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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Europa – lass das Licht an

Vor 39 Jah­ren, exakt am 22. Janu­ar 1972, ging für den kon­ser­va­ti­ven Pre­mier­mi­ni­ster Edward Heath (1916-2005), einem der Vor­gän­ger von Boris John­son, ein gro­ßer Wunsch in Erfül­lung. In Brüs­sel konn­te er end­lich den Ver­trag über den Bei­tritt zur Euro­päi­schen Wirt­schafts­ge­mein­schaft (EWG), der Vor­läu­fe­rin der heu­ti­gen EU, unter­zeich­nen, für des­sen Zustan­de­kom­men er sich seit sei­nem Amts­an­tritt 1970 sehr enga­giert hat­te. »Ted« benö­tig­te aller­dings all das ihm gege­be­ne poli­ti­sche Geschick, um den Bei­tritt zur Euro­päi­schen Gemein­schaft sowohl gegen die zahl­rei­chen Geg­ner in den Tory-Rei­hen als auch gegen die oppo­si­tio­nel­le Labour-Frak­ti­on durchs Par­la­ment zu brin­gen. Der Bei­tritt, der mit Beginn des Jah­res 1973 in Kraft trat, war für ihn denn auch ein »ein beson­ders bewe­gen­des Ereig­nis«. Als nach den Par­la­ments­wah­len im Herbst 1974 nicht erneut er selbst, son­dern sein Vor­gän­ger, der Sozi­al­de­mo­krat Harold Wil­son (1916-1995), zum Pre­mier aus­ge­ru­fen wur­de, ging es zugleich auch um die Euro­päi­sche Gemein­schaft, denn Wil­son selbst befür­wor­te­te die bri­ti­sche Mit­glied­schaft, wäh­rend gro­ße Tei­le der Labour Par­ty gegen sie waren. Schon, um die Ein­heit der Par­tei nicht zu gefähr­den, ließ er im Juni 1975 in einem natio­na­len Refe­ren­dum über den EG-Ver­bleib abstim­men. Immer­hin zwei Drit­tel der Wäh­le­rin­nen und Wäh­ler waren für die Bei­be­hal­tung der Mitgliedschaft.

Im Juni 2016 hin­ge­gen spra­chen sich die Wahl­be­rech­tig­ten knapp mehr­heit­lich für den EU-Aus­tritt des Ver­ei­nig­ten König­reichs aus. Und war­um? Die Tories hat­ten sich wäh­rend der 1980er Jah­re in eine zuneh­mend den Nut­zen der Euro­päi­schen Gemein­schaft in Fra­ge stel­len­de Par­tei ent­wickelt – erin­nert sei an die hoch­tö­nen­de Rede Mar­ga­ret That­chers von 1988, in der sie vor einem »euro­päi­schen Super­staat« warn­te. Die EU-Skep­ti­ker wur­den spä­te­stens ab dem Mill­en­ni­um zusätz­lich durch die den Aus­tritt for­dern­de United King­dom Inde­pen­dence Par­ty (UKIP) befeu­ert. Unter dem Tory-Par­tei­chef und spä­te­ren Pre­mier David Came­ron nah­men die inner­par­tei­li­chen Gra­ben­kämp­fe über die Mit­glied­schaft in der als immer mäch­ti­ger emp­fun­de­nen EU mas­siv zu.

