Es wird viel und häufig und sehr kontrovers über Migranten und Geflüchtete geredet – aber viel zu wenig reden wir mit ihnen. Viel zu selten lesen wir Authentisches über ihre Schicksale in ihren Herkunftsländern und auf der Flucht, über ihre Situation und Nöte hierzulande, über ihre Hoffnungen und Lebensziele.
In dem soziokulturellen Projekt »Bremer Kultur ohne Grenzen« (Konzept: Cristina Collao), auf das sich Alvaro Solars Buch »Grenzenlose Hoffnung. Erinnerungen in Zeiten der Flucht« stützt, wird mit den Mitteln des biografischen Theaters diesem Manko entgegengewirkt: Hier können sich die Teilnehmenden ein wenig öffnen, hier kommt Verdrängtes zaghaft ans Licht, hier kommen die Betroffenen aus unterschiedlichen Ländern endlich selbst zu Wort. Ein mitunter recht schwieriger Prozess, in dem manche sich verlieren und wiederfinden, in dem andere sich von Ängsten befreien, stärken und emanzipieren und ihren ehedem unterdrückten Phantasien freien Lauf lassen.
Das Buch ist aus dem biografischen Theaterprojekt des Ensembles »Theater Aber Andersrum« (Bremen) hervorgegangen. Die Gründer des Ensembles, Cristina Collao und Alvaro Solar, begannen bereits im Jahr 2015, biografische Theater-Workshops zu veranstalten – zunächst in Chile, in der Stadt Valparaíso, wo sie zum Thema »Die noch zu realisierende Reise« einen Workshop für junge Schauspielerinnen und Schauspieler aus Chile, Peru und Frankreich durchführten.
Ausgehend von dieser Erfahrung und davon inspiriert beschlossen sie, eine sozio-kulturell-künstlerische Antwort auf die globale »Migrationskrise« zu geben, wie sie ab 2015 die politische Debatte dominierte, die Bevölkerung hierzulande und in ganz Europa beschäftigte und die Gemüter erhitzte. Zurück in der Bundesrepublik begannen sie in Bremen, kostenlose biografische Theater-Workshops anzubieten, darin unmittelbar mit Geflüchteten und Migranten zusammenzuarbeiten und Erkundungen mit der Methode des biografischen Theaters durchzuführen.
An den Workshops nahmen Jugendliche und Erwachsene von 16 bis 80 Jahren teil, Frauen und Männer aus Syrien, Afghanistan, Eritrea, der Türkei, Ghana, Ägypten, Albanien, Serbien, Kamerun, Irak, Iran und so weiter, aber auch junge Erwachsene aus Deutschland oder hier mit Migrationshintergrund geborene Menschen. Nach mehr als zwanzig solcher Zusammenkünfte werden nun die aufschlussreichen, oft erschütternden und spannenden Ergebnisse aus diesen Workshops erstmals veröffentlicht. Alvaro Solar und Cristina Collao beschreiben Arbeitsweise und Methode des biografischen Theaters so: »Die in diesem Buch präsentierten Geschichten sind mithilfe von Theaterübungen entstanden, die die Erinnerungen stimulieren und die durch intime Betrachtung der eigenen Persönlichkeit den Weg eröffnen, ohne Angst Episoden aus dem eigenen Leben erzählen zu können. Yoga, Körpertraining und Theaterübungen werden während des Workshops mit Rhythmusübungen kombiniert, um psychische Blockaden zu lösen, Ängste zu überwinden und Verdrängtes wiederzuentdecken, die Vorstellungskraft zu entwickeln und das Gedächtnis zu wecken.«
Am Ende der Workshops, die jeweils zwölf Tage dauern, ist jeder und jede in der Lage, sich so weit zu öffnen, um eine kurze persönliche Geschichte zu erzählen, die aus seiner beziehungsweise ihrer eigenen Lebenserfahrung resultiert. Die Teilnehmenden erzählten diese Geschichten am letzten Tag des Workshops in einer öffentlichen »Werkschau« – entweder auf Deutsch oder in ihrer Muttersprache mit paralleler Übersetzung.
»Grenzenlose Hoffnung. Erinnerungen in Zeiten der Flucht« versammelt 55 solcher biografischer Erzählungen aus den Erinnerungen der Workshop-Teilnehmenden. Es dokumentiert damit die vielschichtigen Resultate des Theaterprojekts – dramaturgisch bearbeitet, umgesetzt und herausgegeben von dem chilenisch-deutschen Theaterregisseur und Schauspieler Alvaro Solar. Die chilenische Künstlerin Cristina Collao hat das Buch mit 21 Grafiken illustriert und bereichert, die anlässlich der biografischen Erzählungen entstanden sind und diese ergänzen.
Inhaltlich hält das Buch die häufig so durcheinandergewirbelten und widrigen Lebensgeschichten der geflüchteten Protagonisten fest: persönliche Geschichten aus ihren Ursprungsländern, über Kindheit und Familie, Arbeit und Leben, ihre Fluchterlebnisse und über all die Schwierigkeiten, hierzulande Fuß zu fassen, sich einzubringen und anerkannt zu werden. Aber eben auch, und das steht häufig im Vordergrund, Erzählungen über Sehnsüchte, Wünsche und Lebensziele – mit all ihren Widersprüchlichkeiten und Zweifeln.
Es lohnt sich, auch zwischen den Zeilen zu lesen, um zu erahnen, weshalb über gewisse Prägungen, Erfahrungen und Konflikte nicht oder nur andeutungsweise gesprochen wird. Denn es geht schließlich auch um Not und Elend, Krieg und Terror, Fluchtursachen und Vertreibung, um Diskriminierung, Rassismus und Ausgrenzung. Es geht in diesen widersprüchlichen Erzählungen aus unserer zeitgenössischen Einwanderungsgesellschaft eben auch um Leben und Tod, Aufbruch und Ängste, um Verluste und Träume, um Illusionen und Hoffnung.
Das Buch und das zugrundeliegende Projekt hätten in jeder europäischen Stadt entstehen können, wo heute verschiedene Kulturen, Religionen, Sprachen und Bräuche dieselbe Erde teilen. Das Buch steht, so verstehen es Alvaro Solar und Cristina Collao, »für Vielfalt, Zusammenleben und Respekt auf Augenhöhe«. Sie beschreiben ihre Motivation für diese Arbeit folgendermaßen: »In einer Zeit der sogenannten Flüchtlings- und Migrationskrise glauben wir, dass es wichtig ist, persönliche Geschichten und individuelle Schicksale, die für Millionen von Menschen repräsentativ sind, einer interessierten und wachen Öffentlichkeit zur Kenntnis zu geben. Auf diese Weise kann das Theater als künstlerische Form zur Bekämpfung von Diskriminierung und Rassismus beitragen, die heutzutage leider zur Hauptbastion populistischer und nationalistischer Bewegungen in Europa geworden sind.«
In der grenzenlosen Hoffnung, dass dieses aufklärerische Ansinnen in Erfüllung gehen und Anreiz bieten möge, ähnliche Projekte zu entwickeln und die Öffentlichkeit an ihren Ergebnissen und Erkenntnissen teilhaben zu lassen.
Der Text erscheint Mitte Mai als Vorwort zu Alvaro Solars Buch »Grenzenlose Hoffnung. Erinnerungen in Zeiten der Flucht«; Hirnkost, 204 Seiten, 25 €; Bezug über Buchhandel, per Mail: prverlag@hirnkost.de oder Online-Bestellung: https://shop.hirnkost.de.