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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Europäische Unmenschlichkeit (2)

Jedes Jahr fin­det am 27. Janu­ar im Deut­schen Bun­des­tag eine Gedenk­ver­an­stal­tung zur Befrei­ung des Kon­zen­tra­ti­ons­la­gers Ausch­witz statt. 2016 war Ruth Klü­ger, die als Elf­jäh­ri­ge ins KZ The­re­si­en­stadt und als Vier­zehn­jäh­ri­ge nach Ausch­witz kam, als Red­ne­rin ein­ge­la­den wor­den. Am Ende ihrer Rede sag­te sie über Deutsch­land: »Die­ses Land, das vor acht­zig Jah­ren für die schlimm­sten Ver­bre­chen des Jahr­hun­derts ver­ant­wort­lich war, hat heu­te den Bei­fall der Welt gewon­nen, dank sei­ner geöff­ne­ten Gren­zen und der Groß­her­zig­keit, mit der Sie die Flut von syri­schen und ande­ren Flücht­lin­gen auf­ge­nom­men haben und noch auf­neh­men. Ich bin eine von den vie­len Außen­ste­hen­den, die von Ver­wun­de­rung zu Bewun­de­rung über­ge­gan­gen sind. Das war der Haupt­grund, war­um ich mit gro­ßer Freu­de Ihre Ein­la­dung ange­nom­men und die Gele­gen­heit wahr­ge­nom­men habe, in die­sem Rah­men über die frü­he­ren Unta­ten spre­chen zu dür­fen, hier, wo ein gegen­sätz­li­ches Vor­bild ent­stan­den ist und ent­steht, mit dem beschei­den anmu­ten­den und dabei heroi­schen Slo­gan: Wir schaf­fen das.« Der Applaus im Deut­schen Bun­des­tag war kaum ver­hallt, als die ersten Poli­ti­ker und Medi­en von der Migra­ti­ons­kri­se 2015 spra­chen, die sich nicht wie­der­ho­len dür­fe. Und es wur­den immer mehr, in allen Par­tei­en, bis abso­lut nichts mehr übrig war von der Groß­her­zig­keit, die Ruth Klü­ger glaub­te bewun­dern zu dürfen.