Nach­dem der Pre­mier im Janu­ar 2013 ver­kün­det hat­te, er wol­le die Rol­le Groß­bri­tan­ni­ens inner­halb der EU neu ver­han­deln und anschlie­ßend ein natio­na­les Refe­ren­dum über die bri­ti­sche Mit­glied­schaft abhal­ten, nahm der Brexit sei­nen Lauf. Und zwar nicht zuletzt, weil durch die extre­me Austeri­täts­po­li­tik ab 2010 immer mehr Bri­ten ihre per­sön­li­che Situa­ti­on und die ihrer jewei­li­gen Kom­mu­ne bekla­gen muss­ten. Groß­bri­tan­ni­en ist heu­te die Volks­wirt­schaft mit den größ­ten Ungleich­hei­ten in Euro­pa – neben der seit Län­ge­rem unge­mein pro­spe­rie­ren­den Metro­po­le Lon­don und ihrem Umfeld im Süden und Westen gibt es zahl­rei­che Regio­nen, die unglaub­lich her­un­ter­ge­kom­men und arm sind. Ins­be­son­de­re in den eher länd­li­chen und zumal nörd­li­chen Regio­nen Eng­lands gelang es den EU-Geg­nern vor dem Refe­ren­dum, die Ver­zweif­lung der Men­schen – und zwar der kon­ser­va­tiv und sozi­al­de­mo­kra­tisch ori­en­tier­ten glei­cher­ma­ßen – in eine Wut auf »Brüs­sel« statt auf Lon­don zu dre­hen. Dane­ben blüht im kon­ser­va­tiv gepräg­ten Lager der eng­li­schen Mit­tel­schicht seit That­chers Tagen der Natio­na­lis­mus, basier­te doch ihr Vor­ge­hen auch auf einer aggres­si­ven Außen­po­li­tik und einer Besin­nung auf die impe­ria­le Ver­gan­gen­heit. Xeno­pho­bie, Ras­sis­mus und auto­ri­tä­rer Popu­lis­mus stie­ßen ins­be­son­de­re unter den wei­ßen Eng­län­de­rin­nen und Eng­län­dern auf wach­sen­de Zustim­mung. Als das For­schungs­in­sti­tut You­Gov die Tory-Mit­glie­der im Juli 2019 frag­te, wel­chen Scha­den sie für den Brexit in Kauf neh­men wür­den, woll­te die Mehr­heit der Befrag­ten lie­ber Schott­land und Nord­ir­land vom König­reich abge­spal­ten sehen, als den Aus­stieg aus der EU zu ris­kie­ren. Vor allem die von der Lea­ve-Kam­pa­gne abge­lehn­te Zuwan­de­rung aus der EU spiel­te eine gro­ße Rol­le in der öffent­li­chen Debat­te. Nicht zuletzt der von der domi­nan­ten Bou­le­vard­pres­se geführ­te »Kampf« gegen den »euro­päi­schen Büro­kra­tis­mus und Zen­tra­lis­mus« sowie gegen den das bri­ti­sche Rechts­sy­stem unter­lau­fen­den Euro­päi­schen Gerichts­hof sorgt seit Jah­ren für eine Stär­kung vor allem des eng­li­schen Nationalismus.

Nach dem Refe­ren­dum im Juni 2016 tra­ten zunächst David Came­ron und spä­ter sei­ne im Unter­haus immer wie­der geschei­ter­te Nach­fol­ge­rin The­re­sa May zurück. Nach diver­sen poli­ti­schen Rocha­den kam es im Dezem­ber 2019 zu vor­ge­zo­ge­nen Par­la­ments­wah­len, bei denen die Tories unter dem bis dahin von vie­len Bri­ten ver­ehr­ten Lon­do­ner Ex-Bür­ger­mei­ster und Anfüh­rer der lügen­pro­pa­gan­di­sti­schen Lea­ve-Kam­pa­gne Boris John­son die abso­lu­te Mehr­heit gewan­nen. Gleich nach dem erd­rutsch­ar­ti­gen Wahl­sieg beschloss das Par­la­ment bekannt­lich das Gesetz über den EU-Aus­tritt des Ver­ei­nig­ten König­reichs. Er erfolg­te am 31. Janu­ar 2020, wobei eine bis zum Ende des Jah­res ver­ab­re­de­te Über­gangs­pha­se das König­reich im EU-Bin­nen­markt beließ, um die schwie­ri­gen Ver­hand­lun­gen über ein Han­dels­ab­kom­men unbe­la­stet von Zoll- und ande­ren Brexit-Kala­mi­tä­ten abschlie­ßen zu können.

Vor eini­gen Wochen, exakt am 24. Dezem­ber 2020, ging für Pre­mier­mi­ni­ster Boris John­son ein gro­ßer Wunsch in Erfül­lung, hat­te er doch nach dro­hungs- und erpres­sungs­rei­chen Ver­hand­lungs­run­den für das Ver­ei­nig­te König­reich ein – aus sei­ner Sicht – Maxi­mum an Sou­ve­rä­ni­tät her­aus­ge­han­delt. In der Tat besteht nun kei­ne Bin­dung an euro­päi­sches Recht mehr, wur­de die EU-For­de­rung nach dyna­mi­scher Anglei­chung von Stan­dards abge­wehrt und liegt die Kon­trol­le über die Fische­rei­grün­de wie­der in Lon­don. John­son kom­men­tier­te das Gesche­hen nach der Eini­gung mit den Wor­ten, er habe ein Frei­han­dels­ab­kom­men mit der EU aus­ge­han­delt, »ohne in ihren regu­la­to­ri­schen Orbit gezo­gen zu wer­den«. Und er beton­te, das bri­ti­sche Volk habe nun genau das, wofür es beim Brexit-Refe­ren­dum gestimmt habe. Im O-Ton: »Wir gewin­nen wie­der die Kon­trol­le über unser Geld, unse­re Geset­ze und unse­re Gewäs­ser.« Das Ver­ei­nig­te König­reich ist »zum ersten Mal seit 1973« wie­der ein »unab­hän­gi­ger Küsten­staat« füg­te der Pre­mier in Anspie­lung auf den Tory-Pre­mier Ted Heath hin­zu und froh­lock­te, man kön­ne mit dem Ver­trag »fan­ta­sti­sche Din­ge tun«.

