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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Europäische Unmenschlichkeit (3)

Im Juni 2023 ver­öf­fent­lich­te die AfD ihren Leit­an­trag zum Par­tei­tag am 6. August 2023, bei dem das Euro­pa­wahl-Pro­gramm beschlos­sen wur­de, in dem es heißt: »Erfor­der­lich ist ein strik­ter Grenz­schutz, ver­bun­den mit der Abwei­sung ille­ga­ler Migran­ten, soweit mög­lich an den Außen­gren­zen der EU – soweit nötig an der deut­schen Gren­ze. Falls Asyl­be­wer­ber trotz des Grenz­schut­zes nach Deutsch­land gelan­gen, müs­sen ihre Asyl­ver­fah­ren in einem dazu berei­ten Dritt­staat durch­ge­führt wer­den, wo sie im Fal­le der tat­säch­li­chen Schutz­be­dürf­tig­keit auch Auf­nah­me fin­den (›Ruan­da-Modell‹).«

Ein paar Mona­te spä­ter schließt sich die CDU der AfD-For­de­rung an. Jens Spahn sagt im Inter­view mit der Neu­en Osna­brücker Zei­tung (16.12.2023): »Wir wol­len jeden Migran­ten, der irre­gu­lär die EU erreicht, in einen siche­ren Dritt­staat brin­gen. Mit die­sem haben wir ent­spre­chen­de ver­trag­li­che Ver­ein­ba­run­gen, wonach er dort ein Asyl­ver­fah­ren bekommt und im Fal­le der Schutz­ge­wäh­rung dort sicher blei­ben kann.« Auf die Rück­fra­ge: »Eine huma­ni­tä­re Ver­pflich­tung, Flücht­lin­gen in Deutsch­land Schutz zu gewäh­ren, sehen Sie nicht?«, ant­wor­tet er: »Wenn wir sicher­stel­len kön­nen, dass Flücht­lin­ge in einem siche­ren Dritt­staat einen siche­ren Hafen erhal­ten, dann ist der Ver­pflich­tung genü­ge getan.« Den Ein­wand: »Es gibt kei­ne sol­chen Abkom­men. Ist das nicht eine Schein­lö­sung?«, lässt er nicht gel­ten. »Nach mei­nem Wis­sen hat sich nie­mand ernst­haft um ein sol­ches Abkom­men bemüht. Ruan­da wäre wohl dazu bereit. Gha­na mög­li­cher­wei­se auch. Auch mit ost­eu­ro­päi­schen Län­dern wie Geor­gi­en, Mol­da­wi­en soll­ten wir spre­chen. (…) Wenn wir das vier, sechs, acht Wochen lang durch­zie­hen, dann wer­den die Zah­len dra­ma­tisch zurück­ge­hen. Vie­le wer­den sich erst gar nicht mehr auf den Weg machen, wenn klar ist, dass die­ser bin­nen 48 Stun­den in einen siche­ren Dritt­staat außer­halb der EU führt.«

Ende Dezem­ber nimmt die CDU den Ruan­da-Plan in den Ent­wurf ihres neu­en Grund­satz­pro­gramms auf, das im Janu­ar 2024 beschlos­sen wird. Am 6. März 2024 beschließt auch die Euro­päi­sche Volks­par­tei (EVP) in Buka­rest, in der Migra­ti­ons­po­li­tik das »Ruan­da-Modell« durch­zu­set­zen. Das ist eine Abkehr vom soge­nann­ten Asyl­kom­pro­miss, auf den sich die EU-Innen­mi­ni­ster und die Kom­mis­si­on (also auch mit der neu­en EVP-Spit­zen­kan­di­da­tin von der Ley­en) im Dezem­ber 2023 geei­nigt hat­ten. Trei­ben­de Kraft sind CDU und CSU, in deren am 7. März 2024 vor­ge­stell­tem Euro­pa­wahl­pro­gramm man liest: »Wir brau­chen eine bes­se­re Über­wa­chung der EU-Außen­gren­zen und – wo immer es nötig ist – auch bau­li­chen Grenz­schutz. (…) Jeder, der in Euro­pa Asyl bean­tragt soll in einen siche­ren Dritt­staat außer­halb der EU gebracht wer­den und dort ein Ver­fah­ren durch­lau­fen. (…) Im Fal­le der Aner­ken­nung soll der siche­re Dritt­staat ihnen Schutz gewäh­ren.« Nur das EVP-Wort »könn­te« (could) erset­zen die Christ­de­mo­kra­ten durch ein »soll«, wo die AfD von »müs­sen« spricht.

