Eine Sendung der ARD, das Morgenmagazin vom 5.7., bewies zum x. Mal die Ignoranz des öffentlich-rechtlichen Fernsehens gegenüber den Ostdeutschen. Es ging um das Jubiläum »100 Jahre duales Berufsausbildungssystem in Deutschland«. Wirklich in Deutschland? Die Zeit der Weimarer Republik ist in dem Bericht präsent, die Nazizeit wird behandelt, und bis zum Ende des Reports geht es dann nur noch um die BRD. Die DDR, die ein gutes, zum Teil innovatives Berufsausbildungssystem hatte, kommt nicht vor. Sie gehört zu den 100 Jahren deutsche Berufsausbildung nicht dazu. Das ist kein Ausrutscher, das ist eher die Regel der Berichterstattung. Es wird dadurch wieder einmal deutlich: Nachdem das ostdeutsche Fernsehen gegen den erklärten Willen von mehr als 88 Prozent der DDR-Bevölkerung liquidiert wurde, machen vor allem – besonders wenn man sich die Leitungsebene ansieht – Westdeutsche Fernsehen für Westdeutsche.
An demselben 5. Juli wurde auch bekannt, dass laut einer Umfrage die AfD mit 34 Prozent in Thüringen stärkste Partei wäre, deutschlandweit auf 20 Prozent käme. Ich sehe in dieser Art der Berichterstattung und dem Erfolg dieser Partei einen direkten Zusammenhang. Trotzdem bin ich mir sicher, die Öffentlich-Rechtlichen werden weiter über die Gründe des Erfolges dieser Partei spekulieren, den Zusammenhang mit ihren Berichten verkennen und ihre Hände in Unschuld waschen. Schließlich hat man Stasi und Nazis, Doping und Unrechtsstaat in allen dokumentaren und fiktionalen Facetten beleuchtet. Man wusste immer besser und genau, was sich in dem anderen deutschen Staat ereignet hat. Nämlich Stasi und Nazis, Doping und Unrechtsstaat. Mir fällt dazu Gysi ein, der gesagt hat, wenn man vielleicht nur fünf Dinge im vereinten Deutschland übernommen hätte, die progressiver waren als in der alten Bundesrepublik, wäre die Ausgangslage eine ganz andere gewesen. Die Berufsausbildung zum Beispiel hätte sich dafür gut geeignet. Aber: »Es hat uns nicht gegeben / wir waren gar nicht da«, wie Ulrich Plenzdorf treffend dichtete.
In der »edition ost« ist nun gerade ein Buch erschienen, das von vier namhaften Fernsehjournalisten verfasst wurde und sich kritisch mit dem Zustand des öffentlich-rechtlichen Fernsehens von der Wende bis heute befasst. Mit dem Überstülpen der Weststrukturen zogen Prinzipien und Haltungen ein, an denen das heutige System krankt, das oft an den Bedürfnissen der Beitragszahler vorbeisendet. Die Autoren fragen, warum die Glaubwürdigkeit des Mediums verloren ging und wann die Verwahrlosung journalistischer Grundsätze begann. Lutz Herden und Michael Schmidt sind die zwei ostdeutschen Journalisten, Luc Jochimsen übernimmt für die ARD und Wolfgang Herles für das ZDF diesen Part. Sie nennen ihr Plädoyer für eine grundlegende Reform der Strukturen und Arbeitsweisen des öffentlich-rechtlichen Fernsehens: »Der aufhaltsame Abstieg des öffentlich-rechtlichen Fernsehens: Berichte von Beteiligten«. Das Vorwort stammt von Daniela Dahn, die einige Jahre beim DDR-Fernsehen als Redakteurin gearbeitet hat. Alle sind sich darin einig, dass die Weichen 1990/91 falsch gestellt wurden. »Die restaurative Walze der westlichen Abwickler machte die angestoßene Demokratisierung zunichte«, schreibt Daniela Dahn. Die revolutionären Ansätze der Bürgerbewegung wurden genauso aufs Abstellgleis geschoben, wie das, was die Journalisten beim Fernsehen der DDR in den gut zwei Jahren freier Berichterstattung erreicht hatten. Die Sehbeteiligung des Ostfernsehens war damals höher als die von ARD und ZDF. Das war zuvor undenkbar. Aber nur 10 Prozent der Journalisten von DDR-Sendern bekamen einen Arbeitsplatz in der westlichen Rundfunklandschaft. Michael Schmidt arbeitete bis 2021 beim ndr, Lutz Herden bei der Wochenzeitschrift Freitag. Letzterer meint: »Das Ostfernsehen wie eine Schraubenfabrik dicht zu machen, das bedeutete, dem Osten kulturellen Besitzstand zu nehmen, ja, diesen vorsätzlich zu zerstören.« Ein bisher einmaliger Vorgang in der Fernsehgeschichte.
