»Das Große bleibt groß nicht und das Kleine nicht klein« (B. Brecht). Erinnerungskultur bezeichnet das geschichtliche Bewusstsein, wie es sich einerseits im öffentlichen Raum darstellt oder andererseits darstellen soll. Straßennamen stellen dabei eine, wenn auch kleine, Form der Erinnerung dar, die sich z. T. auf kulturelle »Besitztümer« bezieht und z. T. zu ehrende Personen benennt, die ggf. in einem Erinnerungsraum, hier einer Stadt, eine wichtige oder interessante Rolle gespielt haben. Eine kleine Bemerkung: Leverkusen war der Name des Gründers der späteren Bayerwerke am Rhein in Wiesdorf. Die Stadt ist also fast als einziger großer industrieller Erinnerungsort anzusehen.
Viele Straßennamen werden zwar aus Verlegenheit gewählt, so etwa, wenn sich in einem Viertel etliche Vogelnamen wiederfinden. In anderen Fällen werden bedeutende Musiker genannt, so dass sich ein Wohngebiet in einer Stadt als Musikantenviertel versteht. Die Straßennamen repräsentieren insoweit gleichzeitig ein kulturelles Gedächtnis, nicht zuletzt über die mehr oder weniger bekannten Dichter wie Goethe, Schiller, Kleist. Manchmal folgen sogar noch einige Philosophen wie Kant, Hegel, Fichte.
Wenn die Erinnerung politisch wird und bedeutende Persönlichkeiten geehrt werden sollen, stehen neben Willy Brandt Namen wie Konrad Adenauer, Gustav Stresemann, Friedrich Naumann, um nur einige zu nennen. In früheren Zeiten standen hier der Kaiser Wilhelm oder Bismarck, sofern sie noch nicht geschleift wurden, was etwa aktuell in Hamburg bezüglich des Bismarck-Denkmals in Erwägung gezogen wird.
In Leverkusen wurde vom örtlichen Geschichtsverein kürzlich das Thema der Straßennamen behandelt und darauf hingewiesen, wie sich politische Umbrüche in Streichungen und Umbenennungen niederschlugen. Es kann deshalb nützlich sein, sich einige Straßen anzuschauen und zu fragen, welche Personen außer den weit über die Stadtgrenzen hinaus bekannten noch in Straßenschilder »verewigt« wurden. Eine weitergehende Frage könnte lauten, an welchen Orten sich die Straßenschilder befinden, die ohne Zweifel auch die nackte Funktion der Orientierung im Raum haben.
Ein Referent des Geschichtsvereins lenkte die Aufmerksamkeit auf Namen, die außerhalb der Bayerwerke, einem zurzeit noch hochbedeutsamen Konzern, kaum bekannt sind. In den Siedlungen, die die Firma Bayer Anfang der 20-er Jahre des vorigen Jahrhunderts bauen ließ und die kaum als Fabrikhäuser bezeichnet werden können, weil es sich um Villen und architektonisch interessante Wohnhäuser für die Angestellten der Firma handelt, angesiedelt fast in einer offenen Parklandschaft des Stadtteils Wiesdorf, wurden hochrangige Manager der Bayerwerke zu Namensgebern. Allzu viele sind es aber nicht, so dass für die Wohnstraßen mit Villencharakter zusätzlich mehr oder weniger bekannte Dichter herangezogen wurden. Zwei Namen möchte ich aber heranziehen, und zwar Fritz Haber und Karl Krekeler.
Krekeler hatte als Maschinenbauingenieur Produktionsverfahren zur Herstellung von Chemikalien großtechnisch aufbauen helfen. Er stieg in der Hierarchie auf und wurde nach seiner Pensionierung 1933 Aufsichtsratsvorsitzender des IG-Farbenkonzerns, in den die Bayerwerke 1925 eingebracht worden waren. Diesen Posten behielt er bis 1945. Der IG-Farben-Konzern wurde nach 1945 aufgelöst. (Es fand in Nürnberg 1947 ein Prozess gegen 23 leitende Mitarbeiter der IG-Farbenindustrie AG statt, von denen die meisten freigesprochen wurden.)
