In Erinnerung an den kürzlich 97-jährig verstorbenen Antifaschisten, Zeitzeugen und Sozialisten Sally Perel gebe ich einen gemeinsamen Appell zur Kenntnis, den wir vor drei Jahren mit Esther Bejarano zusammen formuliert haben. Er ist seither ein Bezugspunkt für die Motivation zu sozialem Engagement für Weggefährtinnen und -gefährten in den sozialen Spektren.
Ein Schüler einer Essener Gesamtschule bezog sich vor einigen Jahren auf Sallys Erlebnisse in der NS-Zeit: Auf seiner Flucht vor den Nazis war er in einem sowjetischen Kinderheim gelandet, und nach dem Überfall Nazideutschlands gegen die Sowjetunion hat er durch Tarnung und Täuschung in einer Elite-Bildungseinrichtung der Hitlerjugend als Jude überlebt. Das brachte den Schüler auf die Frage, welcher Einfluss sein Denken und Handeln nachhaltiger geprägt habe. Sally antwortete, dass ihn der kommunistische Traum der solidarischen Gemeinschaft der Menschen ohne Ausbeutung und Unterdrückung, wie er auch in der Bergpredigt steht, bis heute motiviert, nicht aufzugeben. Aus dieser Haltung heraus waren wir uns einig, dass die Kräfte, die in diesem Sinne wirken, ihre Energien zusammenbringen sollten, um eine größere Aussicht auf Erfolg zu haben. Daraus entwickelten wir vor drei Jahren diesen Appell:
»Es geht um alles! – für das Zusammenwirken der sozialen Bewegungen gegen die Zerstörung der Erde.
Unser ›Nein‹ zu Kapitalismus und Gewalt entspringt einem ›Ja‹ zum Leben. Das gleichzeitige Auftreten großer Risiken macht die Gegenwart zur gefährlichsten Epoche der Menschheitsgeschichte. Das fordert von den Kräften der Veränderung eine Verstärkung ihrer Anstrengungen, gemeinsam und mutig einen Ausweg zu finden und ihn zu gehen.
Es geht um nichts weniger als die Rettung des Lebensraumes Erde. Das wird nur mit Abrüstung, mit einer internationalen Friedensordnung, mit Verhandlungen statt Erpressung, Sanktionen und Krieg sowie mit einer Sozialpolitik und ökologischer Kooperation, statt in Konkurrenz möglich sein.
Die Menschheit steht derzeit vor zahlreichen Gefahren, nicht nur vor der Gefahr eines ökologischen Absturzes. Auch die Gefahr eines Atomkrieges rückt näher. Spannungen und Rüstung verbreiten sich.
Die Nuklearforscher haben die Weltuntergangsuhr auf zwei vor Mitternacht gestellt.
Die Polarisierung der Gesellschaften steigert in Verbindung mit der zunehmenden Kluft zwischen Arm und Reich die Gefahren des Zerfalls. Egoismus zerstört Gemeinschaften. Wachstumswahn, Deregulierung und Privatisierung zeigen, dass der neoliberal entfesselte Kapitalismus unfähig ist, den Bedürfnissen der Menschen gerecht zu werden. Die Konkurrenz um Standortvorteile, um Ressourcen, Märkte und Handelswege führt vermehrt – in Verbindung mit dem Aufstieg nationalistischer Kräfte – zur wachsenden Rücksichtslosigkeit im Unrecht des Stärkeren. Wirtschaftskriege steigern weltweite Spannungen.
In Krisenzeiten spielen rechte Populisten mit wohlwollender Unterstützung einflussreicher Medien die nationale Karte und spielen benachteiligte Menschengruppen gegeneinander aus. Sündenböcke, wie einst Juden und heute Flüchtlinge, werden zu Verantwortlichen für den Zerfall des Sozialstaats und der Sicherheit abgestempelt. Um die alternativen Kräfte zu schwächen, betreiben die Herrschenden eine Kampagne zur Spaltung und De-Legitimierung der Bewegungen, die sich gegen die kapitalistische Ordnung stellen: Sie dehnen den Antisemitismus-Begriff so weit aus, dass schon die Kritik an der Politik der Regierung Israels als israelfeindlich und dadurch mit antisemitischen Mustern durchsetzt, diskreditiert wird. Teilweise gelingt es ihnen, diese Position auch in linken Spektren hoffähig zu machen.
Auf der Grundlage unserer jahrzehntelangen Erfahrungen mit Unrecht, Gewalt, Faschismus und Krieg rufen wir alle alternativen Kräfte dazu auf, sich ihrer Gemeinsamkeiten zu besinnen und sich aktiv für die Rettung des Lebensraums Erde einzusetzen. Dabei ist es wichtig, den Zusammenhang von ökologischen, friedenspolitischen, gewerkschaftlichen und demokratischen Forderungen zu sehen.
Konkrete Forderungen wie die nach einer nuklearfreien Welt, nach bezahlbarem Wohnraum und einem Mindestlohn sowie nach einem Ausstieg aus fossilen Energieträgern und nach einer konsequenten Einhaltung der Menschenrechte gewinnen ihre nachhaltige Kraft, wenn sie mit dem Ziel der Überwindung der Ursachen, die im Kapitalismus liegen, verbunden werden.
Das Zeitfenster zur Überwindung der Gefährdungen unserer Zukunft ist vielleicht nicht mehr lange offen. Diese Erkenntnis erlegt uns die Verantwortung auf, gemeinsam Prioritäten zu setzen und miteinander beharrlich, konsequent und solidarisch in diesem Sinne zu wirken.«
Nun sind Esther und Sally von uns gegangen, die Verantwortung ist auf die übergegangen, deren Weggefährten sie waren. Der Schwur von Buchenwald verbindet uns, solange er noch nicht vom Not-wendigen Erfolg gekrönt ist.
Esther Bejarano, die das Vernichtungslager als Mitglied im Mädchenorchester Auschwitz überlebte und die viele Menschen aller Generationen mit ihrer Literatur und ihrer Musik, zusammen mit der Gruppe »Microphone Mafia« bewegte und zum Engagement ermutigte, bot an, diese Worte in diesem Zusammenhang zu ergänzen: »Ich habe die Konzentrationslager Auschwitz und Ravensbrück und die Todesmärsche 1945 überlebt. Beim Siemens-Konzern musste ich mit vielen anderen schwere Zwangsarbeit leisten. Nie wieder sollte die Menschheit durch Kriege bedroht werden. Ich kann mir nichts Schlimmeres vorstellen, als dass die Erfahrung meiner Generation in Vergessenheit gerät. Dann wären alle Opfer des Faschismus und des Krieges, alles, was wir erlitten haben, umsonst gewesen. Aber ihr seid da. Wir bauen auf euch. Ich vertraue euch, liebe Freundinnen und Freunde! Eine bessere Welt ist möglich!« Eure Esther Bejarano
Es kann am ehesten gelingen, dieses Vertrauen zu rechtfertigen, wenn sich die Bewegungen für die Zukunft des Lebens auf ihre Gemeinsamkeiten besinnen und ihr Engagement für diese andere Welt mit dem langen Atem entfalten, den wir von den Widerstandskämpferinnen und -kämpfern lernen können. Sally Perel betonte: »Gib niemals auf!«