Im Juni 2023 veröffentlichte die AfD ihren Leitantrag zum Parteitag am 6. August 2023, bei dem das Europawahl-Programm beschlossen wurde, in dem es heißt: »Erforderlich ist ein strikter Grenzschutz, verbunden mit der Abweisung illegaler Migranten, soweit möglich an den Außengrenzen der EU – soweit nötig an der deutschen Grenze. Falls Asylbewerber trotz des Grenzschutzes nach Deutschland gelangen, müssen ihre Asylverfahren in einem dazu bereiten Drittstaat durchgeführt werden, wo sie im Falle der tatsächlichen Schutzbedürftigkeit auch Aufnahme finden (›Ruanda-Modell‹).«
Ein paar Monate später schließt sich die CDU der AfD-Forderung an. Jens Spahn sagt im Interview mit der Neuen Osnabrücker Zeitung (16.12.2023): »Wir wollen jeden Migranten, der irregulär die EU erreicht, in einen sicheren Drittstaat bringen. Mit diesem haben wir entsprechende vertragliche Vereinbarungen, wonach er dort ein Asylverfahren bekommt und im Falle der Schutzgewährung dort sicher bleiben kann.« Auf die Rückfrage: »Eine humanitäre Verpflichtung, Flüchtlingen in Deutschland Schutz zu gewähren, sehen Sie nicht?«, antwortet er: »Wenn wir sicherstellen können, dass Flüchtlinge in einem sicheren Drittstaat einen sicheren Hafen erhalten, dann ist der Verpflichtung genüge getan.« Den Einwand: »Es gibt keine solchen Abkommen. Ist das nicht eine Scheinlösung?«, lässt er nicht gelten. »Nach meinem Wissen hat sich niemand ernsthaft um ein solches Abkommen bemüht. Ruanda wäre wohl dazu bereit. Ghana möglicherweise auch. Auch mit osteuropäischen Ländern wie Georgien, Moldawien sollten wir sprechen. (…) Wenn wir das vier, sechs, acht Wochen lang durchziehen, dann werden die Zahlen dramatisch zurückgehen. Viele werden sich erst gar nicht mehr auf den Weg machen, wenn klar ist, dass dieser binnen 48 Stunden in einen sicheren Drittstaat außerhalb der EU führt.«
Ende Dezember nimmt die CDU den Ruanda-Plan in den Entwurf ihres neuen Grundsatzprogramms auf, das im Januar 2024 beschlossen wird. Am 6. März 2024 beschließt auch die Europäische Volkspartei (EVP) in Bukarest, in der Migrationspolitik das »Ruanda-Modell« durchzusetzen. Das ist eine Abkehr vom sogenannten Asylkompromiss, auf den sich die EU-Innenminister und die Kommission (also auch mit der neuen EVP-Spitzenkandidatin von der Leyen) im Dezember 2023 geeinigt hatten. Treibende Kraft sind CDU und CSU, in deren am 7. März 2024 vorgestelltem Europawahlprogramm man liest: »Wir brauchen eine bessere Überwachung der EU-Außengrenzen und – wo immer es nötig ist – auch baulichen Grenzschutz. (…) Jeder, der in Europa Asyl beantragt soll in einen sicheren Drittstaat außerhalb der EU gebracht werden und dort ein Verfahren durchlaufen. (…) Im Falle der Anerkennung soll der sichere Drittstaat ihnen Schutz gewähren.« Nur das EVP-Wort »könnte« (could) ersetzen die Christdemokraten durch ein »soll«, wo die AfD von »müssen« spricht.
Die angebliche Brandmauer zu den Rechtspopulisten, die EVP-Chef Manfred Weber versprach, existiert beim entscheidenden Wahlkampfthema ganz offensichtlich nicht. Die Rechten und die Rechtsextremen harmonieren migrationspolitisch bestens. Die Konservativen glauben tatsächlich, durch Imitation der Rechtspopulisten, von diesen Stimmen zurückzugewinnen. Aber weshalb sollten die Wähler, die unter keinen Umständen mit Flüchtlingen und armen Menschen aus der Dritten Welt zusammenleben wollen, die Kopie nehmen und nicht doch lieber das Original?
