Zugegeben, die Überschrift klingt veraltet und sollte nach Meinung maßgeblicher deutscher Politiker/innen nur Demonstrierenden auf dem Roten Platz in Moskau, dem Maidan in Kiew oder dem Tiananmen in Peking zugerufen werden. Denn wir »haben« ja die Menschenrechte, feiern sie auch angemessen würdevoll, etwa zum 75. Jahrestag der Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte am 10. Dezember. Renata Alt (FDP), Vorsitzende des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe, sieht entsprechend die höchste Priorität darin, die Menschenrechtslage in anderen Staaten zu verbessern – »gemeinsam mit Partnerländern, die unsere Werte teilen«. Unsere »wertegeleitete Außenpolitik« müsse sich den »barbarischen Kriegsverbrechen Russlands«, der Lage im Iran und dem »grausamen Hamas-Angriff auf Israel« widmen.
Dieser Lagebeurteilung gemäß muss Deutschland mit seiner wertegeleiteten Politik zusammen mit den Wertepartnern die Menschenrechte dafür nutzen, sie unseren Feinden vorzuhalten oder aufzuzwingen – notfalls auch mit Gewalt. Schwer erträglich, diese neokoloniale Weltsicht. Kontrastieren wir sie mit der Weihnachtspredigt von Munther Isaac, dem Pfarrer der evangelisch-lutherischen Kirche in Bethlehem. Er klagt die Führer der sogenannten freien Welt an, »grünes Licht für diesen Völkermord an einer gefangenen Bevölkerung (in Gaza) gegeben« zu haben und schließt: »Ich will nie wieder hören, dass ihr uns über die Menschenrechte oder über das internationale Recht belehrt.«
Anscheinend gibt es eine grundsätzliche Diskrepanz zwischen der Selbsteinschätzung (oder -inszenierung) des Wertewestens und Menschen, die von seiner Politik betroffen sind. Selbst im UN-Menschenrechtsrat musste Deutschland im November beim Thema Verwirklichung der Menschenrechte Kritik einstecken. Es bekam die Hausaufgabe (eine Formulierung, die deutsche Politiker/innen gern gegen andere verwenden), den – teilweise institutionellen – Rassismus im Land stärker zu bekämpfen. Beanstandet hat der Rat ferner das Verbot pro-palästinensischer Demonstrationen und die mangelnde Umsetzung der Konvention zur Prävention und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen. Zuvor hatten bereits Menschenrechtsorganisationen eine ganze Reihe von Themen vorgelegt, bei denen die Bundesrepublik den eigenen Ansprüchen zuwiderhandelt: bei der Behandlung von Flüchtlingen, der rasant steigenden Armut, dem Schutz der Versammlungsfreiheit, bei Polizeigewalt, Racial Profiling und einigen anderen »Sicherheits«-Maßnahmen.
Der Zustand der Menschenrechte in Deutschland krankt aber nicht nur an der mangelnden Umsetzung einzelner Rechte. Systematische Fehldeutungen und absichtsvolle propagandistische Tricks verhindern, dass Menschen ihre Rechte wahrnehmen können:
- In der öffentlichen Darstellung dominieren die politischen und bürgerlichen Rechte, die aber nur einen Teil der Menschenrechte darstellen. Während nicht einmal diese voll umgesetzt sind, in manchen Bereichen wie der menschenverachtenden, tödlichen Flüchtlingsabwehr sogar total missachtet werden, finden die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte meist keine Beachtung und müssen gegen den Staat durchgesetzt werden. Die UN-Kinderrechtskonvention – formal kein Teil der Menschenrechte, aber von allen Staaten bis auf die USA unterzeichnet – bleibt ein blinder Fleck der Politik.
- Zu Recht werden Folter, Diskriminierung, Unterdrückung der Pressefreiheit, die Verhaftung politischer Gegner etc. in autoritär regierten Ländern angeprangert. Die Kritik bleibt aber einseitig und selektiv angesichts der bekannten Verbrechen im eigenen Lager: Guantanamo, Assange, Palästina, Rassismus in den USA. Systematisch ausgeblendet bleiben Themen der Ausbeutung von Menschen, Machtmissbrauch der Konzerne, Manipulation in Medien, ungerechte Handelsverträge, tödliche Wirtschaftssanktionen gegen unliebsame Länder und vieles mehr. Sie kosten Millionen von Menschen das Leben, schaffen Elend und verhindern die Wahrnehmung von Rechten, gelten aber selbst keineswegs als Menschenrechtsverletzung.