Die angeb­li­che Brand­mau­er zu den Rechts­po­pu­li­sten, die EVP-Chef Man­fred Weber ver­sprach, exi­stiert beim ent­schei­den­den Wahl­kampf­the­ma ganz offen­sicht­lich nicht. Die Rech­ten und die Rechts­extre­men har­mo­nie­ren migra­ti­ons­po­li­tisch bestens. Die Kon­ser­va­ti­ven glau­ben tat­säch­lich, durch Imi­ta­ti­on der Rechts­po­pu­li­sten, von die­sen Stim­men zurück­zu­ge­win­nen. Aber wes­halb soll­ten die Wäh­ler, die unter kei­nen Umstän­den mit Flücht­lin­gen und armen Men­schen aus der Drit­ten Welt zusam­men­le­ben wol­len, die Kopie neh­men und nicht doch lie­ber das Original?

Erfun­den wur­de das Ruan­da-Modell 2022 vom dama­li­gen bri­ti­schen Pre­mier­mi­ni­ster Boris John­son und des­sen Innen­mi­ni­ste­rin Priti Patel; das Ziel ist, dass es gar kei­ne Asy­lan­ten mehr in Groß­bri­tan­ni­en (und, wenn es nach AfD und EVP geht, dem­nächst in der EU) mehr gibt. Auch wenn Bewer­ber nach Durch­füh­rung ihres Ver­fah­rens in Ruan­da als Asy­lan­ten aner­kannt wer­den, müs­sen sie dort­blei­ben; eben­so die abge­lehn­ten Bewer­ber. Die bri­ti­sche Regie­rung zahlt (nach eige­nen Anga­ben) der Regie­rung Ruan­das 290 Mil­lio­nen Pfund, nach Über­prü­fung des Rech­nungs­hofs jedoch eine knap­pe hal­be Mil­li­ar­de; laut Pre­mier­mi­ni­ster Rishi Sunak eine »loh­nen­de Inve­sti­ti­on«. Dazu kom­men noch­mal 175 000 Euro pro depor­tier­ten Flücht­ling. Bis­her aber ist noch kei­ner ein­ge­trof­fen. Ein erster von der bri­ti­schen Regie­rung ange­ord­ne­ter Abschie­be­flug wur­de im Juni 2022 vom Euro­päi­schen Gerichts­hof für Men­schen­rech­te in aller­letz­ter Minu­te gestoppt. Im Sep­tem­ber 2023 leg­te das bri­ti­sche Innen­mi­ni­ste­ri­um dar­auf­hin ein Gesetz vor, das jedoch vom bri­ti­schen Supre­me Court als rechts­wid­rig ver­wor­fen wur­de, weil Ruan­da kein siche­rer Dritt­staat und ein fai­res Ver­fah­ren dort nicht garan­tiert sei. In einer nach­ge­bes­ser­ten Neu­auf­la­ge des Geset­zes wird nun ein­fach der Staat Ruan­da durch die Unter­haus­mehr­heit als sicher und men­schen­rechts­kon­form defi­niert, wodurch Abschie­bun­gen juri­stisch abge­si­chert wer­den sol­len. Dazu der Kom­men­tar des frü­he­ren Gesund­heits-, Bil­dungs-, Innen- und Finanz­mi­ni­sters (in den Kabi­net­ten von That­cher und Major) Ken­neth Clar­ke: Noch nie habe er es erlebt, dass eine Tat­sa­che (ein Land als siche­rer Dritt­staat) per Gesetz fest­ge­schrie­ben und auf unbe­stimm­te Zeit als gel­tend eta­bliert wer­den könne.

In einem Fern­seh­in­ter­view wet­te­te der Mode­ra­tor Piers Mor­gan gegen Sunak um tau­send Pfund, dass die­ser es nicht schaf­fen wer­de, sein Ver­spre­chen der bri­ti­schen Öffent­lich­keit gegen­über ein­zu­lö­sen und noch vor Jah­res­en­de die ersten Flücht­lin­ge nach Ruan­da depor­tie­ren zu las­sen. Sunak schlug ein. Was hät­te er, dem im Herbst oder Win­ter Wah­len bevor­ste­hen, auch tun sol­len? Etwa sagen »Um so etwas wet­tet man als anstän­di­ger Mensch nicht«?

