanden erklären würden. Auf einem Länderrat genannten »kleinen Parteitag« einigte man sich, wie das meist so ist, auf einen verbal fein austarierten Formelkompromiss, der erstens (sehr schnell) das Gewissen der Kritiker besänftigte und zweitens an der Sache nichts änderte.
Hinweis: Dieser Text ist der Beginn einer kleinen Reihe zur »Europäischen Unmenschlichkeit«