Es wird noch Wochen dau­ern, bis alle Details des 1246 Sei­ten lan­gen Han­dels­ver­tra­ges ein­ge­hend ana­ly­siert sind. Das Abkom­men betrifft neben dem Waren­ver­kehr die Berei­che Staats­sub­ven­tio­nen, Luft- und Stra­ßen­ver­kehr sowie sozia­le Siche­rung. Bezüg­lich der hart umkämpf­ten Fang­rech­te für EU-Fischer in bri­ti­schen Gewäs­sern einig­ten sich bei­de Sei­ten auf eine fünf­ein­halb­jäh­ri­ge Über­gangs­pha­se. In die­ser Zeit sol­len die Fang­rech­te für EU-Fischer um 25 Pro­zent gekürzt wer­den. Ab Juni 2026 wird jähr­lich über die Fang­quo­ten mit Groß­bri­tan­ni­en ver­han­delt wer­den müssen.

Kei­ne Eini­gung gab es bis­lang für die so star­ke und wich­ti­ge Finanz­bran­che der City of Lon­don. Ein umfas­sen­der Zugang zum EU-Markt wie bis­her bleibt ihr erst ein­mal ver­wehrt. Gar nicht gut sieht die Welt nun für Arbeit­su­chen­de und Stu­die­ren­de aus. Erste­re brau­chen nun ein Visum, um auf der Insel oder in Uni­ons­eu­ro­pa arbei­ten zu dür­fen, für letz­te­re wird es schwie­ri­ger und vor allem teu­rer, wenn sie in Groß­bri­tan­ni­en stu­die­ren wol­len, weil John­son die wei­te­re Teil­nah­me am Aus­tausch­pro­gramm Eras­mus als zu teu­er ablehnt.

Am vor­letz­ten Tag des ver­gan­ge­nen Jah­res stimm­te das bri­ti­sche Unter­haus dem von Pre­mier­mi­ni­ster John­son vor­ge­leg­ten Brexit-Han­dels­pakt mit über­wäl­ti­gen­der Mehr­heit zu – mit 521 zu 73 Stim­men (von den EU-freund­li­chen libe­ra­len, schot­ti­schen und nord­iri­schen Abge­ord­ne­ten). Und das, obwohl es wäh­rend der fünf­stün­di­gen Rati­fi­zie­rungs­de­bat­te teils schar­fe Kri­tik an dem Deal gege­ben hat­te. Übri­gens weni­ger von Mit­glie­dern der Euro­pean Rese­arch Group, die­ser ein­fluss­rei­chen Brexi­te­er-Grup­pe, als viel­mehr von John­sons Vor­gän­ge­rin The­re­sa May, die das König­reich ver­geb­lich in der Zoll­uni­on hat­te hal­ten wol­len. Sie brach­te die Schwä­chen des Abkom­mens tref­fend auf den Punkt: »Wir haben einen Deal zum Güter­han­del, der der EU nutzt, aber kei­nen Deal zu Dienst­lei­stun­gen, von dem Groß­bri­tan­ni­en pro­fi­tiert hät­te.« Nach­dem auch das Ober­haus und Köni­gin Eli­sa­beth II. zuge­stimmt hat­ten, fei­er­te Boris John­son in sei­ner Neu­jahrs­re­de den Abschluss des Deals als »fan­ta­sti­schen Augen­blick für die­ses Land«. »Wir hal­ten unse­re Frei­heit in unse­ren Hän­den, und es liegt an uns, das Beste dar­aus zu machen«, trom­pe­te­te er und unter­strich, das König­reich kön­ne nun ganz frei »Han­dels­ver­trä­ge rund um den Glo­bus abschlie­ßen«. Im Übri­gen wür­den die Bri­ten die Din­ge künf­tig anders hand­ha­ben – »und wenn nötig bes­ser als unse­re Freun­de in der EU«.