Euro­päi­sche Poli­ti­ker ver­spre­chen sich also von der Ruan­da-Stra­te­gie zwei Vor­tei­le: Flücht­lin­ge kom­men gar nicht mehr ins Land; und Flücht­lin­ge über­le­gen es sich – wie Jens Spahn glaubt – zwei­mal, ob sie sich über­haupt auf den Weg machen, wenn sie wis­sen, dass ihre »Unter­brin­gung dann in einem Dritt­staat außer­halb Euro­pas statt­fin­den wird«, so Alex­an­der Dob­rindt (CSU) gegen­über dem Münch­ner Mer­kur (01.03.2024). Um den migra­ti­ons­po­li­ti­schen Druck auf die deut­sche Regie­rung zu erhö­hen, rei­ste Dob­rindt nach Ruan­da, wo er »Gesprä­che mit der Regie­rung« führ­te, um dort auch Deutsch­land als Lie­fer­staat ins Gespräch zu brin­gen: »Orga­ni­sa­to­risch, poli­tisch und gesell­schaft­lich ist Ruan­da zu einem Dritt­staa­ten-Abkom­men in der Lage, und die Regie­rung dort will mit uns ein sol­ches Abkom­men schlie­ßen.« Dass Ruan­das Inlands­pro­dukt pro Kopf nur 4,5 Pro­zent des deut­schen beträgt, dass das Land nur ein Drei­zehn­tel der Flä­che Deutsch­lands hat, dabei mehr als dop­pelt so dicht besie­delt ist, dass die­se Dich­te als eine der Ursa­chen für den Geno­zid der Hutu an den Tut­si im Jahr 1994 ein­ge­stuft wird, all das ist den christ­li­chen Poli­ti­kern der EVP und der AfD egal. In Deutsch­land gilt jede mit­tel­gro­ße Kom­mu­ne als finan­zi­ell und psy­chisch über­for­dert, wenn sie sech­zig oder acht­zig Asyl­be­wer­ber auf­neh­men soll, aber Dob­rindts Ruan­da ist dazu »poli­tisch und gesell­schaft­lich in der Lage«.