Fritz Haber wurde 1920 sogar mit dem Chemie-Nobelpreis international geehrt, obwohl er sein Verfahren zur Herstellung von Kunstdünger in der drängenden Zeit ab 1914 entwickelte, um die Lebensmittelbasis der deutschen Bevölkerung zu verbessern. Denn schließlich war damals noch nicht klar, ob es gelingen könne, die »Kornkammer der Ukraine« nachhaltig auszubeuten, denn der Separatfrieden mit dem Gebilde Ukraine, damals ohne feste Grenzen, wurde erst 1917 geschlossen.
Lebensmittelversorgung zu garantieren, indem die Landwirtschaft »produktiver« wird, ist sicher sehr ehrenwert. Aber Fritz Haber hatte sich freiwillig in den Dienst der obersten Heeresleitung gestellt und gilt als »Vater des Gas-Krieges«. Er experimentierte mit Phosgen und Chlorgas, gründete eine spezialisierte Gastruppe und leitete den ersten Giftgaseinsatz auf belgischen Boden n Ypern. Dabei wurden 150 Tonnen des tödlichen Gases eingesetzt, eine Menge, die ohne großtechnische Anlagen kaum hätte hergestellt werden können. Habers Ehefrau, Clara Immerwahr, hatte sich nach dem Giftgaseinsatz das Leben genommen, weil sie es mit der Verantwortung eines Wissenschaftlers für unvereinbar hielt, Giftgase hergestellt und verwendungsreif gemacht zu haben. Sie nannte es eine »Perversion der Wissenschaft«.
Wir erinnern uns, dass durch den Einsatz von Giftgas mindesten 80.000 Soldaten umgekommen sind. Zur Erinnerung an Fritz Haber steht heute noch ein Namensschild: Haberstraße in Wiesdorf.
Die Karl-Krekeler-Straße trifft sich an einer Stelle hinter dem Wiesdorfer Friedhof mit der Heinrich-Heine-Straße, die in einem Bogen als Einbahnstraße durch eine nach 1950 schnell aufgebaute Siedlung führt. Eine Villenstraße wurde dafür nicht umbenannt. Heinrich Heine »verdiente« damals sicher keinen prominenten Platz im Leverkusener Stadtgefüge. Jemand, der Liebesgedichte schrieb, die Ideologie in Deutschland kritisierte und preußische Soldaten verspottete, die in ihrem Auftreten den Stock noch ahnen ließen, mit dem sie einst geprügelt wurden, konnte nur als Feigenblatt an den letzten Rand des Stadtteils geschoben werden. Wie auch, selbst die Düsseldorfer Universität konnte Ende der 70-er Jahre nur nach langen Diskussionen als Heinrich-Heine-Universität benannt werden.
»Es wechseln die Zeiten«? Der Philosoph und Kritiker, Theodor Lessing (1872-1933), ermordet in Marienbad, hatte sich mit dem Gaskrieg auseinandergesetzt und schrieb: »Mit einer einzigen Riesenkanone lassen sich hunderttausend blumenhafte Wesen vergewaltigen. Ein neuer Krieg, mit 800 Sorten Giftgasen, mit Stratosphärenflugzeugen, Luftschiffgeschwadern voller Brisanz – und Gasbomben, die automatisch sich entladen (…), bald schon mit Atomzertrümmerung (…), das ist ein furchtbarer Zusammenbruch der Menschheit und ihrer Kultur« (aus der Biografie über Theodor Lessing von Rainer Marwedel, S. 328 ff.).
Woran erinnern wir uns also in unserer »Erinnerungskultur«, und was sollen nach dem »Zusammenbruch der Kultur« die Reste an Erinnerungsfetzen noch sagen?