Erfunden wurde das Ruanda-Modell 2022 vom damaligen britischen Premierminister Boris Johnson und dessen Innenministerin Priti Patel; das Ziel ist, dass es gar keine Asylanten mehr in Großbritannien (und, wenn es nach AfD und EVP geht, demnächst in der EU) mehr gibt. Auch wenn Bewerber nach Durchführung ihres Verfahrens in Ruanda als Asylanten anerkannt werden, müssen sie dortbleiben; ebenso die abgelehnten Bewerber. Die britische Regierung zahlt (nach eigenen Angaben) der Regierung Ruandas 290 Millionen Pfund, nach Überprüfung des Rechnungshofs jedoch eine knappe halbe Milliarde; laut Premierminister Rishi Sunak eine »lohnende Investition«. Dazu kommen nochmal 175 000 Euro pro deportierten Flüchtling. Bisher aber ist noch keiner eingetroffen. Ein erster von der britischen Regierung angeordneter Abschiebeflug wurde im Juni 2022 vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in allerletzter Minute gestoppt. Im September 2023 legte das britische Innenministerium daraufhin ein Gesetz vor, das jedoch vom britischen Supreme Court als rechtswidrig verworfen wurde, weil Ruanda kein sicherer Drittstaat und ein faires Verfahren dort nicht garantiert sei. In einer nachgebesserten Neuauflage des Gesetzes wird nun einfach der Staat Ruanda durch die Unterhausmehrheit als sicher und menschenrechtskonform definiert, wodurch Abschiebungen juristisch abgesichert werden sollen. Dazu der Kommentar des früheren Gesundheits-, Bildungs-, Innen- und Finanzministers (in den Kabinetten von Thatcher und Major) Kenneth Clarke: Noch nie habe er es erlebt, dass eine Tatsache (ein Land als sicherer Drittstaat) per Gesetz festgeschrieben und auf unbestimmte Zeit als geltend etabliert werden könne.
In einem Fernsehinterview wettete der Moderator Piers Morgan gegen Sunak um tausend Pfund, dass dieser es nicht schaffen werde, sein Versprechen der britischen Öffentlichkeit gegenüber einzulösen und noch vor Jahresende die ersten Flüchtlinge nach Ruanda deportieren zu lassen. Sunak schlug ein. Was hätte er, dem im Herbst oder Winter Wahlen bevorstehen, auch tun sollen? Etwa sagen »Um so etwas wettet man als anständiger Mensch nicht«?
Europäische Politiker versprechen sich also von der Ruanda-Strategie zwei Vorteile: Flüchtlinge kommen gar nicht mehr ins Land; und Flüchtlinge überlegen es sich – wie Jens Spahn glaubt – zweimal, ob sie sich überhaupt auf den Weg machen, wenn sie wissen, dass ihre »Unterbringung dann in einem Drittstaat außerhalb Europas stattfinden wird«, so Alexander Dobrindt (CSU) gegenüber dem Münchner Merkur (01.03.2024). Um den migrationspolitischen Druck auf die deutsche Regierung zu erhöhen, reiste Dobrindt nach Ruanda, wo er »Gespräche mit der Regierung« führte, um dort auch Deutschland als Lieferstaat ins Gespräch zu bringen: »Organisatorisch, politisch und gesellschaftlich ist Ruanda zu einem Drittstaaten-Abkommen in der Lage, und die Regierung dort will mit uns ein solches Abkommen schließen.« Dass Ruandas Inlandsprodukt pro Kopf nur 4,5 Prozent des deutschen beträgt, dass das Land nur ein Dreizehntel der Fläche Deutschlands hat, dabei mehr als doppelt so dicht besiedelt ist, dass diese Dichte als eine der Ursachen für den Genozid der Hutu an den Tutsi im Jahr 1994 eingestuft wird, all das ist den christlichen Politikern der EVP und der AfD egal. In Deutschland gilt jede mittelgroße Kommune als finanziell und psychisch überfordert, wenn sie sechzig oder achtzig Asylbewerber aufnehmen soll, aber Dobrindts Ruanda ist dazu »politisch und gesellschaftlich in der Lage«.
