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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Eskalationen

Eska­la­tio­nen gesche­hen in einem Ent­wick­lungs­pro­zess von Bezie­hun­gen. Sie drücken miss­lin­gen­de Kom­pro­miss­be­reit­schaft und miss­lin­gen­de Inte­gra­ti­on in eine Ord­nung aus. Über­trägt man die indi­vi­du­al­psy­cho­lo­gi­sche Defi­ni­ti­on auf das Ver­hal­ten zwi­schen Staa­ten, kann eine miss­lin­gen­de Kom­mu­ni­ka­ti­on unter­ein­an­der in krie­ge­ri­sche Gewalt umschlagen.

Die Wur­zeln des heu­ti­gen Miss­trau­ens zwi­schen »dem Westen« und Russ­land lie­gen im Kal­ten Krieg bis 1990 und des­sen Ver­ar­bei­tung in bei­den Blöcken. Um 1990 konn­ten die Samen die­ses Miss­trau­ens noch bear­bei­tet und in For­men für ein neu­es Euro­pa gegos­sen wer­den (Char­ta von Paris). Kon­ter­ka­riert wur­de die Ent­wick­lungs­rich­tung zu einer Frie­dens­ord­nung dann durch die Krie­ge der 1990er Jah­re. End­gül­tig zu Fall gebracht hat die­se Mög­lich­keit die US-Admi­ni­stra­ti­on unter ihrem Prä­si­den­ten Geor­ge W. Bush 2001. Er rief nach 9/​11 zum Kampf gegen den Ter­ror auf, und in der Fol­ge begann er mit dem »Wüsten­sturm« den Irak-Krieg im Jahr 2003. Die Poli­tik der Ver­ei­nig­ten Staa­ten ging end­gül­tig von par­ti­el­ler Koope­ra­ti­on mit Russ­land zur Kon­fron­ta­ti­on über: Die Ver­ei­nig­ten Staa­ten von Ame­ri­ka brach­ten ihre poli­ti­sche und mili­tä­ri­sche Domi­nanz zum Aus­druck und bekräf­tig­ten ihren Anspruch, gegen die Erstar­kung auf­kom­men­der Mäch­te ihre Vor­macht­stel­lung bewah­ren zu wollen.

In einem Bei­trag für das Maga­zin Cice­ro vom Novem­ber 2018 schrieb Gene­ral a. D. Harald Kujat, dass nach Implo­si­on der Sowjet­uni­on am Ende der 1980er Jah­re und der Auf­lö­sung des War­schau­er Pak­tes 1994 das übrig geblie­be­ne klei­ne­re Russ­land ohne die selb­stän­dig gewor­de­nen Repu­bli­ken wirt­schaft­lich und men­tal am Boden lie­ge, das Mili­tär auf einem Tief­stand sei­ner Gefüh­le und das Land poli­tisch gespal­ten sei. Die psy­cho­so­zia­le Situa­ti­on der rus­si­schen Gesamt­ge­sell­schaft war nach Ende des Kal­ten Kriegs die eines Ver­lie­rers. Die­ser lan­ge Moment der Depres­si­on schwäch­te das Selbst-Bewusst­sein sei­ner Bevölkerung.

Inte­gra­ti­ve Ange­bo­te für die Schaf­fung einer neu­en Welt, in der die »Char­ta von Paris für ein neu­es Euro­pa« im Novem­ber 1990 umge­setzt wor­den wäre, blie­ben auf der Strecke. Aus­glei­chen­de part­ner­schaft­li­che Ver­trä­ge, die Deutsch­land-Ver­trä­ge sowie das Pro­gramm Part­ner­schaft für den Frie­den (1994), waren nach der Wen­de in Deutsch­land und Euro­pa zwar inte­gra­ti­ve Ansät­ze, die jedoch bald stock­ten. Die Nato-Russ­land-Grund­ak­te von 1997 stieß bei Russ­lands Prä­si­dent Jel­zin nicht auf beden­ken­lo­se Gegen­lie­be (Ischin­ger). Mit der Grund­ak­te soll­ten Russ­lands Vor­be­hal­te gegen die Nato-Ost­erwei­te­rung im Vor­feld des Bei­tritts ost­eu­ro­päi­scher Staa­ten abge­schwächt wer­den, was für Russ­land einen her­ben Ver­lust sei­ner Ein­fluss­sphä­re bedeutete:1999 tra­ten Polen, Ungarn und Tsche­chi­en der Nato bei.

