Statt verantwortungsbewusstem Handeln nehmen militärische Vernichtungsaktionen zu, Gleitbomben und Marschflugkörper, Drohnenkrieg und Cyberangriffe treiben Aktion und Reaktion aller Seiten voran, wie den Vormarsch der russischen Armee vom Osten der Ukraine westwärts – hunderttausende Tote und Verletzte, trauernde Angehörige auf beiden Seiten und unvorstellbare Zerstörung. Im Deutschen Bundestag, von Militärexperten und einer großen Zahl von Medienschaffenden wird nach dem Einsatz weiterreichender Waffen, nach dem Einsatz des Marschflugkörpers Taurus und von Raketen verlangt, die tief ins Hinterland der russischen Armee die Munitionslager, Waffenbestände und Regionen der strategischen Abschreckung Russlands treffen können, auch »aus Versehen«. Generäle, Offiziere der Bundeswehr, der Verteidigungsminister und Abgeordnete aller Parteien der Mitte fordern mehr Einsatz, mehr und bessere Waffen und Geld für Aufrüstung und Rüstungsexporte, immer dringlicher, je weiter die Ukraine mit ihrer geringer werdenden Zahl einsatzbereiter und kampfwilliger Soldaten in die Defensive gerät. Die für das Jahr 2026 vorgesehene Stationierung von Hyperschallraketen (Reichweite etwa 2500 km) mit kurzer Vorwarnzeit und von Tomahawks (Marschflugkörper), schwer vom Radar auszumachen, von der Kanzler-Regierung gebilligt und unterstützt von CDU/CSU, wirken bedrohlich. Lange geplante Aktionen des Westens auf die Stationierung russischer Iskander-Raketen (laut Spiegel mit einer Reichweite von 500 km) in Kaliningrad. Putin reagiert mit erneuter Androhung von Gegenmaßnahmen. Der Einsatz von Atomwaffen wird wieder in den Raum der umkämpften Spekulation geschleudert. Russland macht den Einsatz davon abhängig, was der »Angreifer« (der sich doch bloß »verteidigt« oder zurückschlägt?) in Russland anrichtet. Er entscheidet mit seinen Beratern, ob es sich in seiner Existenz bedroht sehen soll. Sie treffen eine Entscheidung über die Art der Gegenmaßnahmen.
Die »Europäische Sicherheit« kehrt nach dem Zusammenbruch ihrer Politik gescheiterter Konfliktlösungsversuche, nicht erst mit der Ukrainekrise nach 2013/14, zu einem Wettkampf um ein »Gleichgewicht des Schreckens« zurück, das zahlreiche Situationen von »Beinahe«-Atomwaffeneinsätzen bereithielt. Die in Jahrzehnten aufgebaute Rüstungskontrolle ist in wenigen Jahren, vorangetrieben durch die Vereinigten Staaten von Amerika, kollabiert. Risiken und Eskalationsgefahren werden von »Militärexperten« und »Militärexpertinnen« kleingeredet und als »deutsche Angstpsychose« lächerlich gemacht. Aber: »Die internationale Sicherheitspolitik lässt den Grundsatz der Wechselwirkungen außer Acht, die durch Ketten von Aktion und Reaktion, mit jeweils eskalierenden oder deeskalierenden Folgen geprägt ist«, weist der ehemalige Brigadegeneral Helmut W. Ganser auf eine »strategische Binsenweisheit« hin, die besonders in Deutschland von vielen »Experten und Expertinnen« ignoriert wird. Ganser fährt fort: »Es gibt keine verlässliche, in jedem Fall funktionierende Abschreckung, es besteht immer das Restrisiko von Fehleinschätzungen und des Versagens der Abschreckungswirkung.« Ein Dilemma, das sei 1945 vielfach an Beispielen historischer Vorkommnisse beschrieben wurde. Befürworter der Abschreckung sehen das Nichteintreten des Supergaus (abgesehen von Hiroshima und Nagasaki!) dagegen als Beweis für das Nichteintreten einer Vernichtung einer nicht fassbaren großen Zahl von Menschen. Ein naseweiser Irrtum der Denklogik! Die historischen Fakten deuten auf Umstände zufälliger und glücklicher Verhinderung: Die Dilemmasituation setzt voraus, dass die Verantwortlichen immer besonnen und kompromissbereit navigieren müssen, damit eine nukleare Eskalation nicht in den Bereich des Wahrscheinlichen rückt. Auf Putins Bluff zu setzen, lässt das Unwägbare, das Unvorstellbare außer Acht.
