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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Eskalation aus Versehen?

Statt ver­ant­wor­tungs­be­wuss­tem Han­deln neh­men mili­tä­ri­sche Ver­nich­tungs­ak­tio­nen zu, Gleit­bom­ben und Marsch­flug­kör­per, Droh­nen­krieg und Cyber­an­grif­fe trei­ben Akti­on und Reak­ti­on aller Sei­ten vor­an, wie den Vor­marsch der rus­si­schen Armee vom Osten der Ukrai­ne west­wärts – hun­dert­tau­sen­de Tote und Ver­letz­te, trau­ern­de Ange­hö­ri­ge auf bei­den Sei­ten und unvor­stell­ba­re Zer­stö­rung. Im Deut­schen Bun­des­tag, von Mili­tär­ex­per­ten und einer gro­ßen Zahl von Medi­en­schaf­fen­den wird nach dem Ein­satz wei­ter­rei­chen­der Waf­fen, nach dem Ein­satz des Marsch­flug­kör­pers Tau­rus und von Rake­ten ver­langt, die tief ins Hin­ter­land der rus­si­schen Armee die Muni­ti­ons­la­ger, Waf­fen­be­stän­de und Regio­nen der stra­te­gi­schen Abschreckung Russ­lands tref­fen kön­nen, auch »aus Ver­se­hen«. Gene­rä­le, Offi­zie­re der Bun­des­wehr, der Ver­tei­di­gungs­mi­ni­ster und Abge­ord­ne­te aller Par­tei­en der Mit­te for­dern mehr Ein­satz, mehr und bes­se­re Waf­fen und Geld für Auf­rü­stung und Rüstungs­expor­te, immer dring­li­cher, je wei­ter die Ukrai­ne mit ihrer gerin­ger wer­den­den Zahl ein­satz­be­rei­ter und kampf­wil­li­ger Sol­da­ten in die Defen­si­ve gerät. Die für das Jahr 2026 vor­ge­se­he­ne Sta­tio­nie­rung von Hyper­schall­ra­ke­ten (Reich­wei­te etwa 2500 km) mit kur­zer Vor­warn­zeit und von Toma­hawks (Marsch­flug­kör­per), schwer vom Radar aus­zu­ma­chen, von der Kanz­ler-Regie­rung gebil­ligt und unter­stützt von CDU/​CSU, wir­ken bedroh­lich. Lan­ge geplan­te Aktio­nen des Westens auf die Sta­tio­nie­rung rus­si­scher Iskan­der-Rake­ten (laut Spie­gel mit einer Reich­wei­te von 500 km) in Kali­nin­grad. Putin reagiert mit erneu­ter Andro­hung von Gegen­maß­nah­men. Der Ein­satz von Atom­waf­fen wird wie­der in den Raum der umkämpf­ten Spe­ku­la­ti­on geschleu­dert. Russ­land macht den Ein­satz davon abhän­gig, was der »Angrei­fer« (der sich doch bloß »ver­tei­digt« oder zurück­schlägt?) in Russ­land anrich­tet. Er ent­schei­det mit sei­nen Bera­tern, ob es sich in sei­ner Exi­stenz bedroht sehen soll. Sie tref­fen eine Ent­schei­dung über die Art der Gegenmaßnahmen.