Wenn das Modell tat­säch­lich ver­wirk­licht wür­de, wäre Art. 16a abge­schafft – ganz ohne Grund­ge­setz­än­de­rung. Die Ein­füh­rung ver­stößt jedoch drei­fach gegen die Ver­fas­sung. Zwar lässt sie in Absatz 5 von Arti­kel 16a Ver­trä­ge mit Dritt­staa­ten zu, »die unter Beach­tung der Ver­pflich­tun­gen aus dem Abkom­men über die Rechts­stel­lung der Flücht­lin­ge und der Kon­ven­ti­on zum Schut­ze der Men­schen­rech­te und Grund­frei­hei­ten, deren Anwen­dung in den Ver­trags­staa­ten sicher­ge­stellt sein muss, Zustän­dig­keits­re­ge­lun­gen für die Prü­fung von Asyl­be­geh­ren ein­schließ­lich der gegen­sei­ti­gen Aner­ken­nung von Asy­l­ent­schei­dun­gen tref­fen.«. Jedoch gel­ten sol­che Abkom­men nur für die Durch­füh­rung des Aner­ken­nungs­ver­fah­rens, nicht für die wei­te­re Unter­brin­gung in den Dritt­staa­ten. Absatz 1 des Arti­kel 16a (»Poli­tisch Ver­folg­te genie­ßen Asyl­recht«) bedeu­tet, dass das dar­aus fol­gen­de Auf­ent­halts­recht in Deutsch­land wahr­ge­nom­men wird, nicht irgend­wo in der Welt. Außer­dem ist die Anwen­dung der Men­schen­rechts­kon­ven­ti­on in Ruan­da eben nicht »sicher­ge­stellt«. Prä­si­dent Paul Kaga­me regiert auto­kra­tisch, Mei­nungs­frei­heit gibt es nicht. Immer wie­der wird in Doku­men­ta­tio­nen (die auch CDU-Poli­ti­ker sehen könn­ten) von ekla­tan­ten Ver­stö­ßen gegen die ele­men­tar­sten Rech­te, von will­kür­li­chen Ver­haf­tun­gen und von Fol­ter berich­tet. Es dür­fen nur Demon­stra­tio­nen statt­fin­den, die von der Regie­rung oder der Regie­rungs­par­tei orga­ni­siert wer­den, sagt Vic­toire Ing­ab­i­re Umu­ho­za, die 2010 für die oppo­si­tio­nel­le United Demo­cra­tic Forces als Prä­si­dent­schafts­kan­di­da­tin antrat, dar­auf­hin wegen Ter­ro­ris­mus und Gefähr­dung der natio­na­len Sicher­heit ange­klagt und zu 15 Jah­ren Gefäng­nis ver­ur­teilt wur­de; nach acht Jah­ren, von denen sie sechs in Ein­zel­haft ver­brach­te, wur­de sie frei gelas­sen. Vom Afri­can Court on Human and Peo­p­les‘ Rights wur­de sie voll­stän­dig reha­bi­li­tiert. Den­noch darf sie im kom­men­den Juli »wegen frü­he­rer Ver­ur­tei­lun­gen« nicht zur Prä­si­dent­schafts­wahl antre­ten. »Ruan­da ist kein demo­kra­ti­sches Land«, sagt sie. CDU und AfD küm­mert das nicht. In ihrer gemein­sa­men Igno­ranz der Rea­li­tät gegen­über sind sie ganz auf einer Linie. Und die SPD? Auch sie will ja der AfD ent­ge­gen­tre­ten. Der Tages­spie­gel (20.02.2024) weiß: »Ampel dis­ku­tiert das ›Ruan­da-Modell‹: Nein, ja, viel­leicht.« Lars Castel­luc­ci, stell­ver­tre­ten­der Vor­sit­zen­der des Innen­aus­schus­ses des Bun­des­tags: »Asyl­ver­fah­ren in Län­dern außer­halb der EU durch­zu­füh­ren ist eine Opti­on – und wenn sich die Regie­rung von Ruan­da dazu bereit­erklärt, auch dort.« Nur will er nicht Schutz­su­chen­de, die bereits in Euro­pa sind, in Dritt­län­der abschie­ben. Zusam­men mit den SPD-Bun­des­tags­kol­le­gen Fabi­an Fun­ke und Frank Schwa­be ver­fass­te er unter der pathe­ti­schen Über­schrift »Schluss mit dem Mas­sen­grab Mit­tel­meer durch ein huma­nes und kon­trol­lier­tes Asyl­ma­nage­ment« ein Impuls­pa­pier, in dem sie »Migra­ti­ons­zen­tren in siche­ren Dritt­staa­ten« vor­schla­gen, wo die Prüf­ver­fah­ren durch­ge­führt wer­den. Wer »die gesetz­li­chen Kri­te­ri­en für Asyl erfüllt«, bekommt »Schutz­sta­tus gewährt« und soll regu­lär in die EU ein­rei­sen dür­fen. Der Unter­schied zum CDU/AfD-Modell ist, dass aner­kann­te Bewer­ber nicht in Afri­ka blei­ben müs­sen. Was aber mit den abge­lehn­ten Flücht­lin­gen gesche­hen soll, dar­über schweigt das uner­müd­lich »huma­ni­tä­re Stan­dards« und Men­schen­rech­te beschwö­ren­de Impuls­pa­pier, das so dem eigent­li­chen Pro­blem geschickt aus­weicht. Denn die­se nach Flücht­lings­kon­ven­ti­on sub­si­di­är Geschütz­ten ohne Asyl­be­rech­ti­gung (die »Aus­reis­pflich­ti­gen«) will man ja los­wer­den. Wie so oft ver­deckt sozi­al­de­mo­kra­ti­sches Pathos den feh­len­den Inhalt. Die FDP ist bereits auf CDU/AfD-Ruan­da-Linie. Ricar­da Lang von den Grü­nen kann sich (noch) »nicht vor­stel­len, wie das recht­lich mit der Euro­päi­schen Men­schen­rechts­kon­ven­ti­on, der Gen­fer Flücht­lings­kon­ven­ti­on ver­ein­bar ist«. Dabei ist das so ein­fach. Wenn nach der Wahl im Juni Kom­mis­si­on, Mini­ster­rat und ein bür­ger­lich-rechts­po­pu­li­stisch domi­nier­tes EU-Par­la­ment das Ruan­da-Modell beschlie­ßen, wird es von allen in Euro­pa regie­ren­den­den Par­tei­en (auch den Grü­nen) mit­ge­tra­gen wer­den. Es genügt ja, wenn auf dem Paket das Eti­kett »huma­ni­tä­re Stan­dards garan­tiert« klebt. Die Dritt­staa­ten­re­gie­run­gen wer­den das für Geld gern unter­schrei­ben. Und was mit den schutz­su­chen­den Men­schen wirk­lich geschieht, geht die EU (und all ihre demo­kra­ti­schen Poli­ti­ker) dann nichts mehr an.