Acht Jah­re nach­dem Deutsch­land zum ersten Mal wirk­lich Grö­ße zeig­te, redet es sich nun selbst par­tei­über­grei­fend und mit Unter­stüt­zung aller ton­an­ge­ben­den Medi­en in einen regel­rech­ten Rausch der angeb­li­chen Über­for­de­rung, der Erschöp­fung, des Kon­troll­ver­lusts, der unzu­mut­ba­ren Bela­stung durch Migran­ten. Und da Wahl­kampf statt­fin­det (und auch 2024 und 2025 statt­fin­den wird), las­sen sich alle Par­tei­en von der AfD vor sich her­trei­ben. Nicht nur Merz über­nimmt mit sei­ner pri­mi­ti­ven Räu­ber­pi­sto­le aus den frü­hen neun­zi­ger Jah­ren, dass sich die Asyl­be­wer­ber in Deutsch­land nur kosten­lo­sen Zahn­ersatz erschlei­chen, den AfD-Ton­fall. Auch Rein­hard Mül­ler von der Frank­fur­ter All­ge­mei­nen Zei­tung kom­men­tiert am 4.10.23: »Miss­brauch durch Migran­ten. Die Aus­höh­lung des Sozi­al­staats«. Und Söder: »Es kann nicht sein, dass jemand, der bei uns ist, qua­si eine Art Asyl­ge­halt bekommt und davon dann noch per­fekt leben und die gesam­te Hei­mat finan­zie­ren kann.« Das sag­te er 2018 im Land­tags­wahl­kampf und wärmt es 2023 wie­der auf. Per­fekt leben und die gesam­te Hei­mat finan­zie­ren – von unse­rem Geld. So geht Het­ze, so geht frem­den­feind­li­ches Res­sen­ti­ment. »Mas­sen­mi­gra­ti­on stop­pen« steht auf den Wahl­pla­ka­ten der AfD in Bay­ern, und die ande­ren Par­tei­en stim­men zu. Man müs­se die »Pull-Fak­to­ren« besei­ti­gen, sind sich alle einig. Das bedeu­tet: Man muss den Flücht­lin­gen das Leben so unan­ge­nehm wie mög­lich machen. Man muss abge­lehn­ten Asyl­su­chen­den die Lei­stun­gen kür­zen, for­dert etwa Merz. Er igno­riert das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt, das im Juli 2012 urteil­te: »Die Men­schen­wür­de ist migra­ti­ons­po­li­tisch nicht zu rela­ti­vie­ren.« Das heißt, dass Sozi­al­lei­stun­gen, die ja ohne­hin nur das pure Exi­stenz­mi­ni­mum sichern, nicht zum Zweck der Abschreckung von Flücht­lin­gen gekürzt wer­den dür­fen. Die­ses Urteil kennt offen­sicht­lich nie­mand, es bleibt in der gegen­wär­ti­gen Dis­kus­si­on gänz­lich uner­wähnt. Ande­re wol­len Flücht­lin­ge schon auf See im Mit­tel­meer abfan­gen und in Inter­nie­rungs­la­ger in Liby­en oder Tune­si­en ein­wei­sen. Auch soll­te man, so CDU und Olaf Scholz und AfD uni­so­no, pri­va­te See­not­ret­ter nicht mehr aus öffent­li­chen Mit­teln unter­stüt­zen. Denn solan­ge die Flücht­lin­ge aus Afri­ka damit rech­nen kön­nen, dass sie im Mit­tel­meer geret­tet wer­den, wer­den sie die Über­fahrt nach Ita­li­en ris­kie­ren. Und, dies der näch­ste Vor­schlag, man muss die Liste der »siche­ren Her­kunfts­staa­ten« erwei­tern. Etwa, so Merz, um Marok­ko, von dem Amne­sty Inter­na­tio­nal berich­tet, dass dort regel­mä­ßig die Men­schen­rech­te ver­letzt wer­den und dass es kei­ne ech­te Mei­nungs­frei­heit gibt. Auch die Grü­nen las­sen inzwi­schen alle huma­ni­tä­ren Hem­mun­gen fal­len und sind bereit, »mora­lisch schwie­ri­ge Ent­schei­dun­gen zu tref­fen«, so Habeck, was aber nur hei­ßen soll, Men­schen­rech­te preis­zu­ge­ben, Flücht­lin­ge zu inhaf­tie­ren und zu inter­nie­ren, den Rechts­weg für sie abzu­schaf­fen. Auf alle Fäl­le jedoch, so alle Par­tei­en, müs­se man unbe­dingt mehr abschie­ben. »Wir wer­den abschie­ben, abschie­ben, abschie­ben. Das ver­spre­che ich euch«, sagt die AfD-Spit­zen­kan­di­da­tin in Bay­ern, Kat­rin Ebner-Stei­ner. Und Kanz­ler Scholz plä­diert in Nürn­berg auf einer SPD-Wahl­kampf­ver­an­stal­tung »für ent­schie­de­ne­re Abschie­bun­gen von abge­lehn­ten Asyl­be­wer­bern«, berich­tet der Baye­ri­sche Rund­funk. Die Zahl von cir­ca 300 000 Abge­lehn­ten und damit »Aus­rei­se­pflich­ti­gen« wird stets erwähnt. Die mei­sten Poli­ti­ker ver­schwei­gen dabei gezielt, dass (Stand 30.06.2023) nur 54.330 Per­so­nen sofort abge­scho­ben wer­den kön­nen. Alle ande­ren haben einen Dul­dungs­sta­tus aus unter­schied­li­chen Grün­den. Es gibt näm­lich neben poli­ti­scher Ver­fol­gung z. B. auch den sub­si­diä­ren Schutz gemäß der völ­ker­recht­lich ver­bind­li­chen Gen­fer Flücht­lings­kon­ven­ti­on, der eben­falls in jedem Ein­zel­fall zu prü­fen ist. Vie­le Poli­ti­ker und Jour­na­li­sten tun so, als könn­te man sich ein­fach über das Völ­ker­recht hin­weg­set­zen, als wären Schutz­rech­te für Flücht­lin­ge ein Luxus, den »wir« uns jetzt nicht mehr lei­sten kön­nen, bes­ser gesagt: lei­sten wol­len. Des­halb spre­chen sie von ille­ga­len Migran­ten, gegen die sie »unse­ren Wohl­stand« ver­tei­di­gen. Von Gerd Mül­ler, der unter Mer­kel von 2013 bis 2021 Ent­wick­lungs­mi­ni­ster war und den der Deutsch­land­funk einst »das gute Gewis­sen der CSU« nann­te, stammt der bemer­kens­wer­te Satz: »Wir müs­sen ler­nen, unse­ren Wohl­stand zu tei­len.« Die­se Ein­sicht ver­glomm schnel­ler als eine Stern­schnup­pe am Nachthimmel.

Heut­zu­ta­ge domi­niert wie­der das Res­sen­ti­ment gegen Flücht­lin­ge die Poli­tik. In der Dis­kus­si­on um die Kin­der­grund­si­che­rung sag­te FDP-Chef Lind­ner der Bild-Zei­tung, dass es einen »sta­ti­sti­schen Zusam­men­hang« zwi­schen Migra­ti­on und Kin­der­ar­mut gebe. Die Flücht­lin­ge, sug­ge­riert er, sind schuld an der Armut in Deutsch­land. Alle Par­tei­en las­sen sich in der Migra­ti­ons­po­li­tik von der AfD, von der sie das Nar­ra­tiv der Inva­si­on von ille­ga­len Migran­ten und des Kon­troll­ver­lusts an den Gren­zen über­nom­men haben, gegen­wär­tig zu einem Abbau von Men­schen­rech­ten trei­ben, durch den sich die AfD mit ihren Anhän­gern nur bestä­tigt sehen kann.

