Vor 39 Jahren, exakt am 22. Januar 1972, ging für den konservativen Premierminister Edward Heath (1916-2005), einem der Vorgänger von Boris Johnson, ein großer Wunsch in Erfüllung. In Brüssel konnte er endlich den Vertrag über den Beitritt zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), der Vorläuferin der heutigen EU, unterzeichnen, für dessen Zustandekommen er sich seit seinem Amtsantritt 1970 sehr engagiert hatte. »Ted« benötigte allerdings all das ihm gegebene politische Geschick, um den Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft sowohl gegen die zahlreichen Gegner in den Tory-Reihen als auch gegen die oppositionelle Labour-Fraktion durchs Parlament zu bringen. Der Beitritt, der mit Beginn des Jahres 1973 in Kraft trat, war für ihn denn auch ein »ein besonders bewegendes Ereignis«. Als nach den Parlamentswahlen im Herbst 1974 nicht erneut er selbst, sondern sein Vorgänger, der Sozialdemokrat Harold Wilson (1916-1995), zum Premier ausgerufen wurde, ging es zugleich auch um die Europäische Gemeinschaft, denn Wilson selbst befürwortete die britische Mitgliedschaft, während große Teile der Labour Party gegen sie waren. Schon, um die Einheit der Partei nicht zu gefährden, ließ er im Juni 1975 in einem nationalen Referendum über den EG-Verbleib abstimmen. Immerhin zwei Drittel der Wählerinnen und Wähler waren für die Beibehaltung der Mitgliedschaft.
Im Juni 2016 hingegen sprachen sich die Wahlberechtigten knapp mehrheitlich für den EU-Austritt des Vereinigten Königreichs aus. Und warum? Die Tories hatten sich während der 1980er Jahre in eine zunehmend den Nutzen der Europäischen Gemeinschaft in Frage stellende Partei entwickelt – erinnert sei an die hochtönende Rede Margaret Thatchers von 1988, in der sie vor einem »europäischen Superstaat« warnte. Die EU-Skeptiker wurden spätestens ab dem Millennium zusätzlich durch die den Austritt fordernde United Kingdom Independence Party (UKIP) befeuert. Unter dem Tory-Parteichef und späteren Premier David Cameron nahmen die innerparteilichen Grabenkämpfe über die Mitgliedschaft in der als immer mächtiger empfundenen EU massiv zu.
Nachdem der Premier im Januar 2013 verkündet hatte, er wolle die Rolle Großbritanniens innerhalb der EU neu verhandeln und anschließend ein nationales Referendum über die britische Mitgliedschaft abhalten, nahm der Brexit seinen Lauf. Und zwar nicht zuletzt, weil durch die extreme Austeritätspolitik ab 2010 immer mehr Briten ihre persönliche Situation und die ihrer jeweiligen Kommune beklagen mussten. Großbritannien ist heute die Volkswirtschaft mit den größten Ungleichheiten in Europa – neben der seit Längerem ungemein prosperierenden Metropole London und ihrem Umfeld im Süden und Westen gibt es zahlreiche Regionen, die unglaublich heruntergekommen und arm sind. Insbesondere in den eher ländlichen und zumal nördlichen Regionen Englands gelang es den EU-Gegnern vor dem Referendum, die Verzweiflung der Menschen – und zwar der konservativ und sozialdemokratisch orientierten gleichermaßen – in eine Wut auf »Brüssel« statt auf London zu drehen. Daneben blüht im konservativ geprägten Lager der englischen Mittelschicht seit Thatchers Tagen der Nationalismus, basierte doch ihr Vorgehen auch auf einer aggressiven Außenpolitik und einer Besinnung auf die imperiale Vergangenheit. Xenophobie, Rassismus und autoritärer Populismus stießen insbesondere unter den weißen Engländerinnen und Engländern auf wachsende Zustimmung. Als das Forschungsinstitut YouGov die Tory-Mitglieder im Juli 2019 fragte, welchen Schaden sie für den Brexit in Kauf nehmen würden, wollte die Mehrheit der Befragten lieber Schottland und Nordirland vom Königreich abgespalten sehen, als den Ausstieg aus der EU zu riskieren. Vor allem die von der Leave-Kampagne abgelehnte Zuwanderung aus der EU spielte eine große Rolle in der öffentlichen Debatte. Nicht zuletzt der von der dominanten Boulevardpresse geführte »Kampf« gegen den »europäischen Bürokratismus und Zentralismus« sowie gegen den das britische Rechtssystem unterlaufenden Europäischen Gerichtshof sorgt seit Jahren für eine Stärkung vor allem des englischen Nationalismus.