Wenn das Modell tatsächlich verwirklicht würde, wäre Art. 16a abgeschafft – ganz ohne Grundgesetzänderung. Die Einführung verstößt jedoch dreifach gegen die Verfassung. Zwar lässt sie in Absatz 5 von Artikel 16a Verträge mit Drittstaaten zu, »die unter Beachtung der Verpflichtungen aus dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge und der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, deren Anwendung in den Vertragsstaaten sichergestellt sein muss, Zuständigkeitsregelungen für die Prüfung von Asylbegehren einschließlich der gegenseitigen Anerkennung von Asylentscheidungen treffen.«. Jedoch gelten solche Abkommen nur für die Durchführung des Anerkennungsverfahrens, nicht für die weitere Unterbringung in den Drittstaaten. Absatz 1 des Artikel 16a (»Politisch Verfolgte genießen Asylrecht«) bedeutet, dass das daraus folgende Aufenthaltsrecht in Deutschland wahrgenommen wird, nicht irgendwo in der Welt. Außerdem ist die Anwendung der Menschenrechtskonvention in Ruanda eben nicht »sichergestellt«. Präsident Paul Kagame regiert autokratisch, Meinungsfreiheit gibt es nicht. Immer wieder wird in Dokumentationen (die auch CDU-Politiker sehen könnten) von eklatanten Verstößen gegen die elementarsten Rechte, von willkürlichen Verhaftungen und von Folter berichtet. Es dürfen nur Demonstrationen stattfinden, die von der Regierung oder der Regierungspartei organisiert werden, sagt Victoire Ingabire Umuhoza, die 2010 für die oppositionelle United Democratic Forces als Präsidentschaftskandidatin antrat, daraufhin wegen Terrorismus und Gefährdung der nationalen Sicherheit angeklagt und zu 15 Jahren Gefängnis verurteilt wurde; nach acht Jahren, von denen sie sechs in Einzelhaft verbrachte, wurde sie frei gelassen. Vom African Court on Human and Peoples‘ Rights wurde sie vollständig rehabilitiert. Dennoch darf sie im kommenden Juli »wegen früherer Verurteilungen« nicht zur Präsidentschaftswahl antreten. »Ruanda ist kein demokratisches Land«, sagt sie. CDU und AfD kümmert das nicht. In ihrer gemeinsamen Ignoranz der Realität gegenüber sind sie ganz auf einer Linie. Und die SPD? Auch sie will ja der AfD entgegentreten. Der Tagesspiegel (20.02.2024) weiß: »Ampel diskutiert das ›Ruanda-Modell‹: Nein, ja, vielleicht.« Lars Castellucci, stellvertretender Vorsitzender des Innenausschusses des Bundestags: »Asylverfahren in Ländern außerhalb der EU durchzuführen ist eine Option – und wenn sich die Regierung von Ruanda dazu bereiterklärt, auch dort.« Nur will er nicht Schutzsuchende, die bereits in Europa sind, in Drittländer abschieben. Zusammen mit den SPD-Bundestagskollegen Fabian Funke und Frank Schwabe verfasste er unter der pathetischen Überschrift »Schluss mit dem Massengrab Mittelmeer durch ein humanes und kontrolliertes Asylmanagement« ein Impulspapier, in dem sie »Migrationszentren in sicheren Drittstaaten« vorschlagen, wo die Prüfverfahren durchgeführt werden. Wer »die gesetzlichen Kriterien für Asyl erfüllt«, bekommt »Schutzstatus gewährt« und soll regulär in die EU einreisen dürfen. Der Unterschied zum CDU/AfD-Modell ist, dass anerkannte Bewerber nicht in Afrika bleiben müssen. Was aber mit den abgelehnten Flüchtlingen geschehen soll, darüber schweigt das unermüdlich »humanitäre Standards« und Menschenrechte beschwörende Impulspapier, das so dem eigentlichen Problem geschickt ausweicht. Denn diese nach Flüchtlingskonvention subsidiär Geschützten ohne Asylberechtigung (die »Ausreispflichtigen«) will man ja loswerden. Wie so oft verdeckt sozialdemokratisches Pathos den fehlenden Inhalt. Die FDP ist bereits auf CDU/AfD-Ruanda-Linie. Ricarda Lang von den Grünen kann sich (noch) »nicht vorstellen, wie das rechtlich mit der Europäischen Menschenrechtskonvention, der Genfer Flüchtlingskonvention vereinbar ist«. Dabei ist das so einfach. Wenn nach der Wahl im Juni Kommission, Ministerrat und ein bürgerlich-rechtspopulistisch dominiertes EU-Parlament das Ruanda-Modell beschließen, wird es von allen in Europa regierendenden Parteien (auch den Grünen) mitgetragen werden. Es genügt ja, wenn auf dem Paket das Etikett »humanitäre Standards garantiert« klebt. Die Drittstaatenregierungen werden das für Geld gern unterschreiben. Und was mit den schutzsuchenden Menschen wirklich geschieht, geht die EU (und all ihre demokratischen Politiker) dann nichts mehr an.