Die »Euro­päi­sche Sicher­heit« kehrt nach dem Zusam­men­bruch ihrer Poli­tik geschei­ter­ter Kon­flikt­lö­sungs­ver­su­che, nicht erst mit der Ukrai­ne­kri­se nach 2013/​14, zu einem Wett­kampf um ein »Gleich­ge­wicht des Schreckens« zurück, das zahl­rei­che Situa­tio­nen von »Beinahe«-Atomwaffeneinsätzen bereit­hielt. Die in Jahr­zehn­ten auf­ge­bau­te Rüstungs­kon­trol­le ist in weni­gen Jah­ren, vor­an­ge­trie­ben durch die Ver­ei­nig­ten Staa­ten von Ame­ri­ka, kol­la­biert. Risi­ken und Eska­la­ti­ons­ge­fah­ren wer­den von »Mili­tär­ex­per­ten« und »Mili­tär­ex­per­tin­nen« klein­ge­re­det und als »deut­sche Angst­psy­cho­se« lächer­lich gemacht. Aber: »Die inter­na­tio­na­le Sicher­heits­po­li­tik lässt den Grund­satz der Wech­sel­wir­kun­gen außer Acht, die durch Ket­ten von Akti­on und Reak­ti­on, mit jeweils eska­lie­ren­den oder dees­ka­lie­ren­den Fol­gen geprägt ist«, weist der ehe­ma­li­ge Bri­ga­de­ge­ne­ral Hel­mut W. Gan­ser auf eine »stra­te­gi­sche Bin­sen­weis­heit« hin, die beson­ders in Deutsch­land von vie­len »Exper­ten und Exper­tin­nen« igno­riert wird. Gan­ser fährt fort: »Es gibt kei­ne ver­läss­li­che, in jedem Fall funk­tio­nie­ren­de Abschreckung, es besteht immer das Rest­ri­si­ko von Fehl­ein­schät­zun­gen und des Ver­sa­gens der Abschreckungs­wir­kung.« Ein Dilem­ma, das sei 1945 viel­fach an Bei­spie­len histo­ri­scher Vor­komm­nis­se beschrie­ben wur­de. Befür­wor­ter der Abschreckung sehen das Nicht­ein­tre­ten des Super­g­aus (abge­se­hen von Hiro­shi­ma und Naga­sa­ki!) dage­gen als Beweis für das Nicht­ein­tre­ten einer Ver­nich­tung einer nicht fass­ba­ren gro­ßen Zahl von Men­schen. Ein nase­wei­ser Irr­tum der Denk­lo­gik! Die histo­ri­schen Fak­ten deu­ten auf Umstän­de zufäl­li­ger und glück­li­cher Ver­hin­de­rung: Die Dilem­ma­si­tua­ti­on setzt vor­aus, dass die Ver­ant­wort­li­chen immer beson­nen und kom­pro­miss­be­reit navi­gie­ren müs­sen, damit eine nuklea­re Eska­la­ti­on nicht in den Bereich des Wahr­schein­li­chen rückt. Auf Putins Bluff zu set­zen, lässt das Unwäg­ba­re, das Unvor­stell­ba­re außer Acht.

Die »Nukle­a­ri­sie­rung des mili­tär­stra­te­gi­schen Den­kens«, so Gene­ral Gan­ser, rücke auch des­we­gen in den Vor­der­grund, weil die erheb­li­chen Ver­lu­ste der rus­si­schen Armee Russ­land selbst auf Jah­re hin­aus schwä­chen wer­de, wes­halb die Atom­waf­fen kur­zer und mitt­le­rer Reich­wei­te in den Vor­der­grund rücken. Dafür sei die Sta­tio­nie­rung rus­si­scher Kern­waf­fen in Weiß­russ­land ein Indiz. Das habe eine »erwei­ter­te Abschreckung der USA und der Nato« zur Fol­ge. »Ato­ma­re Eska­la­ti­ons­kal­kü­le des Kremls wer­den dadurch kom­pli­zier­ter.« Im Nukle­ar Postu­re Review Trumps wur­de 2018 mit fle­xi­ble­ren nuklea­ren Ein­satz­op­tio­nen gerech­net, der Ein­satz von Atom­waf­fen simu­liert, nicht stra­te­gi­sche Atom­waf­fen als Kriegs­füh­rungs­waf­fen ver­stan­den. Die US-Admi­ni­stra­ti­on bestrei­tet, in Kriegs­füh­rungs­ka­te­go­rien zu den­ken, postu­liert aber, Abschreckung sei durch Inte­gra­ti­on ver­gleichs­wei­ser »klei­ner« Atom­spreng­köp­fe und Inte­gra­ti­on in den kon­ven­tio­nel­len Krieg glaub­wür­di­ger und wirk­sa­mer. Mit die­sem stra­te­gi­schen Den­ken von Tei­len der US-Admi­ni­stra­ti­on, ins­be­son­de­re im Pen­ta­gon, wird die Fest­stel­lung der Prä­si­den­ten Rea­gan und Gor­bat­schow aus dem Jah­re 1985 in Fra­ge gestellt, »dass ein Atom­krieg nicht gewon­nen wer­den kann und nie­mals geführt wer­den darf«.

Atom­waf­fen­ein­satz zu anti­zi­pie­ren, Fol­gen sol­chen Ein­sat­zes abzu­schät­zen, über­steigt unse­re Vor­stel­lungs­kraft. Die Fol­gen eines Atom­kriegs sind unfass­bar und unbe­greif­lich: Der Unter­schied von 100.000 Toten, einer Mil­li­on (1.000.000) oder hun­dert Mil­lio­nen (100.000.000) ist nicht zu erfas­sen. Weder kogni­tiv noch affek­tiv. »Eine kogni­ti­ve Bewäl­ti­gungs­stra­te­gie besteht im argu­men­ta­ti­ven Ableh­nen bzw. Nicht-glau­ben-Wol­len, dass Russ­land in einer Extrem­si­tua­ti­on den Erst­ein­satz einer Atom­waf­fe wagen wür­de.« Halt­lo­se Argu­men­te wer­den bemüht: Putin wer­de kei­ne Atom­waf­fen ein­set­zen, weil er sei­ne wie­der­hol­ten Atom­waf­fen­ein­satz­dro­hun­gen auch bis­lang nicht wahr gemacht habe.