Nach dem Referendum im Juni 2016 traten zunächst David Cameron und später seine im Unterhaus immer wieder gescheiterte Nachfolgerin Theresa May zurück. Nach diversen politischen Rochaden kam es im Dezember 2019 zu vorgezogenen Parlamentswahlen, bei denen die Tories unter dem bis dahin von vielen Briten verehrten Londoner Ex-Bürgermeister und Anführer der lügenpropagandistischen Leave-Kampagne Boris Johnson die absolute Mehrheit gewannen. Gleich nach dem erdrutschartigen Wahlsieg beschloss das Parlament bekanntlich das Gesetz über den EU-Austritt des Vereinigten Königreichs. Er erfolgte am 31. Januar 2020, wobei eine bis zum Ende des Jahres verabredete Übergangsphase das Königreich im EU-Binnenmarkt beließ, um die schwierigen Verhandlungen über ein Handelsabkommen unbelastet von Zoll- und anderen Brexit-Kalamitäten abschließen zu können.
Vor einigen Wochen, exakt am 24. Dezember 2020, ging für Premierminister Boris Johnson ein großer Wunsch in Erfüllung, hatte er doch nach drohungs- und erpressungsreichen Verhandlungsrunden für das Vereinigte Königreich ein – aus seiner Sicht – Maximum an Souveränität herausgehandelt. In der Tat besteht nun keine Bindung an europäisches Recht mehr, wurde die EU-Forderung nach dynamischer Angleichung von Standards abgewehrt und liegt die Kontrolle über die Fischereigründe wieder in London. Johnson kommentierte das Geschehen nach der Einigung mit den Worten, er habe ein Freihandelsabkommen mit der EU ausgehandelt, »ohne in ihren regulatorischen Orbit gezogen zu werden«. Und er betonte, das britische Volk habe nun genau das, wofür es beim Brexit-Referendum gestimmt habe. Im O-Ton: »Wir gewinnen wieder die Kontrolle über unser Geld, unsere Gesetze und unsere Gewässer.« Das Vereinigte Königreich ist »zum ersten Mal seit 1973« wieder ein »unabhängiger Küstenstaat« fügte der Premier in Anspielung auf den Tory-Premier Ted Heath hinzu und frohlockte, man könne mit dem Vertrag »fantastische Dinge tun«.
Es wird noch Wochen dauern, bis alle Details des 1246 Seiten langen Handelsvertrages eingehend analysiert sind. Das Abkommen betrifft neben dem Warenverkehr die Bereiche Staatssubventionen, Luft- und Straßenverkehr sowie soziale Sicherung. Bezüglich der hart umkämpften Fangrechte für EU-Fischer in britischen Gewässern einigten sich beide Seiten auf eine fünfeinhalbjährige Übergangsphase. In dieser Zeit sollen die Fangrechte für EU-Fischer um 25 Prozent gekürzt werden. Ab Juni 2026 wird jährlich über die Fangquoten mit Großbritannien verhandelt werden müssen.
Keine Einigung gab es bislang für die so starke und wichtige Finanzbranche der City of London. Ein umfassender Zugang zum EU-Markt wie bisher bleibt ihr erst einmal verwehrt. Gar nicht gut sieht die Welt nun für Arbeitsuchende und Studierende aus. Erstere brauchen nun ein Visum, um auf der Insel oder in Unionseuropa arbeiten zu dürfen, für letztere wird es schwieriger und vor allem teurer, wenn sie in Großbritannien studieren wollen, weil Johnson die weitere Teilnahme am Austauschprogramm Erasmus als zu teuer ablehnt.
Am vorletzten Tag des vergangenen Jahres stimmte das britische Unterhaus dem von Premierminister Johnson vorgelegten Brexit-Handelspakt mit überwältigender Mehrheit zu – mit 521 zu 73 Stimmen (von den EU-freundlichen liberalen, schottischen und nordirischen Abgeordneten). Und das, obwohl es während der fünfstündigen Ratifizierungsdebatte teils scharfe Kritik an dem Deal gegeben hatte. Übrigens weniger von Mitgliedern der European Research Group, dieser einflussreichen Brexiteer-Gruppe, als vielmehr von Johnsons Vorgängerin Theresa May, die das Königreich vergeblich in der Zollunion hatte halten wollen. Sie brachte die Schwächen des Abkommens treffend auf den Punkt: »Wir haben einen Deal zum Güterhandel, der der EU nutzt, aber keinen Deal zu Dienstleistungen, von dem Großbritannien profitiert hätte.« Nachdem auch das Oberhaus und Königin Elisabeth II. zugestimmt hatten, feierte Boris Johnson in seiner Neujahrsrede den Abschluss des Deals als »fantastischen Augenblick für dieses Land«. »Wir halten unsere Freiheit in unseren Händen, und es liegt an uns, das Beste daraus zu machen«, trompetete er und unterstrich, das Königreich könne nun ganz frei »Handelsverträge rund um den Globus abschließen«. Im Übrigen würden die Briten die Dinge künftig anders handhaben – »und wenn nötig besser als unsere Freunde in der EU«.
