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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Etwas zu schön, um wahr zu sein

Ich war auf der Leip­zi­ger Buch­mes­se, woll­te nach­gucken, ob sie nach drei Ent­fall­jah­ren noch lebt. Die Buch­stadt lebt mit Sicher­heit in ihren Stra­ßen­bahn­mo­de­ra­to­ren. Wort­reich hel­fen sie beim Ein­stei­gen in die Linie 16. Am Haupt­bahn­hof und am Mes­se­ge­län­de ste­hen Zwil­lings­brü­der, im Dienst ergraut, in der spä­ten Ehren­funk­ti­on son­nen­ge­bräunt. Ihre Mega­fo­ne fun­gie­ren ana­log zu Lite­ra­tur­prei­sen, schaf­fen Auf­merk­sam­keit für mit Bedacht und Wär­me Gespro­che­nes wie, dass der Zug 45 Meter lang ist und in der Mit­te die mei­sten Türen hat. Im Wagen wünscht eine öster­rei­chi­sche Stim­me vom Band »einen schö­nen Tag auf der Mes­se. Mein Name ist Nino aus Wien«. Wer den nicht kennt (was ein Feh­ler ist), ver­steht vor lau­ter Läs­sig­keit nur Bahn­hof. Nino, falls du das liest: Wir lie­ben das Gast­land Öster­reich spä­te­stens, seit wir dei­ne ver­schla­fe­ne Stim­me gehört haben. Trotz­dem stress bit­te nicht unser Hörverstehen.

Klar und deut­lich gespro­chen, bes­ser als alles auf den Mes­se­le­sun­gen, ist auf Säch­sisch Fol­gen­des: »Lie­be Fahr­gä­ste, bit­te beach­ten Sie, dass ab sofort die Stra­ßen­bahn nur noch hält, wenn Sie zuvor die Hal­te­wunsch­ta­ste gedrückt haben.« Das Wort »Hal­te­wunsch­ta­ste« wid­me ich den betö­ren­den Frau­en, die mich vier Tage lang umge­ben haben und die für mich alle so etwas wie die­se Taste hatten.

Das Wort und die Durch­sa­ge haben übri­gens eine Kehr­sei­te, und das ist eine böse Absicht. Weil kei­ner die Hal­te­wunsch­ta­ste drückt, son­dern alle sich freu­en, dass sie halt­los schnel­ler zur Mes­se gelan­gen, blei­ben die­je­ni­gen, die zwi­schen Haupt­bahn­hof und Mes­se war­ten, hin­ter Stra­ßen­bahn­glas­tü­ren, die nicht für sie auf­ge­hen, zurück. Und ste­hen da wahr­schein­lich noch bis zur näch­sten Buch­mes­se. Leip­zig, du musst mehr Bah­nen einsetzen!

Ein neu­es Lese­fo­rum gibt es. »Offe­ne Gesell­schaft« heißt es. Buch­mes­se­chef Oli­ver Zil­le muss es eröff­nen, mit einer Ver­an­stal­tung, die Deutsch­lands Demo­kra­tie aus den Augen von Exilschriftsteller:innen betrach­ten soll. Tut sie aber nicht. Ein­gangs- und Schluss­wort hält die deut­sche Kul­tur­staats­mi­ni­ste­rin. Zil­le nutzt sei­ne Rede­zeit für eine abgrund­tie­fe Ver­beu­gung vor ihr. Pro­fes­so­ra­le Wei­hen spen­det Jan Phil­ipp Reemts­ma der real exi­stie­ren­den Demo­kra­tie. Sie garan­tie­re, dass nie­mand Ver­ant­wor­tung über­neh­men müs­se für die Poli­tik sei­nes Lan­des. Ver­hört? Mit­nich­ten, viel­mehr sei alles ande­re tota­li­tär, und was es, wenn die Mas­se sich nicht mehr enga­giert, nur brau­che, sei­en »ganz flei­ßi­ge Men­schen, die das dann für alle über­neh­men«. Demo­kra­tie, das sei­en ihre Insti­tu­tio­nen, so wer­den es auf die­sem Podi­um alle sehen. Clau­dia Roth wählt als ein­zi­ges ihr Demo­kra­tie­ver­ständ­nis kon­kre­ti­sie­ren­des Wort »lei­den­schaft­lich«. Man soll es ihr glau­ben, dar­um spricht sie sehr laut. »Was ist Demo­kra­tie?«, fragt sie. »Dass wir hier sind, Bücher haben, frei unse­re Mei­nung sagen kön­nen«, sagt die, die hier fast die hal­be Rede­zeit lang frei ihre Mei­nung sagen darf. Falls man aus rhe­to­ri­schen Platz­hal­tern Geba­stel­tes eine Mei­nung nen­nen will oder auch nur darf.