Luc Jochimsen, Chefredakteurin beim Hessischen Rundfunk erläutert u. a., wie das Politmagazin Panorama alle seine Leiter durch politischen Druck verlor. Sie selbst konnte in den Tagesthemen zum Beispiel noch ein Waffenstillstandsangebot von Slobodan Milosevic unterstützen. Danach durfte sie sich aber nie wieder zu diesem Thema äußern. Sie beschreibt, wie sich SFB-Intendant Günther von Lojewski »in heller Panik« an Wolfgang Schäuble als Verhandlungsführer des »Einigungsvertrages« gewandt habe. Es stünden »mehr als 10.000 Agitprop-geschulte und erfahrene Ossis vor den Toren Westberlins, verteidigt von nur 1400 SFBlern«. Die Folge: Der Einigungsvertrag wurde um den Artikel 36 ergänzt. Der legte fest, dass die Radio- und Fernsehanstalten der DDR bis Ende 1991 aufzulösen sind.
Wolfgang Herles, Chef des ZDF-Studios Bonn, versuchte in seiner Sendung Bonn direkt dem politischen Druck gegenzusteuern und wurde gegangen. Er führt aus: Die DDR habe sich »quasi auf Kommando zur offenen Gesellschaft wandeln sollen, und der Westen suspendierte im gleichen Augenblick die Offenheit des Diskurses«.
Michael Schmidt schreibt: »Zwischen der beherrschenden Meinung in den Medien und der herrschenden Meinung in der Bevölkerung klafft ein Riss. Während 73 % der Westdeutschen die Fernsehnachrichten generell für glaubwürdig halten, trifft das in Ostdeutschland nur auf 58 % der Befragten zu.« Das zeigt eine Studie der Konrad Adenauer Stiftung vom März 2023.
Jeder der Autoren beschreibt sein eigenes Erleben in der Fernsehwelt: die Praxis der Ausgrenzung abweichender Meinungen, den Niedergang journalistischer Kultur, die Staatsnähe, die durch die Besetzung von Intendanten, Programmdirektoren und Chefredakteuren mit parteipolitisch genehmen Kandidaten passiert, die Struktur von Rundfunk-, Programm- und anderen Beiräten, die in keiner Weise angemessen die Bevölkerung widerspiegeln. Meinungsvielfalt scheint zur Mangelware zu werden. Ob Klimapolitik, Impfpflicht und Pandemie, Willkommenskultur und Migranten oder Militärhilfe für die Ukraine, die Öffentlich-Rechtlichen verstehen sich immer öfter als Verlautbarer der offiziellen Regierungspolitik, machen sich zu Sprachrohren der Parteien, von denen sie abhängig sind.
Die Autoren dieses Buches verteidigen den Auftrag der Öffentlich-Rechtlichen, durch unabhängige und unparteiische Berichterstattung die Voraussetzungen für die eigene Urteilsbildung der Zuschauer zu schaffen.
Lutz Herden, Wolfgang Herles, Luc Jochimsen, Michael Schmidt: Der aufhaltsame Abstieg des öffentlich-rechtlichen Fernsehens: Berichte von Beteiligten, edition Ost 2023, 282 S., 20 €.