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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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EU bietet ambitionierte Partnerschaft

Als Fried­rich Engels im Novem­ber 1842 nach Man­che­ster über­sie­del­te, nahm er zugleich die Kor­re­spon­den­ten­tä­tig­keit für die Rhei­ni­sche Zei­tung auf. In sei­nem ersten Arti­kel ließ er aus Lon­don wis­sen: »Wenn man sich im stil­len eine Zeit­lang mit den eng­li­schen Zustän­den beschäf­tigt, wenn man sich über die schwa­che Grund­la­ge, auf der das gan­ze künst­li­che Gebäu­de der sozia­len und poli­ti­schen Wohl­fahrt Eng­lands ruht, Klar­heit ver­schafft hat, und nun auf ein­mal mit­ten in das eng­li­sche Trei­ben hin­ein­ver­setzt wird, so staunt man über die merk­wür­di­ge Ruhe und Zuver­sicht, womit hier jeder­mann der Zukunft ent­ge­gen­sieht. Die herr­schen­den Klas­sen […] haben nun schon so lan­ge das Land regiert […]. Man mag ihnen ihre Sün­den, ihre Halt­lo­sig­keit, ihre schwan­ken­de Poli­tik, ihre Blind­heit und Ver­stockt­heit, man mag ihnen den schwin­deln­den Zustand des Lan­des, der eine Frucht ihrer Prin­zi­pi­en ist, noch so sehr vor­hal­ten, sie blei­ben bei ihrer uner­schüt­ter­li­chen Sicher­heit und trau­en sich die Kraft zu, das Land einer bes­sern Lage zuzu­füh­ren.« (MEW, Bd. 1, 1976, S. 454f.)

Die von Fried­rich Engels vor 178 Jah­ren in Groß­bri­tan­ni­en emp­fun­de­ne »merk­wür­di­ge Ruhe und Zuver­sicht« herrscht anschei­nend nach dem am 31. Janu­ar voll­zo­ge­nen Aus­tritt der par­la­men­ta­ri­schen Erb­mon­ar­chie aus der EU erneut in Lon­don. Pre­mier­mi­ni­ster Boris John­son und die Mit­glie­der sei­nes neu­en Kabi­netts demon­strie­ren jeden­falls ihre »uner­schüt­ter­li­che Sicher­heit«, das – noch – Ver­ei­nig­te König­reich »einer bes­sern Lage zuzu­füh­ren«. Apro­pos neu­es Kabi­nett. Im Febru­ar nahm der von sei­nem mit am Kabi­netts­tisch sit­zen­den Son­der­be­ra­ter und Chef­stra­te­gen Domi­nic Cum­mings unter­stütz­te Pre­mier eine Regie­rungs­um­bil­dung vor, bei der meh­re­re Mini­ste­rin­nen und Mini­ster ihre Ämter ver­lo­ren, weil sie als nicht loy­al genug gal­ten. Der Brexi­te­er und mäch­ti­ge Schatz­kanz­ler Sajid Javid, der im März die Haus­halts­er­klä­rung abge­ben woll­te, trat aller­dings von sich aus zurück, weil er sich John­sons direk­ten Wei­sun­gen nicht unter­wer­fen woll­te. Den Mini­ster Ste­phen Bar­clay wie­der­um hat­te es schon am 31. Janu­ar kalt erwischt, als sein Mini­ste­ri­um für den Aus­tritt aus der EU kur­zer­hand auf­ge­löst und abge­schafft wurde.

Der Ord­nung hal­ber sei­en hier die wich­ti­gen Mini­ste­rin­nen und Mini­ster der neu­en soge­nann­ten Volks­re­gie­rung von Pre­mier John­son vor­ge­stellt, die im Zwei­fel dem­nächst für Schlag­zei­len sor­gen wer­den. Rishi Sunak: Schatz­kanz­ler (ein frü­he­rer Invest­ment­ban­ker); Domi­nic Raab: aus­wär­ti­ge und Com­mon­wealth-Ange­le­gen­hei­ten; Micha­el Gove: Kanz­ler des Her­zog­tums Lan­ca­ster (= Mini­ster ohne Geschäfts­be­reich, der die Brexit-Poli­tik über­wacht); Priti Patel: Inne­res; Robert Buck­land: Justiz; Ben Wal­lace: Ver­tei­di­gung; Matt Han­cock: Gesund­heit und Sozia­le Dien­ste; Alok Shar­ma: Wirt­schaft, Ener­gie und Indu­strie­stra­te­gie (auch für die dies­jäh­ri­ge UN-Kli­ma­kon­fe­renz in Glas­gow zustän­dig), Eliza­beth Truss: Inter­na­tio­na­ler Han­del; Anne-Marie Tre­vely­an: Inter­na­tio­na­le Ent­wick­lung; Thé­rè­se Cof­fey: Arbeit und Pen­sio­nen; Gavin Wil­liam­son: Bil­dung; Geor­ge Eusti­ce: Umwelt, Ernäh­rung und länd­li­cher Raum (Ex-Ukip-Poli­ti­ker); Grant Shapps: Ver­kehr; Robert Jen­rick: Woh­nen, Kom­mu­nen und loka­le Selbst­ver­wal­tung; Oli­ver Dow­den: Kul­tur, Digi­ta­les, Medi­en und Sport; Bran­don Lewis: Nord­ir­land; Ali­ster Jack: Schott­land; Simon Hart: Wales.