Zwar soll­ten die gegen­sei­ti­gen Bezie­hun­gen ent­wickelt und Zusam­men­ar­beit und Sicher­heit aus­ge­baut wer­den. Die USA, die Nato und Russ­land bra­chen aller­dings u. a. im Jugo­sla­wi­en-Krieg, im Irak-Krieg, in Tsche­tsche­ni­en, Geor­gi­en, auf der Krim und in der Ukrai­ne mehr­fach die­sen Ver­trag. Rechts­brü­che und Auf­kün­di­gung von Abrü­stungs­ver­trä­gen mach­ten schwer­wie­gen­de Kon­flik­te offen­kun­dig. Immer mehr Ver­trä­ge wur­den gebro­chen und das Völ­ker­recht aus­ge­höhlt, mit ent­spre­chen­den Auto­ri­täts­ver­lu­sten für das Recht als Fun­da­ment. Kon­flik­te um geo­stra­te­gi­sche Inter­es­sen der Staa­ten konn­ten z. B. von der OSZE nicht wirk­lich dees­ka­liert wer­den, was den ohne­hin gerin­gen Ein­fluss die­ser zivi­len Orga­ni­sa­ti­on wei­ter schmälerte.

Russ­land streb­te in den 1990er Jah­ren zwar nicht die Mit­glied­schaft in der Nato-Alli­anz an (obwohl als Vor­stel­lung geäu­ßert), »aber doch ein gewis­ses Mit­ent­schei­dungs­recht«, glaubt Harald Kujat.

»Tek­to­ni­sche Plat­ten« waren nach 1990 in Bewe­gung gera­ten. Aber auf ein Mit­ent­schei­dungs­recht Russ­lands konn­ten (und woll­ten) sich die Nato und die Ver­ei­nig­ten Staa­ten nicht ein­las­sen. Kujat: »Immer­hin wur­de ver­ein­bart, dass die Nato und Russ­land in Fra­gen, die ihre jewei­li­gen Sicher­heits­in­ter­es­sen berühr­ten, in kon­struk­ti­ver und ver­trau­ens­vol­ler­wei­se Wei­se eine bei­der­seits akzep­ta­ble Lösung suchen wollten.«

Spä­te­stens mit der krie­ge­ri­schen Eska­la­ti­on des Ukrai­ne-Kon­flikts in den Jah­ren 2013/​14 wür­den die Bezie­hun­gen des »Westens« zu Russ­land über­wie­gend im Lich­te der Ukrai­ne-Kri­se defi­niert, schrieb der Gene­ral vor sechs Jah­ren; sie über­la­ger­te die Vor­komm­nis­se in ande­ren ehe­ma­li­gen Sowjet­re­pu­bli­ken und ver­hin­der­te einen Aus­bau der part­ner­schaft­li­chen Zusam­men­ar­beit: Wer weiß heu­te noch, »dass es nach dem Kursk-Unglück (im Jahr 2000) gemein­sa­me Übun­gen zur Ret­tung von U-Boot-Besat­zun­gen gab, oder dass im Koso­vo-Ein­satz rus­si­sche Ver­bän­de der Nato unter­stellt waren«.

Heu­te über­la­gern natio­na­le Inter­es­sen der USA und Russ­lands (Chi­nas, Indi­ens, BRICS) die gemein­sa­men Sicher­heits­in­ter­es­sen. »Das Zeit­al­ter der gro­ßen Alli­an­zen ist Geschich­te«, Riva­li­tät der bestim­men­de Fak­tor der Zukunft: um Wirt­schafts­po­li­tik, um Ein­fluss­zo­nen. Auf­rü­stung und mili­tär­tech­ni­sche Revo­lu­tio­nen begün­sti­gen krie­ge­ri­sche Kon­fron­ta­tio­nen und rücken uns näher an den »Point of no Return«. Deutsch­land und Euro­pa haben kei­ne Hand­lungs­ebe­ne gefun­den, sich zwi­schen Russ­land und den USA zu behaup­ten. So sind wir – wie Kujat in sei­nem Bei­trag für Cice­ro vor­aus­sah – in einen mili­tä­ri­schen Kon­flikt um die Ukrai­ne in Euro­pa getau­melt, von Russ­land aus­ge­löst und vom Westen nicht verhindert.

