Jedes Jahr findet am 27. Januar im Deutschen Bundestag eine Gedenkveranstaltung zur Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz statt. 2016 war Ruth Klüger, die als Elfjährige ins KZ Theresienstadt und als Vierzehnjährige nach Auschwitz kam, als Rednerin eingeladen worden. Am Ende ihrer Rede sagte sie über Deutschland: »Dieses Land, das vor achtzig Jahren für die schlimmsten Verbrechen des Jahrhunderts verantwortlich war, hat heute den Beifall der Welt gewonnen, dank seiner geöffneten Grenzen und der Großherzigkeit, mit der Sie die Flut von syrischen und anderen Flüchtlingen aufgenommen haben und noch aufnehmen. Ich bin eine von den vielen Außenstehenden, die von Verwunderung zu Bewunderung übergegangen sind. Das war der Hauptgrund, warum ich mit großer Freude Ihre Einladung angenommen und die Gelegenheit wahrgenommen habe, in diesem Rahmen über die früheren Untaten sprechen zu dürfen, hier, wo ein gegensätzliches Vorbild entstanden ist und entsteht, mit dem bescheiden anmutenden und dabei heroischen Slogan: Wir schaffen das.« Der Applaus im Deutschen Bundestag war kaum verhallt, als die ersten Politiker und Medien von der Migrationskrise 2015 sprachen, die sich nicht wiederholen dürfe. Und es wurden immer mehr, in allen Parteien, bis absolut nichts mehr übrig war von der Großherzigkeit, die Ruth Klüger glaubte bewundern zu dürfen.
Acht Jahre nachdem Deutschland zum ersten Mal wirklich Größe zeigte, redet es sich nun selbst parteiübergreifend und mit Unterstützung aller tonangebenden Medien in einen regelrechten Rausch der angeblichen Überforderung, der Erschöpfung, des Kontrollverlusts, der unzumutbaren Belastung durch Migranten. Und da Wahlkampf stattfindet (und auch 2024 und 2025 stattfinden wird), lassen sich alle Parteien von der AfD vor sich hertreiben. Nicht nur Merz übernimmt mit seiner primitiven Räuberpistole aus den frühen neunziger Jahren, dass sich die Asylbewerber in Deutschland nur kostenlosen Zahnersatz erschleichen, den AfD-Tonfall. Auch Reinhard Müller von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung kommentiert am 4.10.23: »Missbrauch durch Migranten. Die Aushöhlung des Sozialstaats«. Und Söder: »Es kann nicht sein, dass jemand, der bei uns ist, quasi eine Art Asylgehalt bekommt und davon dann noch perfekt leben und die gesamte Heimat finanzieren kann.« Das sagte er 2018 im Landtagswahlkampf und wärmt es 2023 wieder auf. Perfekt leben und die gesamte Heimat finanzieren – von unserem Geld. So geht Hetze, so geht fremdenfeindliches Ressentiment. »Massenmigration stoppen« steht auf den Wahlplakaten der AfD in Bayern, und die anderen Parteien stimmen zu. Man müsse die »Pull-Faktoren« beseitigen, sind sich alle einig. Das bedeutet: Man muss den Flüchtlingen das Leben so unangenehm wie möglich machen. Man muss abgelehnten Asylsuchenden die Leistungen kürzen, fordert etwa Merz. Er ignoriert das Bundesverfassungsgericht, das im Juli 2012 urteilte: »Die Menschenwürde ist migrationspolitisch nicht zu relativieren.« Das heißt, dass Sozialleistungen, die ja ohnehin nur das pure Existenzminimum sichern, nicht zum Zweck der Abschreckung von Flüchtlingen gekürzt werden dürfen. Dieses Urteil kennt offensichtlich niemand, es bleibt in der gegenwärtigen Diskussion gänzlich unerwähnt. Andere wollen Flüchtlinge schon auf See im Mittelmeer abfangen und in Internierungslager in Libyen oder Tunesien einweisen. Auch sollte man, so CDU und Olaf Scholz und AfD unisono, private Seenotretter nicht mehr aus öffentlichen Mitteln unterstützen. Denn solange die Flüchtlinge aus Afrika damit rechnen können, dass sie im Mittelmeer gerettet werden, werden sie die Überfahrt nach Italien riskieren. Und, dies der nächste Vorschlag, man muss die Liste der »sicheren Herkunftsstaaten« erweitern. Etwa, so Merz, um Marokko, von dem Amnesty International berichtet, dass dort regelmäßig die Menschenrechte verletzt werden und dass es keine echte Meinungsfreiheit gibt. Auch die Grünen lassen inzwischen alle humanitären Hemmungen fallen und sind bereit, »moralisch schwierige Entscheidungen zu treffen«, so Habeck, was aber nur heißen soll, Menschenrechte preiszugeben, Flüchtlinge zu inhaftieren und zu internieren, den Rechtsweg für sie abzuschaffen. Auf alle Fälle jedoch, so alle Parteien, müsse man unbedingt mehr abschieben. »Wir werden abschieben, abschieben, abschieben. Das verspreche ich euch«, sagt die AfD-Spitzenkandidatin in Bayern, Katrin Ebner-Steiner. Und Kanzler Scholz plädiert in Nürnberg auf einer SPD-Wahlkampfveranstaltung »für entschiedenere Abschiebungen von abgelehnten Asylbewerbern«, berichtet der Bayerische Rundfunk. Die Zahl von circa 300 000 Abgelehnten und damit »Ausreisepflichtigen« wird stets erwähnt. Die meisten Politiker verschweigen dabei gezielt, dass (Stand 30.06.2023) nur 54.330 Personen sofort abgeschoben werden können. Alle anderen haben einen Duldungsstatus aus unterschiedlichen Gründen. Es gibt nämlich neben politischer Verfolgung z. B. auch den subsidiären Schutz gemäß der völkerrechtlich verbindlichen Genfer Flüchtlingskonvention, der ebenfalls in jedem Einzelfall zu prüfen ist. Viele Politiker und Journalisten tun so, als könnte man sich einfach über das Völkerrecht hinwegsetzen, als wären Schutzrechte für Flüchtlinge ein Luxus, den »wir« uns jetzt nicht mehr leisten können, besser gesagt: leisten wollen. Deshalb sprechen sie von illegalen Migranten, gegen die sie »unseren Wohlstand« verteidigen. Von Gerd Müller, der unter Merkel von 2013 bis 2021 Entwicklungsminister war und den der Deutschlandfunk einst »das gute Gewissen der CSU« nannte, stammt der bemerkenswerte Satz: »Wir müssen lernen, unseren Wohlstand zu teilen.« Diese Einsicht verglomm schneller als eine Sternschnuppe am Nachthimmel.
