Eskalationen geschehen in einem Entwicklungsprozess von Beziehungen. Sie drücken misslingende Kompromissbereitschaft und misslingende Integration in eine Ordnung aus. Überträgt man die individualpsychologische Definition auf das Verhalten zwischen Staaten, kann eine misslingende Kommunikation untereinander in kriegerische Gewalt umschlagen.
Die Wurzeln des heutigen Misstrauens zwischen »dem Westen« und Russland liegen im Kalten Krieg bis 1990 und dessen Verarbeitung in beiden Blöcken. Um 1990 konnten die Samen dieses Misstrauens noch bearbeitet und in Formen für ein neues Europa gegossen werden (Charta von Paris). Konterkariert wurde die Entwicklungsrichtung zu einer Friedensordnung dann durch die Kriege der 1990er Jahre. Endgültig zu Fall gebracht hat diese Möglichkeit die US-Administration unter ihrem Präsidenten George W. Bush 2001. Er rief nach 9/11 zum Kampf gegen den Terror auf, und in der Folge begann er mit dem »Wüstensturm« den Irak-Krieg im Jahr 2003. Die Politik der Vereinigten Staaten ging endgültig von partieller Kooperation mit Russland zur Konfrontation über: Die Vereinigten Staaten von Amerika brachten ihre politische und militärische Dominanz zum Ausdruck und bekräftigten ihren Anspruch, gegen die Erstarkung aufkommender Mächte ihre Vormachtstellung bewahren zu wollen.
In einem Beitrag für das Magazin Cicero vom November 2018 schrieb General a. D. Harald Kujat, dass nach Implosion der Sowjetunion am Ende der 1980er Jahre und der Auflösung des Warschauer Paktes 1994 das übrig gebliebene kleinere Russland ohne die selbständig gewordenen Republiken wirtschaftlich und mental am Boden liege, das Militär auf einem Tiefstand seiner Gefühle und das Land politisch gespalten sei. Die psychosoziale Situation der russischen Gesamtgesellschaft war nach Ende des Kalten Kriegs die eines Verlierers. Dieser lange Moment der Depression schwächte das Selbst-Bewusstsein seiner Bevölkerung.
Integrative Angebote für die Schaffung einer neuen Welt, in der die »Charta von Paris für ein neues Europa« im November 1990 umgesetzt worden wäre, blieben auf der Strecke. Ausgleichende partnerschaftliche Verträge, die Deutschland-Verträge sowie das Programm Partnerschaft für den Frieden (1994), waren nach der Wende in Deutschland und Europa zwar integrative Ansätze, die jedoch bald stockten. Die Nato-Russland-Grundakte von 1997 stieß bei Russlands Präsident Jelzin nicht auf bedenkenlose Gegenliebe (Ischinger). Mit der Grundakte sollten Russlands Vorbehalte gegen die Nato-Osterweiterung im Vorfeld des Beitritts osteuropäischer Staaten abgeschwächt werden, was für Russland einen herben Verlust seiner Einflusssphäre bedeutete:1999 traten Polen, Ungarn und Tschechien der Nato bei.
Zwar sollten die gegenseitigen Beziehungen entwickelt und Zusammenarbeit und Sicherheit ausgebaut werden. Die USA, die Nato und Russland brachen allerdings u. a. im Jugoslawien-Krieg, im Irak-Krieg, in Tschetschenien, Georgien, auf der Krim und in der Ukraine mehrfach diesen Vertrag. Rechtsbrüche und Aufkündigung von Abrüstungsverträgen machten schwerwiegende Konflikte offenkundig. Immer mehr Verträge wurden gebrochen und das Völkerrecht ausgehöhlt, mit entsprechenden Autoritätsverlusten für das Recht als Fundament. Konflikte um geostrategische Interessen der Staaten konnten z. B. von der OSZE nicht wirklich deeskaliert werden, was den ohnehin geringen Einfluss dieser zivilen Organisation weiter schmälerte.
Russland strebte in den 1990er Jahren zwar nicht die Mitgliedschaft in der Nato-Allianz an (obwohl als Vorstellung geäußert), »aber doch ein gewisses Mitentscheidungsrecht«, glaubt Harald Kujat.
»Tektonische Platten« waren nach 1990 in Bewegung geraten. Aber auf ein Mitentscheidungsrecht Russlands konnten (und wollten) sich die Nato und die Vereinigten Staaten nicht einlassen. Kujat: »Immerhin wurde vereinbart, dass die Nato und Russland in Fragen, die ihre jeweiligen Sicherheitsinteressen berührten, in konstruktiver und vertrauensvollerweise Weise eine beiderseits akzeptable Lösung suchen wollten.«
Spätestens mit der kriegerischen Eskalation des Ukraine-Konflikts in den Jahren 2013/14 würden die Beziehungen des »Westens« zu Russland überwiegend im Lichte der Ukraine-Krise definiert, schrieb der General vor sechs Jahren; sie überlagerte die Vorkommnisse in anderen ehemaligen Sowjetrepubliken und verhinderte einen Ausbau der partnerschaftlichen Zusammenarbeit: Wer weiß heute noch, »dass es nach dem Kursk-Unglück (im Jahr 2000) gemeinsame Übungen zur Rettung von U-Boot-Besatzungen gab, oder dass im Kosovo-Einsatz russische Verbände der Nato unterstellt waren«.