Als die tür­ki­sche Fil­me­ma­che­rin Şeh­bal Şenyurt Arin­li end­lich doch noch dran­kommt, beeilt sie sich, den Schrecken in ihrem Hei­mat­land aus­zugs­wei­se zu ver­brei­ten. Ange­fan­gen habe alles mit aus­ge­wei­te­ten und außer Kon­trol­le gera­te­nen Befug­nis­sen der Sicher­heits­or­ga­ne. Der afgha­ni­sche Autor, des­sen Name so geheim ist, dass er nur genu­schelt wird (und nir­gends zu lesen ist), malt gegen die Uhr ein noch schwär­z­e­res Bild von sei­nem Land. Wie sei­ne Vor­red­ne­rin lobt er anschlie­ßend Deutsch­land. Für des­sen Demo­kra­tie sei ein­mal »ein Preis bezahlt wor­den«. Die Afgha­nen hät­ten die letz­ten zwan­zig Jah­re ver­sucht, den Preis eben­falls zu bezah­len, das Bezahl­te aber nicht erhal­ten. Gesagt wird weder, dass die Tali­ban von den USA erfun­den wur­den, um die Sowjet­uni­on erst zu besie­gen und spä­ter zu besei­ti­gen (kei­ne Trä­ne von mir dafür), noch, dass die Tür­kei ihre Dik­ta­tur als Nato-Mit­glied und Tür­ste­her der euro­päi­schen Dis­co errich­tet hat sowie dass in Deutsch­land die neu­en Poli­zei­ge­set­ze und das ver­schärf­te Straf­recht zu wider­setz­li­chen Hand­lun­gen gegen Voll­streckungs­be­am­te jetzt schon ver­un­mög­li­chen, dass gegen die Staats­ge­walt ange­mes­sen pro­te­stiert wer­den kann. Kein Wort letzt­lich zum The­ma der Ver­an­stal­tung. Schwar­zer Kon­trast allein wei­ßelt das Dis­play hin­ter der Bücher­bunt­heit: die Leer­stel­le der Realdemokratie.

Das Pro­blem sind wir selbst, möch­te ich ergän­zen und es im Bild der Stra­ßen­bahn aus­drücken, die uns offi­zi­ell erlaubt, ihre Fahrt zu unter­bre­chen, uns ein­zu­mi­schen. Ich hät­te die Hal­te­wunsch­ta­ste an jeder Hal­te­stel­le drücken und mei­ne Mit­fah­ren­den bit­ten kön­nen, noch etwas enger zusam­men­zu­ste­hen, damit »die Ande­ren« mit­fah­ren kön­nen. War­um habe ich es nicht getan? Ich habe mich davor gefürch­tet, von allen gehasst zu wer­den für die Unan­nehm­lich­keit, die ich ihnen berei­tet hät­te, für die Erin­ne­rung an »die Ande­ren«, die es beque­mer­wei­se nicht gibt. Ich habe mich vor mei­nem Hass auf mich selbst aus den glei­chen Grün­den gefürch­tet. Also habe ich geschwie­gen. Und »die Ande­ren« und, im Bild gespro­chen, die Wahr­heit über die schmut­zi­gen Hän­de unse­rer Gewähl­ten und ihrer Finanz­vor­ge­setz­ten blei­ben auf dem Per­ron zurück, wäh­rend die öster­rei­chi­sche Stim­me uns mit Frem­den­ver­kehrs­wer­bung umschmei­chelt: »Leip­zig ist eine wun­der­schö­ne Stadt. Wien ist auch schön. Könn­tet ihr euch mal anschauen.«