Die For­de­run­gen, die Harald Kujat, der ehe­ma­li­ge Gene­rals­in­spek­teur der Bun­des­wehr (2000-2002) und Vor­sit­zen­de des Mili­tär­aus­schus­ses der Nato (2002-2005) damals äußer­te, sind heu­te – nach zwei­ein­halb Jah­ren Krieg in der Ukrai­ne – aktu­el­ler denn je: »Nur durch eine Zusam­men­ar­beit zwi­schen den Ver­ei­nig­ten Staa­ten und Russ­land sind Lösun­gen der Kon­flik­te mög­lich.« »Pro­vo­ka­ti­on und Gegen­pro­vo­ka­ti­on, Ver­däch­ti­gung und Beschul­di­gung, Dro­hung und Gegen­dro­hung, Sank­tio­nen und Gegen­sank­tio­nen« ent­hal­ten Poten­zia­le für Eska­la­tio­nen. In die­sem Mecha­nis­mus lau­ern lebens­be­droh­li­che Risi­ken. Putin und sei­ne Bera­ter befah­len im Febru­ar 2022 der rus­si­schen Armee den völ­ker­rechts­wid­ri­gen Über­fall auf die Ukrai­ne. Die Stu­fen­lei­ter der Eska­la­ti­on zum Krieg um die Ukrai­ne ist über­schrit­ten wor­den, jetzt – im Krieg der Armeen – haben Eska­la­ti­ons­ri­si­ken eine ande­re Qua­li­tät. Euro­pa, mit der Ukrai­ne als leid­tra­gen­dem Land, ist eini­ge Spros­sen auf der Lei­ter zu flä­chen­decken­der Ver­nich­tung empor­ge­stie­gen. Wie groß die Flä­che zu wer­den droht, ist (noch) offen.

Statt ver­ant­wor­tungs­be­wuss­tem Han­deln neh­men mili­tä­ri­sche Ver­nich­tungs­ak­tio­nen zu, Gleit­bom­ben und Marsch­flug­kör­per, Droh­nen­krieg und Cyber­an­grif­fe trei­ben Akti­on und Reak­ti­on der jewei­li­gen Sei­ten vor­an Und las­sen hun­dert­tau­sen­de Tote und Ver­letz­te, trau­ern­de Ange­hö­ri­ge auf bei­den Sei­ten und unvor­stell­ba­re Zer­stö­rung zurück. Gleich­wohl wird im Deut­schen Bun­des­tag, von Mili­tär­ex­per­ten und einer gro­ßen Zahl von Medi­en­schaf­fen­den der Ein­satz wei­ter­rei­chen­der Waf­fen ver­langt, die tief im Hin­ter­land der rus­si­schen Armee die Muni­ti­ons­la­ger, Waf­fen­be­stän­de und Regio­nen der stra­te­gi­schen Abschreckung Russ­lands tref­fen kön­nen, auch »aus Ver­se­hen«. Gene­rä­le, Offi­zie­re der Bun­des­wehr, der Ver­tei­di­gungs­mi­ni­ster und Abge­ord­ne­te aller Par­tei­en der Mit­te for­dern mehr Ein­satz, mehr und bes­se­re Waf­fen und mehr Geld für Auf­rü­stung und Rüstungs­expor­te. Die für das Jahr 2026 vor­ge­se­he­ne Sta­tio­nie­rung von Hyper­schall­ra­ke­ten (Reich­wei­te etwa 2500 km) mit kur­zer Vor­warn­zeit und von Toma­hawks (Marsch­flug­kör­per), schwer vom Radar aus­zu­ma­chen, von der Kanz­ler-Regie­rung gebil­ligt und unter­stützt von CDU/​CSU, wir­ken bedroh­lich. Dabei han­delt es sich um lan­ge geplan­te Ant­wor­ten des Westens auf die Sta­tio­nie­rung rus­si­scher Iskan­der-Rake­ten (laut Spie­gel mit einer Reich­wei­te von 500 km) in Kali­nin­grad. Putin droht dar­auf­hin erneut mit Gegen­maß­nah­men – und so fort. Sogar der Ein­satz von Atom­waf­fen wird wie­der in den Raum der umkämpf­ten Spe­ku­la­ti­on geschleu­dert. Russ­land macht den Ein­satz davon abhän­gig, was der »Angrei­fer» (der sich doch bloß »ver­tei­digt» oder zurück­schlägt?) in Russ­land anrich­tet. Er ent­schei­det mit sei­nen Bera­tern, ob sich das Land in sei­ner Exi­stenz bedroht sehen soll. Sie tref­fen eine Ent­schei­dung über die Art der Gegen­maß­nah­men und die Waf­fen­gat­tung. Russ­land hat die Macht der Ent­schei­dung, wes­halb in den Bera­tungs­gre­mi­en der Ver­ei­nig­ten Staa­ten und bei Kanz­ler Scholz Vor­sicht wal­tet; das Äußer­ste wol­len sie nicht pro­vo­zie­ren. Die Lage kann jedoch kip­pen, aus dem Ruder lau­fen – eska­lie­ren eben.