Heute überlagern nationale Interessen der USA und Russlands (Chinas, Indiens, BRICS) die gemeinsamen Sicherheitsinteressen. »Das Zeitalter der großen Allianzen ist Geschichte«, Rivalität der bestimmende Faktor der Zukunft: um Wirtschaftspolitik, um Einflusszonen. Aufrüstung und militärtechnische Revolutionen begünstigen kriegerische Konfrontationen und rücken uns näher an den »Point of no Return«. Deutschland und Europa haben keine Handlungsebene gefunden, sich zwischen Russland und den USA zu behaupten. So sind wir – wie Kujat in seinem Beitrag für Cicero voraussah – in einen militärischen Konflikt um die Ukraine in Europa getaumelt, von Russland ausgelöst und vom Westen nicht verhindert.
Die Forderungen, die Harald Kujat, der ehemalige Generalsinspekteur der Bundeswehr (2000-2002) und Vorsitzende des Militärausschusses der Nato (2002-2005) damals äußerte, sind heute – nach zweieinhalb Jahren Krieg in der Ukraine – aktueller denn je: »Nur durch eine Zusammenarbeit zwischen den Vereinigten Staaten und Russland sind Lösungen der Konflikte möglich.« »Provokation und Gegenprovokation, Verdächtigung und Beschuldigung, Drohung und Gegendrohung, Sanktionen und Gegensanktionen« enthalten Potenziale für Eskalationen. In diesem Mechanismus lauern lebensbedrohliche Risiken. Putin und seine Berater befahlen im Februar 2022 der russischen Armee den völkerrechtswidrigen Überfall auf die Ukraine. Die Stufenleiter der Eskalation zum Krieg um die Ukraine ist überschritten worden, jetzt – im Krieg der Armeen – haben Eskalationsrisiken eine andere Qualität. Europa, mit der Ukraine als leidtragendem Land, ist einige Sprossen auf der Leiter zu flächendeckender Vernichtung emporgestiegen. Wie groß die Fläche zu werden droht, ist (noch) offen.
Statt verantwortungsbewusstem Handeln nehmen militärische Vernichtungsaktionen zu, Gleitbomben und Marschflugkörper, Drohnenkrieg und Cyberangriffe treiben Aktion und Reaktion der jeweiligen Seiten voran Und lassen hunderttausende Tote und Verletzte, trauernde Angehörige auf beiden Seiten und unvorstellbare Zerstörung zurück. Gleichwohl wird im Deutschen Bundestag, von Militärexperten und einer großen Zahl von Medienschaffenden der Einsatz weiterreichender Waffen verlangt, die tief im Hinterland der russischen Armee die Munitionslager, Waffenbestände und Regionen der strategischen Abschreckung Russlands treffen können, auch »aus Versehen«. Generäle, Offiziere der Bundeswehr, der Verteidigungsminister und Abgeordnete aller Parteien der Mitte fordern mehr Einsatz, mehr und bessere Waffen und mehr Geld für Aufrüstung und Rüstungsexporte. Die für das Jahr 2026 vorgesehene Stationierung von Hyperschallraketen (Reichweite etwa 2500 km) mit kurzer Vorwarnzeit und von Tomahawks (Marschflugkörper), schwer vom Radar auszumachen, von der Kanzler-Regierung gebilligt und unterstützt von CDU/CSU, wirken bedrohlich. Dabei handelt es sich um lange geplante Antworten des Westens auf die Stationierung russischer Iskander-Raketen (laut Spiegel mit einer Reichweite von 500 km) in Kaliningrad. Putin droht daraufhin erneut mit Gegenmaßnahmen – und so fort. Sogar der Einsatz von Atomwaffen wird wieder in den Raum der umkämpften Spekulation geschleudert. Russland macht den Einsatz davon abhängig, was der »Angreifer» (der sich doch bloß »verteidigt» oder zurückschlägt?) in Russland anrichtet. Er entscheidet mit seinen Beratern, ob sich das Land in seiner Existenz bedroht sehen soll. Sie treffen eine Entscheidung über die Art der Gegenmaßnahmen und die Waffengattung. Russland hat die Macht der Entscheidung, weshalb in den Beratungsgremien der Vereinigten Staaten und bei Kanzler Scholz Vorsicht waltet; das Äußerste wollen sie nicht provozieren. Die Lage kann jedoch kippen, aus dem Ruder laufen – eskalieren eben.