Eine spe­zi­el­le und macht­vol­le Rol­le im Kabi­nett behaup­tet mit dem 1971 in Nord­eng­land gebo­re­nen Domi­nic Mcken­zie Cum­mings ein seit lan­gem als »spe­cial advi­ser« täti­ger Histo­ri­ker. Der von nie­man­dem gewähl­te Ver­trau­te Boris John­sons hat intern mehr Macht als die mei­sten Mini­ster und befeh­ligt alle ande­ren poli­ti­schen Bera­ter. Erstes Auf­se­hen erreg­te der unter ande­rem Bis­marck bewun­dern­de Son­der­be­ra­ter als Direk­tor der ab 2000 akti­ven Anti-Euro-Kam­pa­gne »No«, die erfolg­reich gegen den Bei­tritt des König­reichs zur Euro­zo­ne kämpf­te. Zwi­schen 2007 und 2014 dien­te Cum­mings als poli­ti­scher Bera­ter von Micha­el Gove, zu jener Zeit Erzie­hungs­mi­ni­ster im Kabi­nett von David Came­ron. Er gab den Posten auf, weil ihm das Mini­ste­ri­um, die Dow­ning Street und die BBC zu unfä­hig erschie­nen. Kurz dar­auf avan­cier­te er zum Lei­ter der »Vote Leave«-Kampagne, präg­te den Slo­gan »Take back con­trol« und hat­te zwei­fel­los einen gehö­ri­gen Anteil am im Juni 2016 gefäll­ten Brexit-Votum.

Domi­nic Cum­mings betreibt den Blog https://dominiccummings.com/, aus dem her­vor­geht, dass er im Rah­men der Durch­set­zung der Brexit-Agen­den vor allem die Büro­kra­tie strom­li­ni­en­för­mig umzu­bau­en gedenkt, die er als »so unfä­hig« bezeich­net, »dass sie selbst jeman­den, der Din­ge umset­zen kann, gar nicht erst agie­ren lässt«. Sein zuneh­mend auf Tou­ren kom­men­der Kon­fron­ta­ti­ons­kurs gegen den Ver­wal­tungs­ap­pa­rat soll durch »Quer­den­ker« ver­stärkt wer­den, die gera­de gesucht wer­den. Nicht zuletzt die legen­dä­re bri­ti­sche Radio­an­stalt, die von Cum­mings unge­lieb­te »alte Tan­te« BBC, muss sich auf har­te Kämp­fe ein­stel­len. Der gera­de zum Kul­tur­mi­ni­ster ernann­te Oli­ver Dow­den wird bereits als Mann bezeich­net, der das Schick­sal der BBC in sei­nen Hän­den hält. Sein frisch ernann­ter Staats­mi­ni­ster John Whit­ting­da­le, sei­nes Zei­chens lei­den­schaft­li­cher Anhän­ger des Brexit, zählt kaum zufäl­lig zu den laut­star­ken Geg­nern der BBC-Rund­funk­ge­bühr.

Sze­nen­wech­sel. Wäh­rend nun bis zum Jah­res­en­de eine Über­gangs­pha­se läuft, in der sich im Ver­hält­nis zwi­schen der EU und dem Ver­ei­nig­ten König­reich prin­zi­pi­ell nichts ändert, kommt auf die bri­ti­schen Kabi­netts­mit­glie­der schon des­halb viel Arbeit zu, weil in fast allen Berei­chen zukünf­tig neue Ver­fah­ren, Rege­lun­gen und Finan­zie­rungs­mo­di not­wen­dig wer­den – nicht zuletzt in der bis­lang von der EU ein­schnei­dend regu­lier­ten und über­wach­ten Land­wirt­schaft. Wobei die durch die seit mehr als einem Jahr­zehnt von den Tories mas­siv prak­ti­zier­te Austeri­täts­po­li­tik schier irrepa­ra­bel erschei­nen­den infra­struk­tu­rel­len, wohl­fahrts­staat­li­chen und sozia­len Schä­den nur durch wahr­lich beherzt tief­grei­fen­de und gewiss nicht bil­li­ge Maß­nah­men beheb­bar sind – so bei­spiels­wei­se im staat­li­chen Gesund­heits­sy­stem NHS, im Schie­nen­ver­kehr, im Schul- und Biblio­theks­we­sen, in den Justiz­voll­zugs­an­stal­ten, im Woh­nungs­sek­tor. Laut der Wohl­tä­tig­keits­or­ga­ni­sa­ti­on Joseph Rown­tree Foun­da­ti­on leben im König­reich gegen­wär­tig cir­ca 14 Mil­lio­nen Men­schen in Armut – mehr als ein Fünf­tel der Bevöl­ke­rung! Allein vier Mil­lio­nen von ihnen sind Kin­der, gut zwei Mil­lio­nen Rent­ne­rin­nen und Rentner.

