Wir verlegen Stolpersteine, wir begehen Jahrestage, wir besuchen Gedenkstätten, wir veranstalten antifaschistische Stadtrundgänge. Alles, um die Erinnerung wach zu halten. Erinnern ist eine wichtige Aufgabe, finden wir.
Wir wollen nicht in Vergessenheit geraten lassen, was andere in der Vergangenheit getan haben. Damit es nie wieder passiert. Fragen wir uns auch manchmal, wie in zwanzig oder dreißig Jahren unsere eigene Erinnerung aussehen wird? Wird es eine gute Erinnerung sein, mit der wir zufrieden, auf die wir vielleicht sogar ein wenig stolz sein können? Oder eine quälende, die uns wie eine Würgeschlange den Brustkorb zuschnürt und den Atem nimmt?
In ihrem Ein-Mann-Theaterstück »Zigeuner-Boxer« stellt Rike Reiniger solche Fragen. Das ganze Stück besteht aus einem Monolog, mit dem sich der Darsteller an das Publikum wendet. Historischer Aufhänger ist das Schicksal des deutschen Boxers Johann Wilhelm Trollmann, genannt »Rukeli« (1907 – 1944). Weil er Sinto war, durfte er 1928 nicht an der Olympiade in Amsterdam teilnehmen. Als er 1933 bei den deutschen Meisterschaften im Halbschwergewicht siegte, wurde ihm der Titel vom Deutschen Boxverband aberkannt. Er habe »undeutsch« geboxt, hieß es. 1944 wurde Trollmann im Außenlager Wittenberge des KZ Neuengamme von einem Kapo erschlagen, der es nicht ertragen konnte, dass er bei einem erzwungenen Boxkampf gegen den »Zigeuner« verloren hatte.
Aber nicht der reale Trollmann spricht zu uns in Reinigers Stück, sondern sein fiktiver Freund Hans. Der wird von quälenden Erinnerungen geplagt, die er loswerden will. Vergeblich. Niemand will sie haben.
Ein Sinto für Deutschland?
Hans und »Ruki« sind beide in ärmlichen Verhältnissen (»in der Altstadt«) aufgewachsen. Die Kinder dort sind sich alle zum Verwechseln ähnlich: »mager, dreckig, struppige Haare, schlechte Zähne und geflickte Hosen von den älteren Geschwistern«. Die Sinti-Kinder unterscheiden sich nur durch die dunklere Tönung ihrer Haut und ihre schwarzen Haare. Als die eigene Familie Hans› zwölften Geburtstag vergessen hat und er ohne Frühstück zur Schule gehen muss, schenkt ihm Ruki, dem er an diesem Tag zum ersten Mal begegnet, einen Apfel: Solidarität. Nicht einmal daran möchte sich Hans im Nachhinein erinnern, zu sehr schämt er sich seines späteren unsolidarischen Verhaltens.
Die Jungs verlieren sich zunächst aus den Augen, treffen sich nach Jahren wieder und werden Freunde. Beide boxen, Ruki qualifiziert sich für die Olympiade. Als sein Name auf der Teilnehmerliste gestrichen und durch einen anderen ersetzt wird, nimmt Hans das widerspruchslos hin. Einer wie Ruki als Vertreter Deutschlands bei den Spielen? Für Hans keine ernst gemeinte Frage. Und überhaupt: »Die Chefs der Boxverbände treffen solche Entscheidungen. Denen kann jemand wie ich nicht reinreden.«
Den eigenen Entschuldigungen möchte Hans gern glauben, aber noch nach so vielen Jahren erinnert er sich genau an den Blick, den ihm Ruki zuwarf, »als ob er auf etwas warte. Aber gesagt hat er auch nichts.«
Ein Abschied
Als Ruki nach Berlin zieht, ruft Hans dem scheidenden Freund zu: »Mach›s gut, Zigeuner-Boxer!« Der weist ihn zurecht: »Mach›s auch gut, Hans! Im Übrigen heiße ich Wilhelm Weiss. Meine Freunde nennen mich Ruki. Zigeuner nennen sie mich nicht.« Ein belangloser Vorfall? Hans spürt, dass die Freundschaft in Gefahr ist. Er ist wütend, nicht auf sich selbst und seine gedankenlose Nachplapperei, sondern auf die Zeitungsleute, die vom Verein, die Zuschauer, die Ruki den Namen »Zigeuner-Boxer« gegeben hatten. Er redet sich die Sache schön: »Zigeuner war kein Schimpfwort. Für mich nicht.« Er bewunderte Ruki doch. Aber er hatte sich noch nie gefragt, »warum Ruki für einen Moment aufhörte zu lächeln, wenn man ihm Zigeuner-Boxer zurief«. Und es war ihm »nicht in den Sinn gekommen, dass die Leute da draußen etwas anderes meinen könnten, wenn sie Zigeuner sagten. Etwas anderes als ich. Vielleicht etwas, das man nicht hören möchte, wenn man Zigeuner ist.«
Die Überlegenheit der arischen Rasse
Hans erinnert sich an weitere Episoden, die er gern ungeschehen machen würde: So hatte er zum Beispiel alle Zeitungsartikel über Rukis – meist erfolgreiche – Boxkämpfe in Berlin gesammelt und im Boxclub aufgehängt. Als er merkte, dass jemand sie entfernte, fand er plötzlich »keine Zeit« mehr dafür: »Nun ja. Anscheinend wollte jemand die Berichte dort sowieso nicht hängen haben.«
Dann der Besuch von Ruki in seiner Heimatstadt. In einem Lokal wurde er von SA-Schlägern angegriffen. Er wehrte sich. Die SA-Leute zertrümmerten die Einrichtung. Ruki wurde vom Inhaber des Lokals höflich gebeten, künftig anderswo einzukehren. Und Hans hat auch dazu geschwiegen. Unwillkürlich dachte er, dass der Lokalbesitzer »aus seiner Sicht« doch recht damit hatte, Ruki und seine Clique rauszuschmeißen.
