Ich war auf der Leipziger Buchmesse, wollte nachgucken, ob sie nach drei Entfalljahren noch lebt. Die Buchstadt lebt mit Sicherheit in ihren Straßenbahnmoderatoren. Wortreich helfen sie beim Einsteigen in die Linie 16. Am Hauptbahnhof und am Messegelände stehen Zwillingsbrüder, im Dienst ergraut, in der späten Ehrenfunktion sonnengebräunt. Ihre Megafone fungieren analog zu Literaturpreisen, schaffen Aufmerksamkeit für mit Bedacht und Wärme Gesprochenes wie, dass der Zug 45 Meter lang ist und in der Mitte die meisten Türen hat. Im Wagen wünscht eine österreichische Stimme vom Band »einen schönen Tag auf der Messe. Mein Name ist Nino aus Wien«. Wer den nicht kennt (was ein Fehler ist), versteht vor lauter Lässigkeit nur Bahnhof. Nino, falls du das liest: Wir lieben das Gastland Österreich spätestens, seit wir deine verschlafene Stimme gehört haben. Trotzdem stress bitte nicht unser Hörverstehen.
Klar und deutlich gesprochen, besser als alles auf den Messelesungen, ist auf Sächsisch Folgendes: »Liebe Fahrgäste, bitte beachten Sie, dass ab sofort die Straßenbahn nur noch hält, wenn Sie zuvor die Haltewunschtaste gedrückt haben.« Das Wort »Haltewunschtaste« widme ich den betörenden Frauen, die mich vier Tage lang umgeben haben und die für mich alle so etwas wie diese Taste hatten.
Das Wort und die Durchsage haben übrigens eine Kehrseite, und das ist eine böse Absicht. Weil keiner die Haltewunschtaste drückt, sondern alle sich freuen, dass sie haltlos schneller zur Messe gelangen, bleiben diejenigen, die zwischen Hauptbahnhof und Messe warten, hinter Straßenbahnglastüren, die nicht für sie aufgehen, zurück. Und stehen da wahrscheinlich noch bis zur nächsten Buchmesse. Leipzig, du musst mehr Bahnen einsetzen!
Ein neues Leseforum gibt es. »Offene Gesellschaft« heißt es. Buchmessechef Oliver Zille muss es eröffnen, mit einer Veranstaltung, die Deutschlands Demokratie aus den Augen von Exilschriftsteller:innen betrachten soll. Tut sie aber nicht. Eingangs- und Schlusswort hält die deutsche Kulturstaatsministerin. Zille nutzt seine Redezeit für eine abgrundtiefe Verbeugung vor ihr. Professorale Weihen spendet Jan Philipp Reemtsma der real existierenden Demokratie. Sie garantiere, dass niemand Verantwortung übernehmen müsse für die Politik seines Landes. Verhört? Mitnichten, vielmehr sei alles andere totalitär, und was es, wenn die Masse sich nicht mehr engagiert, nur brauche, seien »ganz fleißige Menschen, die das dann für alle übernehmen«. Demokratie, das seien ihre Institutionen, so werden es auf diesem Podium alle sehen. Claudia Roth wählt als einziges ihr Demokratieverständnis konkretisierendes Wort »leidenschaftlich«. Man soll es ihr glauben, darum spricht sie sehr laut. »Was ist Demokratie?«, fragt sie. »Dass wir hier sind, Bücher haben, frei unsere Meinung sagen können«, sagt die, die hier fast die halbe Redezeit lang frei ihre Meinung sagen darf. Falls man aus rhetorischen Platzhaltern Gebasteltes eine Meinung nennen will oder auch nur darf.
Als die türkische Filmemacherin Şehbal Şenyurt Arinli endlich doch noch drankommt, beeilt sie sich, den Schrecken in ihrem Heimatland auszugsweise zu verbreiten. Angefangen habe alles mit ausgeweiteten und außer Kontrolle geratenen Befugnissen der Sicherheitsorgane. Der afghanische Autor, dessen Name so geheim ist, dass er nur genuschelt wird (und nirgends zu lesen ist), malt gegen die Uhr ein noch schwärzeres Bild von seinem Land. Wie seine Vorrednerin lobt er anschließend Deutschland. Für dessen Demokratie sei einmal »ein Preis bezahlt worden«. Die Afghanen hätten die letzten zwanzig Jahre versucht, den Preis ebenfalls zu bezahlen, das Bezahlte aber nicht erhalten. Gesagt wird weder, dass die Taliban von den USA erfunden wurden, um die Sowjetunion erst zu besiegen und später zu beseitigen (keine Träne von mir dafür), noch, dass die Türkei ihre Diktatur als Nato-Mitglied und Türsteher der europäischen Disco errichtet hat sowie dass in Deutschland die neuen Polizeigesetze und das verschärfte Strafrecht zu widersetzlichen Handlungen gegen Vollstreckungsbeamte jetzt schon verunmöglichen, dass gegen die Staatsgewalt angemessen protestiert werden kann. Kein Wort letztlich zum Thema der Veranstaltung. Schwarzer Kontrast allein weißelt das Display hinter der Bücherbuntheit: die Leerstelle der Realdemokratie.
Das Problem sind wir selbst, möchte ich ergänzen und es im Bild der Straßenbahn ausdrücken, die uns offiziell erlaubt, ihre Fahrt zu unterbrechen, uns einzumischen. Ich hätte die Haltewunschtaste an jeder Haltestelle drücken und meine Mitfahrenden bitten können, noch etwas enger zusammenzustehen, damit »die Anderen« mitfahren können. Warum habe ich es nicht getan? Ich habe mich davor gefürchtet, von allen gehasst zu werden für die Unannehmlichkeit, die ich ihnen bereitet hätte, für die Erinnerung an »die Anderen«, die es bequemerweise nicht gibt. Ich habe mich vor meinem Hass auf mich selbst aus den gleichen Gründen gefürchtet. Also habe ich geschwiegen. Und »die Anderen« und, im Bild gesprochen, die Wahrheit über die schmutzigen Hände unserer Gewählten und ihrer Finanzvorgesetzten bleiben auf dem Perron zurück, während die österreichische Stimme uns mit Fremdenverkehrswerbung umschmeichelt: »Leipzig ist eine wunderschöne Stadt. Wien ist auch schön. Könntet ihr euch mal anschauen.«