Ob Boris John­sons »Volks­re­gie­rung« das zen­tra­le Wahl­ver­spre­chen erfül­len kann – ein höhe­rer Post-Brexit-Lebens­stan­dard durch umfang­rei­che Inve­sti­ti­ons-pro­gram­me nicht zuletzt für das dar­ben­de Nord­eng­land und das NHS – bleibt abzu­war­ten. Wie die ab dem 1. Janu­ar 2021 ent­fal­len­de Arbeit­neh­mer­frei­zü­gig­keit der EU ersetzt wer­den soll, steht bereits fest. Die von Innen­mi­ni­ste­rin Priti Patel im Febru­ar vor­ge­stell­ten Plä­ne für neue Ein­wan­de­rungs­re­geln – O-Ton: »Wir been­den die Frei­zü­gig­keit, holen uns die Kon­trol­le über unse­re Gren­zen zurück« – stel­len EU-Aus­län­der und Nicht-EU-Aus­län­der gleich und sehen nach Art der austra­li­schen Gesetz­ge­bung ein Punk­te­sy­stem vor, das gering qua­li­fi­zier­te Men­schen von der Insel fern­hal­ten soll. Es sieht für ein Arbeits­vi­sum eine bestimm­te Zahl von Punk­ten für die Kom­pe­ten­zen, Qua­li­fi­ka­tio­nen und Ent­gelt­re­ge­lun­gen vor. Für den Per­so­nal­nach­schub im Gesund­heits­sy­stem sind offen­bar Son­der­vi­sa vorgesehen.

Dass die Ver­hand­lun­gen über die künf­ti­gen Bezie­hun­gen am Jah­res­en­de ein Abkom­men her­vor­brin­gen kön­nen, das den Wün­schen der EU und Groß­bri­tan­ni­ens so gut wie mög­lich ent­spricht, erscheint vie­len Ken­nern der Mate­rie aller­dings als unwahr­schein­lich. Laut EU-Chef­un­ter­händ­ler Michel Bar­nier wol­len die ver­blie­be­nen 27 Mit­glied­staa­ten »eine ambi­tio­nier­te Part­ner­schaft«, die »nicht das­sel­be wie eine Mit­glied­schaft« ist. Die von der EU gezo­ge­nen »roten Lini­en« sto­ßen auf bri­ti­scher Sei­te nicht gera­de auf Gegen­lie­be. Pre­mier­mi­ni­ster John­son hat bereits signa­li­siert, man wol­le sich kei­nes­falls ver­trag­lich auf die Ein­hal­tung von EU-Stan­dards etwa bei Arbeit­neh­mer­rech­ten und staat­li­chen Bei­hil­fen fest­le­gen las­sen. Anders for­mu­liert: Hef­ti­ge Aus­ein­an­der­set­zun­gen sind programmiert.

Ali­son Loui­se Ken­ne­dy bezeich­net in ihrer der­zeit in der Süd­deut­schen Zei­tung lau­fen­den Brexit-Kolum­ne »Affen­thea­ter« John­son als »Popo der Kil­ler­clown« und als »unser Loch der Löcher; die gro­ße Lee­re«. Für die nam­haf­te Autorin ist der Pre­mier »eine stam­meln­de und wat­scheln­de Jam­mer­fi­gur, deren Meta­phern sich gegen­sei­tig erdros­seln« (SZ, 21.1.2020, aus dem Eng­li­schen von Ingo Herz­ke). Auch der gro­ße bri­ti­sche Gegen­warts­au­tor Ian McE­wan lässt in sei­ner gera­de erschie­ne­nen (nicht unbe­dingt lesens­wer­ten) und mit Kaf­ka-Anlei­hen spie­len­den Sati­re »Die Kaker­la­ke« an John­son kein gutes Haar bezie­hungs­wei­se kein gutes Bein. Wird Boris John­son als Clown in die Geschich­te ein­ge­hen oder gar als Pos­sen­rei­ßer oder Hans­wurst? Abwar­ten und Tee trin­ken. Inwie­weit die Labour-Par­ty, die nach ihrer bedrücken­den Wahl­schlap­pe bis Anfang April auf dem Aus­schei­dungs­ren­nen zur Bestim­mung einer neu­en oder eines neu­en Vor­sit­zen­den ist, der neu­en »Volks­re­gie­rung« die Levi­ten lesen kann, ist auch sehr die Frage.