Die »Freun­de in der EU« wie­der­um freu­ten sich Sil­ve­ster über die Eini­gung von Spa­ni­en und Groß­bri­tan­ni­en in Sachen bri­ti­sches Über­see­ge­biet Gibral­tar. Der Land­zip­fel ist nun Mit­glied des grenz­kon­troll­frei­en Schen­gen-Raums, um nicht hin­ter einer undurch­läs­si­gen EU-Außen­gren­ze zu ver­küm­mern. (Übri­gens hat­ten 2016 beim Refe­ren­dum 96 Pro­zent der 33 000 Ein­woh­ner Gibral­tars für den Ver­bleib in der EU gestimmt.) Und die Erste Mini­ste­rin Schott­lands, Nico­la Stur­ge­on, twit­ter­te in ihrer Sil­ve­ster­bot­schaft gen Brüs­sel: »Schott­land kommt bald wie­der, Euro­pa. Lasst das Licht an.«

Laut der EU-Kom­mis­si­on und ihrem Chef­ver­hand­ler Bar­nier gewähr­lei­stet das (noch vom EU-Par­la­ment zu rati­fi­zie­ren­de) Abkom­men »ein robu­stes, glei­ches Wett­be­werbs­um­feld« mit einem »hohen Schutz­ni­veau« im Umwelt­schutz, bei den Sozi­al- und Arbeit­neh­mer­rech­ten sowie bei staat­li­chen Bei­hil­fen. Vor­sichts­hal­ber hat die EU gegen­über den Bri­ten einen Sank­ti­ons­me­cha­nis­mus durch­ge­setzt, der es ihr erlaubt, ein­sei­tig Straf­zöl­le zu ver­hän­gen, wenn das Ver­ei­nig­te König­reich gegen den fai­ren Wett­be­werb – etwa gegen die gemein­sa­men Prin­zi­pi­en zur Sub­ven­ti­ons­po­li­tik – ver­stößt. Zwar ist Groß­bri­tan­ni­en ver­pflich­tet, die exi­stie­ren­den Sozi­al- und Umwelt­stan­dards nicht abzu­sen­ken, es muss aber bei einer Anhe­bung durch die EU nicht nach­zie­hen. Da nun im Ver­lau­fe der Zeit grö­ße­re Abwei­chun­gen ent­ste­hen kön­nen, die im Zwei­fels­fall zu einer höhe­ren Bela­stung der Unter­neh­men in der EU gegen­über denen jen­seits des Ärmel­ka­nals füh­ren, sieht der Ver­trag die Erhe­bung von Straf­zöl­len oder ande­re Maß­nah­men zum Aus­gleich vor. Kurz, dem nicht immer wahr­heits­lie­ben­den Pre­mier Boris John­son sind wei­ter­hin durch­aus spür­ba­re Gren­zen in der Wirt­schafts­po­li­tik gesetzt, denn einen bar­rie­re­frei­en Zugang zum EU-Bin­nen­markt wird es auch künf­tig nicht geben.

Nun sagt das Han­dels­ab­kom­men nichts dar­über aus, ob der Brexit rich­tig oder falsch ist. Es macht ledig­lich deut­lich, dass das Ver­las­sen der Euro­päi­schen Uni­on mit Nach­tei­len ver­bun­den ist und wei­ter­hin ein gewis­ses Regel­werk besteht, dem ein abtrün­ni­ges Land sich unter­wer­fen muss. Rein wirt­schaft­lich wird sich der Brexit lang­fri­stig wohl nur rech­nen, wenn das – noch – Ver­ei­nig­te König­reich mit sei­nem Pro­duk­ti­ons- und Dienst­lei­stungs­sek­tor Wett­be­werbs­vor­tei­le erlan­gen kann, die von der EU als fair ein­ge­stuft wer­den. Der in den Ver­hand­lun­gen so arg stra­pa­zier­te Fisch­fang gehört natür­lich nicht dazu – er spielt für die Wohl­stands­meh­rung kei­ne Rol­le. Vor allem aber ist das Abkom­men bei Licht betrach­tet unfer­tig, wes­halb die Ver­hand­lun­gen mit der EU und ihren Mit­glieds­staa­ten nicht nur andau­ern, son­dern eine Dau­er­bau­stel­le wer­den. Zudem ist die Wahr­schein­lich­keit groß, dass bereits die näch­ste neue Regie­rung in Lon­don gezielt Ände­run­gen am Ver­hält­nis mit der EU auf die Agen­da set­zen wird. Ganz zu schwei­gen von der lau­fen­den Umset­zung des kom­ple­xen Abkom­mens in die Rea­li­tät. Bleibt die Fra­ge, ob die bis­lang scharf in Brexi­te­ers und Remai­ner gespal­te­ne bri­ti­sche Gesell­schaft nun end­lich wie­der ins Lot kommt. Von Sei­ten Schott­lands steht jeden­falls neu­er Zwist ins Unter­haus, hat sich doch Nico­la Stur­ge­on für ein neu­es Unab­hän­gig­keits-Refe­ren­dum ausgesprochen.

Die größ­te Sor­ge ist und bleibt im Ver­ei­nig­ten König­reich das unge­brem­ste Wüten – auch der mutier­ten Form – des Coro­na­vi­rus. Min­de­stens bis Ende Febru­ar herrscht ein stren­ger Shut- und Lockdown.