Heutzutage dominiert wieder das Ressentiment gegen Flüchtlinge die Politik. In der Diskussion um die Kindergrundsicherung sagte FDP-Chef Lindner der Bild-Zeitung, dass es einen »statistischen Zusammenhang« zwischen Migration und Kinderarmut gebe. Die Flüchtlinge, suggeriert er, sind schuld an der Armut in Deutschland. Alle Parteien lassen sich in der Migrationspolitik von der AfD, von der sie das Narrativ der Invasion von illegalen Migranten und des Kontrollverlusts an den Grenzen übernommen haben, gegenwärtig zu einem Abbau von Menschenrechten treiben, durch den sich die AfD mit ihren Anhängern nur bestätigt sehen kann.
Nachdem in Hessen und Bayern der Erfolg der AfD sie zur Oppositionsführerin in beiden Landtagen machte, beschließt nun die Bundesregierung, Abschiebungen zu erleichtern, die Abschiebehaft zu verlängern, von Geld- auf Sachleistungen umzustellen, für Asylbewerber eine Pflicht zu gemeinnütziger Arbeit einzuführen. Die AfD muss also nur lange genug hetzen und den etwa 30 Prozent ausmachenden xenophoben Bodensatz unter den Deutschen mobilisieren, dabei die Angst vor »Wohlstandsverlust« anheizen, und schon übernehmen die anderen Parteien eine mehr oder minder große Portion des rechtsextremen Sadismus gegen Flüchtlinge. »Die Unzufriedenheit mit der Einwanderungspolitik hat auch grüne Wähler erreicht. Viele wählten CDU und CSU. Wenn der Migrationsanteil in ihren Schulen steigt, hört der Spaß eben auf«, schreibt Jasper von Altenbockum in der FAZ. Was meint er mit »Spaß«? Vermutlich Menschenrechte.
Im Bayerischen Rundfunk wurde die Politologin Ursula Münch gefragt, welchen Rat sie angesichts des Wahldebakels den Grünen geben würde. Antwort: »Auf Bundesebene muss man sich stärker dem Thema Migration stellen. Das fängt zum Beispiel mit der Frage der sicheren Herkunftsländer an; das ist den Leuten schwer zu vermitteln, dass die Grünen sich dagegen sperren, die Liste der sicheren Herkunftsländer zu verlängern.« Einfach die Liste verlängern. Die Menschenrechtslage in diesen Herkunftsländern fällt dabei nicht ins Gewicht; und gehört auch nicht zum Spezialgebiet der Politologin. Ferner: »Es ist schön, wenn man Humanität in den Vordergrund stellt, aber wenn die Leute das Gefühl haben, dass das Schulsystem, das Bildungssystem darunter leidet unter der hohen Zahl von Flüchtlingskindern, die eben nicht ordentlich beschult werden können, weil das Personal fehlt, und wenn das Gefühl da ist bei der Bevölkerung, da kommt mehr bei den Flüchtlingen an finanziellen Hilfen an als bei der einheimischen Bevölkerung, da hilft keine politische Bildung gegen solchen Eindruck, da hilft im Grunde nur, zu sagen, wir achten darauf, dass wir nur diejenigen ins Land lassen, die tatsächlich elementar unsere Hilfe benötigen.« Wie das Gefühl bei den Leuten zustande kommt, wer es auf welche Weise erzeugt, danach fragt die Wissenschaftlerin erst gar nicht. Sie nimmt das Ressentiment, das die Humanität mit einem »Ja, aber« aus dem Feld schlägt, als Gegebenheit, gegen die auch politische Bildung nicht hilft. Ob Menschenrechte beachtet werden, richtet sich nach Kassenlage. Und wenn nicht einmal Geld für die Instandhaltung von Brücken und Bahnschienen, für Pflegekräfte, Schulen und Kitas da ist, so der Chor aus Parteien, Medien und Wählern, dann kann man sich Humanität für Flüchtlinge einfach nicht leisten. Der AfD ist jedenfalls mit solcher Politik der Weg zu weiteren Erfolgen geebnet. Wenn sie 2025 zweitstärkste Kraft hinter der CDU wird, sollte man – vor allem Grüne und SPD; und Frau Münch – sich nicht wundern.