Ein Ver­trau­en dar­auf, dass die Ent­schei­der, die Poli­ti­ker, Mili­tärs und Bera­ter klug und wei­se han­deln, ist histo­risch wider­legt, weil glück­li­che Umstän­de es ver­hin­der­ten, dass Befür­wor­ter des Ein­sat­zes von Atom­waf­fen sich in den Bera­tun­gen der Füh­rungs- und Ent­schei­dungs­gre­mi­en nicht durch­ge­setzt haben – bisher!

»In der Nato haben die Bünd­nis­part­ner die ato­ma­re Ein­satz­ent­schei­dung an den ame­ri­ka­ni­schen Prä­si­den­ten über­tra­gen«, zwar gebe es ein Kon­sul­ta­ti­ons­recht, aber kei­ne Mit­ent­schei­dung. Bedeu­tet: Ein exi­sten­zi­el­ler Souveränitätsverzicht.

Bri­ga­de­ge­ne­ral Gan­ser glaubt, es sei denk­bar, »dass der Impuls, Atom­waf­fen ein­zu­set­zen, von der mili­tä­ri­schen Füh­rung selbst aus­ge­hen kann, wenn eine demü­ti­gen­de kon­ven­tio­nel­le stra­te­gi­sche Nie­der­la­ge abseh­bar ist«, oder ande­re Ereig­nis­se ein­tre­ten (Angriff auf stra­te­gi­sche Inter­kon­ti­nen­tal-Rake­ten-Silos und Radar­sta­tio­nen), die Mili­tärs oder Bera­ter (wie den atom­waf­fen­ein­satz­be­rei­ten Poli­to­lo­gen Ser­gej Kara­ga­now) zum Äußer­sten ver­lei­ten. Histo­ri­sche Bei­spie­le, wie der Mit­schnitt von Gesprä­chen in den 13 ent­schei­den­den Tagen der Kuba-Kri­se 1962, die der Histo­ri­ker Bernd Grei­ner aus­ge­wer­tet hat, bele­gen, wie nahe am Abgrund eines Atom­krie­ges die Bera­tun­gen navi­gier­ten, zwi­schen Fal­ken und wider­strei­ten­den Mei­nun­gen. Man ist ver­blüfft, wie leicht­fer­tig vie­le im Umfeld des Prä­si­den­ten Ken­ne­dy zum Äußer­sten bereit waren. Das­sel­be pas­sier­te auf Sei­ten Chruscht­schows, der den Abbau der Rake­ten­ba­sen gegen den Wil­len sei­ner Gene­ra­le anord­ne­te. Auch im Korea-Krieg im Jahr 1951 (Gene­ral Mac­Ar­thur) oder in Viet­nam 1968 (Gene­ral West­mo­r­eland) hat­ten die Ober­be­fehls­ha­ber den Atom­waf­fen­ein­satz gefor­dert – und wur­den glück­li­cher­wei­se von ihren Posten abge­löst. Der in der Kuba-Kri­se als Befür­wor­ter des Atom­waf­fen­ein­sat­zes auf­ge­tre­te­ne Ver­tei­di­gungs­mi­ni­ster Robert Stran­ge McNa­ma­ra sag­te 15 Jah­re spä­ter, dass es auf die Ver­mei­dung nuklea­rer Kri­sen­si­tua­tio­nen ankommt, weil man sol­che Kri­sen nicht mana­gen kön­ne. Im Rück­blick äußer­te er sich in sei­nen Erin­ne­run­gen über Viet­nam zum letzt­end­lich glück­li­chen Aus­gang der Kuba-Kri­se: »Es war Glück, es war nichts als der rei­ne Zufall.« Und: Der Viet­nam­krieg sei ein furcht­ba­rer Irr­tum gewesen.

Doch die Nato-Staa­ten und Russ­land wer­den wohl eine lan­ge Zeit der Kon­fron­ta­ti­on durch­ma­chen, so dass eine neue gesamt­eu­ro­päi­sche Sicher­heits­ar­chi­tek­tur in wei­te Fer­ne rückt.