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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Erschöpfung

»Umfra­ge: Mehr­heit der Deut­schen fin­det alle Par­tei­en inkom­pe­tent«, titel­ten Zei­tun­gen im Juli. Der FDP trau­ten drei Pro­zent kom­pe­ten­ten Umgang mit den drän­gen­den Pro­ble­men des Lan­des zu, Grü­ne und AfD lagen bei acht Pro­zent, SPD bei zehn; die CDU als stärk­ste Par­tei kam gera­de mal auf zwölf Pro­zent. Inkom­pe­tent? Nein. Die »Volks­ver­tre­ter« igno­rie­ren, wer ihr Auf­trag­ge­ber ist und wes­sen Inter­es­sen sie zu ver­tre­ten haben.

Wenn das Volk sei­nen Poli­ti­ke­rin­nen und Poli­ti­kern – ob Baer­bock, Scholz, Merz oder Lind­ner – »aufs Maul schaut« und sie nach ihren Taten beur­teilt, erkennt es, dass die­se sich nicht den Bedürf­nis­sen und Inter­es­sen der Men­schen, die arbei­ten, um Geld zum Leben zu haben, ver­pflich­tet füh­len: »Men­schen, die kei­ne Unter­neh­mens­an­tei­le hal­ten, über kei­ne Miets­häu­ser ver­fü­gen, kei­ne Erb­schaf­ten erwar­ten. Men­schen, für die es heißt: Net­to­ein­kom­men gleich Monats­bud­get« (Julia Fried­richs). Und auch nicht dem Wil­len der Bür­ger, die Frie­dens­ver­hand­lun­gen statt Leo­pard 2, Streu­bom­ben, F-16-Kampf­flug­zeu­gen, Marsch­flug­kör­pern oder ande­ren »Game­ch­an­gern« (um wes­sen Spiel geht es eigent­lich?) für die Ukrai­ne for­dern. Stö­ren­de Frie­dens­ak­ti­vi­sten nann­te Bun­des­kanz­ler Scholz bei einem Auf­tritt auf dem Münch­ner Mari­en­platz mit abfäl­li­gem Sar­kas­mus »gefal­le­ne Engel, die aus der Höl­le kommen«.

Für die Polit­funk­tio­nä­re wird Will­fäh­rig­keit gegen­über Kapi­tal­in­ter­es­sen der USA zur Staats­rä­son. Sie erklä­ren teu­res US-Frack­ing­gas eben­so zum not­wen­di­gen Teil des Kamp­fes für Kli­ma­schutz wie Blut­koh­le aus Kolum­bi­en; die Ermitt­lun­gen zum Ter­ror­akt gegen Nord Stream 2 blei­ben Staats­ge­heim­nis. Chi­na mutiert von unse­rer ver­län­ger­ten Werk­bank zum Haupt­feind, also schicken sie deut­sche Kriegs­schif­fe dort­hin. In wes­sen Inter­es­se, in wes­sen Auf­trag? Die­se Poli­ti­ker haben es nicht nötig zu erklä­ren, war­um Deutsch­land Kriegs­par­tei sein und war­um »die Ukrai­ne die­sen Krieg gewin­nen muss« (Finanz­mi­ni­ster Lind­ner) – das besorgt unse­re fünf­te Waf­fen­gat­tung, die Kriegs­pro­pa­gan­da der frei­en Leit­me­di­en in ihrer »frei­wil­li­gen Selbst­gleich­schal­tung« (Andre­as Zumach).

Ist das Pole­mik? Laut Deutsch­land­trend for­der­ten im Juli nur 14 Pro­zent der Deut­schen mehr Waf­fen für die Ukrai­ne. Sie sagen, die wich­tig­ste Auf­ga­be des Staa­tes sei die sozia­le Gerech­tig­keit in der Gesell­schaft. Nach einer For­sa-Umfra­ge für den Deut­schen Beam­ten­bund hal­ten nur 27 Pro­zent der Befrag­ten den Staat für fähig, sei­ne Auf­ga­ben zu erfül­len. Das Anse­hen der Poli­ti­ke­rIn­nen erreicht mit 14 Pro­zent Zustim­mung einen Tief­punkt. Sogar im rei­chen Baden-Würt­tem­berg meint nur ein knap­pes Vier­tel der Bevöl­ke­rung, dass die grün-schwar­ze Lan­des­re­gie­rung ihrer Auf­ga­be gerecht wird. Das Ver­trau­en in die »Zukunfts­kom­pe­tenz« aller im Land­tag ver­tre­te­nen Par­tei­en düm­pelt zwi­schen 19 (Grü­ne) und sechs Pro­zent (FDP).

In wes­sen Namen han­delt also die Polit­eli­te? Die Zuver­sicht, dass Bun­des­re­gie­rung und Par­tei­en drän­gen­de, exi­sten­zi­el­le Pro­ble­me im Inter­es­se der Bevöl­ke­rung lösen, strebt einem gefähr­li­chen Mini­mum zu. Ob Gesund­heits­ver­sor­gung, bezahl­ba­re Woh­nun­gen, siche­re Ren­te, sozia­le Gerech­tig­keit oder Kriegs­ge­fahr und Kli­ma­ka­ta­stro­phe – bei kei­nem The­ma ist bei den Men­schen Opti­mis­mus fest­zu­stel­len. Sozia­ler Zusam­men­halt, Zukunfts­per­spek­ti­ve jun­ger Leu­te? So gut wie kei­ne Zuver­sicht zu spü­ren. Was macht der Krieg, die pro­pa­gan­di­sti­sche Bericht­erstat­tung, die Ver­wei­ge­rung und Des­avou­ie­rung jeder Frie­dens­in­itia­ti­ve mit uns? In Ver­bin­dung mit der eige­nen poli­ti­schen Ohn­macht ent­steht bei einer brei­ten Mehr­heit nicht nur Angst wegen der zuneh­mend pre­kä­ren wirt­schaft­li­chen Lage, son­dern auch eine Stim­mung, die von Sozi­al­wis­sen­schaf­ten als »Erschöp­fung« beschrie­ben wird.