Nachdem sich Hans schon in harmloseren Situationen nicht solidarisch an Rukis Seite gestellt hat, wagt er das auch nicht, als dem Freund der deutsche Meistertitel 1933 aberkannt wird. Kurz darauf wird dem Sinto die Boxlizenz entzogen. Vorher findet ein letzter Kampf statt, die Überlegenheit der »arischen Rasse« auch beim Boxen soll endgültig bewiesen werden. Freilich wird der arischen Überlegenheit auf drastische Weise nachgeholfen. Alles, was dem Sinto als »undeutsch« angekreidet worden war – seine Schnelligkeit und Beweglichkeit, seine intelligente Taktik, seine Art, anzutäuschen und auszuweichen – ist ihm verboten. Trollmann weiß, dass seine Lage aussichtslos ist. Er greift seine Gegner auf anderer Ebene an: »Vor dem Kampf lief Ruki in SA-Uniform durch den Saal. In den Ring stieg er mit Haaren blond gefärbt, mit Haut von Mehl weiß bestäubt. Die Leute lachten. Ein deutscher Boxer.« Er »stellte sich in die Mitte des Rings und tat nichts. Täuschte nicht an, wich nicht aus. Der Gegner stutzte, schlug einmal. Nichts. Er schlug wieder. Wieder nichts. Ruki stand im Ring und ließ sich zusammenschlagen.« Der Sieg des Ariers war nichts wert. Das Publikum feierte Ruki. »Niemals gab es einen größeren Sieg! … Mit diesem Knock-Out ist er zum größten Boxer aller Zeiten geworden.«
Was er selbst in diesem Moment getan hat, verschweigt Hans. Er will auch nichts mehr sagen über alles, was danach geschah. Ende der Erinnerung!
Aber es geht nicht. Die Erinnerungen sind da und müssen ans Tageslicht, will er nicht daran ersticken. Erinnerungsgerümpel. Niemand will es haben
Die letzte Erinnerung spielt im KZ, wo beide inhaftiert sind. Anders als in der realen Vergangenheit, wird in Rike Reinigers Theaterstück Trollmann nicht von einem Kapo erschlagen, sondern auf Befehl eines SS-Mannes aus der Wachmannschaft von Hans erschossen. Der hat sich vorgenommen, zu überleben, und ist dafür zu allem bereit. »Tausend Jahre hab ich überstanden«, sagt er am Schluss, aber einen neuen Anfang hat es nicht gegeben. Das Ende? »Ich hab gedacht, vielleicht kann jemand von euch meine Erinnerung gebrauchen. Dann bin ich sie los. So wie die Leute das Gerümpel aus ihren Kellern loswerden.«
Bei der Aufführung des »Zigeuner-Boxer« am 5. September im Zirkuszelt am Baltersberg bei Ravensburg (mit Alex Nies als Hans in einer Inszenierung des Stadttheaters Ravensburg, Regie: Emrah Elciboga) wollte niemand die Erinnerungen von Hans haben.
In München wird der »Zigeuner-Boxer« am 29. und 30. Oktober jeweils um 19 und 21 Uhr in der Pasinger Fabrik aufgeführt (tollhaus theater compagnie, Regie: Ulrike Auras. Es spielt: Christian Auras). Kartenvorbestellung: Telefon 089-8292 9079 / Di – So, 17.30 – 20.30 Uhr. Zitate aus: Rike Reiniger, Zigeuner-Boxer – Monolog. Interview (mit Trollmanns Tochter Rita). Chronologie, KLAK Verlag 2015, 62 Seiten, 9,90 €