Nach­dem in Hes­sen und Bay­ern der Erfolg der AfD sie zur Oppo­si­ti­ons­füh­re­rin in bei­den Land­ta­gen mach­te, beschließt nun die Bun­des­re­gie­rung, Abschie­bun­gen zu erleich­tern, die Abschie­be­haft zu ver­län­gern, von Geld- auf Sach­lei­stun­gen umzu­stel­len, für Asyl­be­wer­ber eine Pflicht zu gemein­nüt­zi­ger Arbeit ein­zu­füh­ren. Die AfD muss also nur lan­ge genug het­zen und den etwa 30 Pro­zent aus­ma­chen­den xeno­pho­ben Boden­satz unter den Deut­schen mobi­li­sie­ren, dabei die Angst vor »Wohl­stands­ver­lust« anhei­zen, und schon über­neh­men die ande­ren Par­tei­en eine mehr oder min­der gro­ße Por­ti­on des rechts­extre­men Sadis­mus gegen Flücht­lin­ge. »Die Unzu­frie­den­heit mit der Ein­wan­de­rungs­po­li­tik hat auch grü­ne Wäh­ler erreicht. Vie­le wähl­ten CDU und CSU. Wenn der Migra­ti­ons­an­teil in ihren Schu­len steigt, hört der Spaß eben auf«, schreibt Jas­per von Alten­bockum in der FAZ. Was meint er mit »Spaß«? Ver­mut­lich Menschenrechte.

Im Baye­ri­schen Rund­funk wur­de die Poli­to­lo­gin Ursu­la Münch gefragt, wel­chen Rat sie ange­sichts des Wahl­de­ba­kels den Grü­nen geben wür­de. Ant­wort: »Auf Bun­des­ebe­ne muss man sich stär­ker dem The­ma Migra­ti­on stel­len. Das fängt zum Bei­spiel mit der Fra­ge der siche­ren Her­kunfts­län­der an; das ist den Leu­ten schwer zu ver­mit­teln, dass die Grü­nen sich dage­gen sper­ren, die Liste der siche­ren Her­kunfts­län­der zu ver­län­gern.« Ein­fach die Liste ver­län­gern. Die Men­schen­rechts­la­ge in die­sen Her­kunfts­län­dern fällt dabei nicht ins Gewicht; und gehört auch nicht zum Spe­zi­al­ge­biet der Poli­to­lo­gin. Fer­ner: »Es ist schön, wenn man Huma­ni­tät in den Vor­der­grund stellt, aber wenn die Leu­te das Gefühl haben, dass das Schul­sy­stem, das Bil­dungs­sy­stem dar­un­ter lei­det unter der hohen Zahl von Flücht­lings­kin­dern, die eben nicht ordent­lich beschult wer­den kön­nen, weil das Per­so­nal fehlt, und wenn das Gefühl da ist bei der Bevöl­ke­rung, da kommt mehr bei den Flücht­lin­gen an finan­zi­el­len Hil­fen an als bei der ein­hei­mi­schen Bevöl­ke­rung, da hilft kei­ne poli­ti­sche Bil­dung gegen sol­chen Ein­druck, da hilft im Grun­de nur, zu sagen, wir ach­ten dar­auf, dass wir nur die­je­ni­gen ins Land las­sen, die tat­säch­lich ele­men­tar unse­re Hil­fe benö­ti­gen.« Wie das Gefühl bei den Leu­ten zustan­de kommt, wer es auf wel­che Wei­se erzeugt, danach fragt die Wis­sen­schaft­le­rin erst gar nicht. Sie nimmt das Res­sen­ti­ment, das die Huma­ni­tät mit einem »Ja, aber« aus dem Feld schlägt, als Gege­ben­heit, gegen die auch poli­ti­sche Bil­dung nicht hilft. Ob Men­schen­rech­te beach­tet wer­den, rich­tet sich nach Kas­sen­la­ge. Und wenn nicht ein­mal Geld für die Instand­hal­tung von Brücken und Bahn­schie­nen, für Pfle­ge­kräf­te, Schu­len und Kitas da ist, so der Chor aus Par­tei­en, Medi­en und Wäh­lern, dann kann man sich Huma­ni­tät für Flücht­lin­ge ein­fach nicht lei­sten. Der AfD ist jeden­falls mit sol­cher Poli­tik der Weg zu wei­te­ren Erfol­gen geeb­net. Wenn sie 2025 zweit­stärk­ste Kraft hin­ter der CDU wird, soll­te man – vor allem Grü­ne und SPD; und Frau Münch – sich nicht wundern.