Die »Freunde in der EU« wiederum freuten sich Silvester über die Einigung von Spanien und Großbritannien in Sachen britisches Überseegebiet Gibraltar. Der Landzipfel ist nun Mitglied des grenzkontrollfreien Schengen-Raums, um nicht hinter einer undurchlässigen EU-Außengrenze zu verkümmern. (Übrigens hatten 2016 beim Referendum 96 Prozent der 33 000 Einwohner Gibraltars für den Verbleib in der EU gestimmt.) Und die Erste Ministerin Schottlands, Nicola Sturgeon, twitterte in ihrer Silvesterbotschaft gen Brüssel: »Schottland kommt bald wieder, Europa. Lasst das Licht an.«
Laut der EU-Kommission und ihrem Chefverhandler Barnier gewährleistet das (noch vom EU-Parlament zu ratifizierende) Abkommen »ein robustes, gleiches Wettbewerbsumfeld« mit einem »hohen Schutzniveau« im Umweltschutz, bei den Sozial- und Arbeitnehmerrechten sowie bei staatlichen Beihilfen. Vorsichtshalber hat die EU gegenüber den Briten einen Sanktionsmechanismus durchgesetzt, der es ihr erlaubt, einseitig Strafzölle zu verhängen, wenn das Vereinigte Königreich gegen den fairen Wettbewerb – etwa gegen die gemeinsamen Prinzipien zur Subventionspolitik – verstößt. Zwar ist Großbritannien verpflichtet, die existierenden Sozial- und Umweltstandards nicht abzusenken, es muss aber bei einer Anhebung durch die EU nicht nachziehen. Da nun im Verlaufe der Zeit größere Abweichungen entstehen können, die im Zweifelsfall zu einer höheren Belastung der Unternehmen in der EU gegenüber denen jenseits des Ärmelkanals führen, sieht der Vertrag die Erhebung von Strafzöllen oder andere Maßnahmen zum Ausgleich vor. Kurz, dem nicht immer wahrheitsliebenden Premier Boris Johnson sind weiterhin durchaus spürbare Grenzen in der Wirtschaftspolitik gesetzt, denn einen barrierefreien Zugang zum EU-Binnenmarkt wird es auch künftig nicht geben.
Nun sagt das Handelsabkommen nichts darüber aus, ob der Brexit richtig oder falsch ist. Es macht lediglich deutlich, dass das Verlassen der Europäischen Union mit Nachteilen verbunden ist und weiterhin ein gewisses Regelwerk besteht, dem ein abtrünniges Land sich unterwerfen muss. Rein wirtschaftlich wird sich der Brexit langfristig wohl nur rechnen, wenn das – noch – Vereinigte Königreich mit seinem Produktions- und Dienstleistungssektor Wettbewerbsvorteile erlangen kann, die von der EU als fair eingestuft werden. Der in den Verhandlungen so arg strapazierte Fischfang gehört natürlich nicht dazu – er spielt für die Wohlstandsmehrung keine Rolle. Vor allem aber ist das Abkommen bei Licht betrachtet unfertig, weshalb die Verhandlungen mit der EU und ihren Mitgliedsstaaten nicht nur andauern, sondern eine Dauerbaustelle werden. Zudem ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass bereits die nächste neue Regierung in London gezielt Änderungen am Verhältnis mit der EU auf die Agenda setzen wird. Ganz zu schweigen von der laufenden Umsetzung des komplexen Abkommens in die Realität. Bleibt die Frage, ob die bislang scharf in Brexiteers und Remainer gespaltene britische Gesellschaft nun endlich wieder ins Lot kommt. Von Seiten Schottlands steht jedenfalls neuer Zwist ins Unterhaus, hat sich doch Nicola Sturgeon für ein neues Unabhängigkeits-Referendum ausgesprochen.
Die größte Sorge ist und bleibt im Vereinigten Königreich das ungebremste Wüten – auch der mutierten Form – des Coronavirus. Mindestens bis Ende Februar herrscht ein strenger Shut- und Lockdown.