Für die­se Dia­gno­se häu­fen sich die Hin­wei­se. Ein »dif­fu­ses Grund­ge­fühl der Bedro­hung und End­zeit­stim­mung« stellt eine reprä­sen­ta­ti­ve Stu­die des Rhein­gold-Insti­tuts fest. Denn die Bedro­hung ist ja durch­aus real, und wenn man die Tages­nach­rich­ten ver­folgt, ver­spürt trotz kraft­rau­ben­der Ver­drän­gungs­ver­su­che kaum jemand Zuver­sicht – zumal kein Licht am Ende des Tun­nels auf­scheint. Laut einer Befra­gung jun­ger Leu­te in sie­ben gro­ßen euro­päi­schen Län­dern glau­ben nur 22 Pro­zent, dass es ihnen ein­mal bes­ser gehen könn­te als ihren Eltern. Coro­na, Krieg, wirt­schaft­li­cher Abstieg, ver­bun­den mit Ohn­machts­ge­fühl: Man hat kei­nen Ein­fluss auf die Poli­tik und den Marsch in die Kata­stro­phen. Der Sozi­al­wis­sen­schaft­ler Klaus Hur­rel­mann meint, die gan­ze Gesell­schaft lei­de gleich­sam an einer post­trau­ma­ti­schen Bela­stungs­stö­rung. Es scheint, als hät­te die Emp­feh­lung der US-ame­ri­ka­ni­schen Denk­fa­brik Rand Cor­po­ra­ti­on von 2019, Russ­land durch »Over­ex­ten­ding and Unba­lan­cing« zu rui­nie­ren und in die Knie zu zwin­gen, in einem ganz ande­ren Sinn Deutsch­land und die EU getrof­fen: Vie­le Men­schen sind erschöpft und see­lisch desta­bi­li­siert und damit offen für radi­ka­le (Schein)Lösungen von rechts.

Bei jun­gen Leu­ten stel­len Fach­un­ter­su­chun­gen eine mas­si­ve Zunah­me von schwe­ren Äng­sten und Depres­sio­nen fest. Die Grund­la­gen dafür wur­den schon in der Coro­na-Zeit gelegt, durch Schul­schlie­ßun­gen und Iso­la­ti­on unter tota­ler Ver­nach­läs­si­gung der psy­cho­so­zia­len Kon­se­quen­zen. Und es ist über­haupt nicht abzu­se­hen, dass die Koali­ti­on bereit und in der Lage wäre, statt Akti­en­ren­te, Ent­la­stung für Kon­zer­ne und irr­sin­ni­gen Sum­men für Auf­rü­stung Per­spek­ti­ven für Frie­den und zufrie­den­stel­len­de Lebens­be­din­gun­gen für alle zu schaffen.

Weiß die Wis­sen­schaft die Lösung? Hilf­los anmu­ten­de Emp­feh­lun­gen von Psy­cho­lo­gen ver­mit­teln mit­nich­ten Grund zu Opti­mis­mus: Mehr gemein­sa­me, posi­ti­ve Zie­le defi­nie­ren, mehr Wir-Gefühl ent­wickeln, gro­ße Erzäh­lun­gen fin­den. Das klingt so sub­stanz­los wie die Rede des Bun­des­prä­si­den­ten in Her­ren­chiem­see oder die Wumms- und Ruck-Appel­le der Polit­ka­der. Aber auch auf Ana­ly­sen basie­ren­de Vor­schlä­ge zur Ver­bes­se­rung der wirt­schaft­li­chen und gesell­schaft­li­chen Lage las­sen kei­ne Lösung erken­nen. Blo­ße Mah­nun­gen und For­de­run­gen an die Koali­ti­on: dem Och­sen ins Horn gepf­etzt. Die­se Poli­tik lei­det nicht an Ideen­lo­sig­keit und Man­gel an Vor­stel­lun­gen, son­dern am feh­len­den Wil­len, etwas für die Leu­te zu tun, deren Wohl zu för­dern sie geschwo­ren haben.

Wer vor­gibt, schnel­le Lösun­gen für die dro­hen­den Kata­stro­phen zu bie­ten, ist ein Schar­la­tan. Den­noch soll­ten wir wenig­stens Ori­en­tie­rungs­punk­te zur Schaf­fung einer Welt­ord­nung ent­wickeln, in der ein gutes Leben für alle mög­lich ist. Viel­leicht könn­ten fol­gen­de Grund­sät­ze eine Basis für gemein­sa­me, soli­da­ri­sche Aktio­nen bieten:

Krieg ist nie die Lösung und nie alternativlos.

Die UN-Char­ta gilt es umzu­set­zen, nicht die »regel­ba­sier­te Welt­ord­nung« als Vor­herr­schaft des Westens.

Euro­pa muss sich demo­kra­ti­sie­ren und vom Welt­herr­scher USA emanzipieren.

Statt Poli­tik im Inter­es­se des Kapi­tals muss eine neue außer­par­la­men­ta­ri­sche Oppo­si­ti­on eine für die Bevöl­ke­rung durchsetzen.

BRICS und Län­der des glo­ba­len Südens sind in die­sem Pro­zess Verbündete.