Die »Nuklearisierung des militärstrategischen Denkens«, so General Ganser, rücke auch deswegen in den Vordergrund, weil die erheblichen Verluste der russischen Armee Russland selbst auf Jahre hinaus schwächen werde, weshalb die Atomwaffen kurzer und mittlerer Reichweite in den Vordergrund rücken. Dafür sei die Stationierung russischer Kernwaffen in Weißrussland ein Indiz. Das habe eine »erweiterte Abschreckung der USA und der Nato« zur Folge. »Atomare Eskalationskalküle des Kremls werden dadurch komplizierter.« Im Nuklear Posture Review Trumps wurde 2018 mit flexibleren nuklearen Einsatzoptionen gerechnet, der Einsatz von Atomwaffen simuliert, nicht strategische Atomwaffen als Kriegsführungswaffen verstanden. Die US-Administration bestreitet, in Kriegsführungskategorien zu denken, postuliert aber, Abschreckung sei durch Integration vergleichsweiser »kleiner« Atomsprengköpfe und Integration in den konventionellen Krieg glaubwürdiger und wirksamer. Mit diesem strategischen Denken von Teilen der US-Administration, insbesondere im Pentagon, wird die Feststellung der Präsidenten Reagan und Gorbatschow aus dem Jahre 1985 in Frage gestellt, »dass ein Atomkrieg nicht gewonnen werden kann und niemals geführt werden darf«.
Atomwaffeneinsatz zu antizipieren, Folgen solchen Einsatzes abzuschätzen, übersteigt unsere Vorstellungskraft. Die Folgen eines Atomkriegs sind unfassbar und unbegreiflich: Der Unterschied von 100.000 Toten, einer Million (1.000.000) oder hundert Millionen (100.000.000) ist nicht zu erfassen. Weder kognitiv noch affektiv. »Eine kognitive Bewältigungsstrategie besteht im argumentativen Ablehnen bzw. Nicht-glauben-Wollen, dass Russland in einer Extremsituation den Ersteinsatz einer Atomwaffe wagen würde.« Haltlose Argumente werden bemüht: Putin werde keine Atomwaffen einsetzen, weil er seine wiederholten Atomwaffeneinsatzdrohungen auch bislang nicht wahr gemacht habe.
Ein Vertrauen darauf, dass die Entscheider, die Politiker, Militärs und Berater klug und weise handeln, ist historisch widerlegt, weil glückliche Umstände es verhinderten, dass Befürworter des Einsatzes von Atomwaffen sich in den Beratungen der Führungs- und Entscheidungsgremien nicht durchgesetzt haben – bisher!
»In der Nato haben die Bündnispartner die atomare Einsatzentscheidung an den amerikanischen Präsidenten übertragen«, zwar gebe es ein Konsultationsrecht, aber keine Mitentscheidung. Bedeutet: Ein existenzieller Souveränitätsverzicht.
Brigadegeneral Ganser glaubt, es sei denkbar, »dass der Impuls, Atomwaffen einzusetzen, von der militärischen Führung selbst ausgehen kann, wenn eine demütigende konventionelle strategische Niederlage absehbar ist«, oder andere Ereignisse eintreten (Angriff auf strategische Interkontinental-Raketen-Silos und Radarstationen), die Militärs oder Berater (wie den atomwaffeneinsatzbereiten Politologen Sergej Karaganow) zum Äußersten verleiten. Historische Beispiele, wie der Mitschnitt von Gesprächen in den 13 entscheidenden Tagen der Kuba-Krise 1962, die der Historiker Bernd Greiner ausgewertet hat, belegen, wie nahe am Abgrund eines Atomkrieges die Beratungen navigierten, zwischen Falken und widerstreitenden Meinungen. Man ist verblüfft, wie leichtfertig viele im Umfeld des Präsidenten Kennedy zum Äußersten bereit waren. Dasselbe passierte auf Seiten Chruschtschows, der den Abbau der Raketenbasen gegen den Willen seiner Generale anordnete. Auch im Korea-Krieg im Jahr 1951 (General MacArthur) oder in Vietnam 1968 (General Westmoreland) hatten die Oberbefehlshaber den Atomwaffeneinsatz gefordert – und wurden glücklicherweise von ihren Posten abgelöst. Der in der Kuba-Krise als Befürworter des Atomwaffeneinsatzes aufgetretene Verteidigungsminister Robert Strange McNamara sagte 15 Jahre später, dass es auf die Vermeidung nuklearer Krisensituationen ankommt, weil man solche Krisen nicht managen könne. Im Rückblick äußerte er sich in seinen Erinnerungen über Vietnam zum letztendlich glücklichen Ausgang der Kuba-Krise: »Es war Glück, es war nichts als der reine Zufall.« Und: Der Vietnamkrieg sei ein furchtbarer Irrtum gewesen.
Doch die Nato-Staaten und Russland werden wohl eine lange Zeit der Konfrontation durchmachen, so dass eine neue gesamteuropäische Sicherheitsarchitektur in weite Ferne rückt.