- Suggeriert wird, in den westlichen Demokratien hätten alle Menschen dieselben Rechte. Formal stimmt das. Was sind aber diese wert, wenn sie nicht realisiert werden können, weil die Bedingungen dafür nicht geschaffen werden? Was hat ein Kind aus einer armen Familie von seinem Recht auf Gesundheit, Bildung und freie Entfaltung der Persönlichkeit, wenn all dies real systematisch verhindert wird? Was hat die Bevölkerung von Pressefreiheit, wenn die Leitmedien zum Sprachrohr einer militarisierten Regierungspolitik degenerieren? Wenn kritische Äußerungen gegen die »Staatsräson« gecancelt werden? Wenn Uranmunition und Phosphorbomben an Wertepartner geliefert und von diesen auch eingesetzt werden?
Es ist billig und heuchlerisch, in anderen Ländern die Verletzung der Menschenrechte anzuprangern, solange die beschworenen gemeinsamen Werte darin bestehen, einem Wirtschaftssystem zu huldigen, das auf Ausbeutung von Mensch und Natur aufbaut und systematische Ungleichheit züchtet; solange »wir« für strategische Hegemonie Kriege führen, um dann Politiker wie Henry Kissinger zu ehren, der nach Schätzungen vier Millionen Menschen auf dem Gewissen hat; solange »wir« zehntausende Menschen im Mittelmeer einen qualvollen Tod sterben lassen, denen »wir« vorher die Menschenrechte geraubt und die Überlebenschancen genommen haben.
Gewiss gibt die Lage der Menschenrechte in vielen Regionen der Welt Anlass zu Kritik. Aber Vorsicht mit überheblichen Mahnungen oder gar Drohungen mit imperialem Gehabe. Wie hätten sich die Verhältnisse im Iran entwickelt, hätten die Geheimdienste der USA und von Großbritannien nicht den demokratisch gewählten Präsidenten Mossadegh gestürzt und den Schah installiert? Können wir im Brustton der moralischen Überlegenheit Kuba, Venezuela, Vietnam, Kambodscha, DR Kongo oder Niger wegen Menschenrechtsverstößen verurteilen, ohne unsere eigene Urheberschaft an kritikwürdigen Entwicklungen zu sehen? Ging es im Krieg gegen Irak, Libyen oder auf dem Maidan um Menschenrechte oder um die Sicherung imperialer Interessen? Kaum ein Land in Afrika, Südamerika, im Nahen Osten oder in Südostasien, wo nicht mörderische Gewalt, unsere Gewalt, gewütet hätte.
Nein, wir sind nicht die Guten. Die Menschenrechte sind eine Basis für eine humanere Welt – wenn man sie verwirklicht. Deutschland und der »Wertewesten« behandelt sie aber als Waffe, quasi als Standortfaktor im Propagandakrieg. Ist es verwunderlich, wenn der globale Süden eine andere Sicht hat auf die Beherrscher der Welt, die ihm brutale, menschenverachtende Ausbeutung, Sklaverei und Kolonialismus, rassistische Verachtung und Kriege gebracht haben? Wie würde die Welt aussehen ohne die Hybris und Gewalt aus den Staaten, die sich jetzt als moralische Instanz für die Welt aufspielen?
María do Mar Castro Varela und Nikita Dhawan haben einen Beitrag für die Bundeszentrale für politische Bildung verfasst: »Die Universalität der Menschenrechte überdenken«. Sie weisen darauf hin, dass zu Beginn des 20. Jahrhunderts 85 Prozent der Welt europäischer Gewalt unterworfen war. Der verlogene Vorwand der gewaltsamen Unterwerfung der Menschen: Durchführung einer Zivilisationsmission. All die Verbrechen gegen die Menschlichkeit seitens Europas hindern es nicht daran, die Länder anzuklagen, die es »zivilisiert« hat – und dort auch mit Gewalt einzugreifen: legitimierter Imperialismus. »Viele Menschenrechtsverletzungen sind auch Resultate von Strukturanpassungsprogrammen, die von den gleichen Geldgebern begleitet werden, die sich für die Menschenrechte einsetzen. Dass Staaten spezifische Rechte missachten, (…) ist häufig schlicht Folge einer neoliberalen Strukturanpassungspolitik. Die ›Politik des Helfens‹ verdeckt ökonomische und geopolitische Interessen, während die hegemonialen Menschenrechtsdiskurse dem Globalen Norden als Rechtfertigung dienen, um im Globalen Süden einzugreifen.«
Die »Zeitenwende« baut auf militärische Gewalt und strebt nach geopolitischer Hegemonie. Zeit für eine Internationale, die global das Menschenrecht erkämpft.