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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Erinnerungen an Heinrich Hannover (II)

Inzwi­schen sind zahl­rei­che Nach­ru­fe auf den Straf­ver­tei­di­ger, Publi­zi­sten und Kin­der­buch­au­tor Hein­rich Han­no­ver erschie­nen. Anders als in frü­he­ren Zei­ten wür­di­gen heu­te alle Ver­fas­ser sein Leben, sein Enga­ge­ment für Gerech­tig­keit, sein huma­ni­stisch-demo­kra­ti­sches, frie­dens­po­li­ti­sches und auf­klä­re­ri­sches Wir­ken. Einen lesens­wer­ten Nach­ruf hat Nor­man Paech in der vori­gen Aus­ga­be von Ossietzky ver­öf­fent­licht – in der­sel­ben Aus­ga­be, in der auch ich eini­ge mei­ner Erin­ne­run­gen an beruf­li­che und per­sön­li­che Begeg­nun­gen sowie an gemein­sa­me Pro­jek­te nie­der­ge­schrie­ben habe. Dem möch­te ich nun ein wei­te­res, ziem­lich ver­dräng­tes Kapi­tel aus der bun­des­deut­schen Früh­ge­schich­te der 1950er und 60er Jah­re hinzufügen.

Hein­rich Han­no­ver wäre ger­ne Wirt­schafts­an­walt in Bre­men gewor­den. Doch gleich zu Beginn sei­ner Anwalts­tä­tig­keit 1954 hat­te er die Pflicht­ver­tei­di­gung eines Kom­mu­ni­sten über­tra­gen bekom­men. Von da an über­nahm er wei­te­re Man­da­te die­ser Art. Und er mach­te dabei die bit­te­re Erfah­rung, vor einer im wahr­sten Sin­ne des Wor­tes »Poli­ti­schen Justiz« ver­tei­di­gen zu müs­sen – genau­er: vor einer poli­tisch moti­vier­ten Son­der­ge­richts­bar­keit, die stramm nach anti­kom­mu­ni­sti­scher Tra­di­ti­on Kom­mu­ni­sten und ande­re Lin­ke wie »inne­re Fein­de« behandelte.

Es war ein gemein­sa­mes Anlie­gen, das uns Anfang 2000 dazu beweg­te, zusam­men eine Pres­se­kon­fe­renz in Bre­men zu ver­an­stal­ten, um mit unse­ren gera­de erschie­ne­nen Büchern auf die­ses dunk­le Kapi­tel und sei­ne Lang­zeit­fol­gen auf­merk­sam zu machen: mit Hein­rich Han­no­vers Memoi­ren »Die Repu­blik vor Gericht 1954-1974. Erin­ne­run­gen eines unbe­que­men Rechts­an­walts« sowie mit der Neu­auf­la­ge mei­nes Buches »Die ver­ges­se­nen Justiz­op­fer des Kal­ten Krie­ges. Ver­drän­gung im Westen – Abrech­nung mit dem Osten?«, für das Han­no­ver ein Vor­wort bei­gesteu­ert hat­te; bei­de Bücher sind im Ber­li­ner Auf­bau-Ver­lag erschie­nen. Aus die­sen gesam­mel­ten Erfah­run­gen, Ana­ly­sen und Erkennt­nis­sen lei­te­ten wir rechts­po­li­ti­sche For­de­run­gen ab.

Doch wor­um genau ging es bei unse­rer publi­zi­sti­schen Erin­ne­rungs­ar­beit? Mit der deut­schen Ein­heit und dem Ende des Kal­ten Krie­ges Anfang der 1990er Jah­re schien die Zeit gekom­men, nicht nur die DDR-Geschich­te, son­dern auch das so stark ver­dräng­te Tabu-The­ma poli­ti­scher Ver­fol­gung in West­deutsch­land offi­zi­ell auf­zu­ar­bei­ten. Dazu gehö­ren zwei wei­te­re, unmit­tel­bar zusam­men­hän­gen­de Grund­be­la­stun­gen bun­des­deut­scher Früh­ge­schich­te, die die Bun­des­re­pu­blik all­zu lan­ge nega­tiv präg­ten: die ver­spä­tet-man­gel­haf­te Auf­ar­bei­tung der Nazi-Ver­gan­gen­heit sowie die Wie­der­ein­glie­de­rung von Alt­na­zis in Staat und Gesellschaft.

Von poli­ti­scher Ver­fol­gung betrof­fen waren in erster Linie Kom­mu­ni­sten, ihre Unter­stüt­zer und »Sym­pa­thi­san­ten« – aber auch lin­ke Bünd­nis­part­ner und blo­ße Kon­takt­per­so­nen. Das Aus­maß ist heu­te kaum mehr vor­stell­bar: Von 1951 bis 1968 gab es Straf­er­mitt­lungs­ver­fah­ren gegen 150.000 bis 200.000 Per­so­nen und Tau­sen­de von Ver­ur­tei­lun­gen. Mehr als dop­pelt so vie­le – etwa eine hal­be Mil­li­on – waren direkt oder indi­rekt von staat­li­chen Ermitt­lungs­maß­nah­men betrof­fen: so von lang­fri­sti­gen Obser­va­tio­nen, Abhör­ak­tio­nen und Unter­su­chungs­haft. Selbst gewalt­lo­se Pro­te­ste gegen die dama­li­ge Wie­der­auf­rü­stung wur­den als kri­mi­nel­le Delik­te ver­folgt, wenn sie als »kom­mu­ni­stisch gesteu­ert« gal­ten. Men­schen wur­den wegen »Staats­ge­fähr­dung« oder »Geheim­bün­de­lei« bestraft, weil sie für ein ent­mi­li­ta­ri­sier­tes, neu­tra­les Gesamt­deutsch­land ein­tra­ten oder weil sie deutsch-deut­sche Kon­tak­te pflegten.

Der Höhe­punkt die­ser justi­zi­el­len Ver­fol­gungs­ge­schich­te war 1956 mit dem Ver­bot der Kom­mu­ni­sti­schen Par­tei (KPD) durch das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt erreicht wor­den – ein Urteil, das nach neue­rer For­schung anhand zuvor geheim gehal­te­ner Doku­men­te als ver­fas­sungs­wid­rig gel­ten kann, u.a. wegen unzu­läs­si­ger exe­ku­ti­ver Ein­fluss­nah­me (Fosche­poth 2017). Mit die­ser Ent­schei­dung wur­de letzt­lich die Kri­mi­na­li­sie­rung der poli­ti­schen Betä­ti­gung von Kom­mu­ni­sten und ihren Orga­ni­sa­tio­nen ver­fas­sungs­recht­lich legitimiert.

Erst 1968 fand die 17 Jah­re wäh­ren­de Kom­mu­ni­sten­ver­fol­gung ein Ende: Die dama­li­ge CDU/SPD-Bun­des­re­gie­rung initi­ier­te eine Libe­ra­li­sie­rung und Kor­rek­tur des poli­ti­schen Straf­rechts, zumin­dest teil­wei­se, und erließ auf Grund­la­ge des Straf­frei­heits­ge­set­zes eine »Rechtskorrektur«-Amnestie für ver­däch­tig­te und bereits ange­klag­te Betrof­fe­ne sowie für jene, die noch ihre Stra­fe ver­bü­ßen soll­ten. Die Betrof­fe­nen wur­den jedoch – bis heu­te – weder reha­bi­li­tiert noch ent­schä­digt, obwohl die dama­li­gen Staats­schutz­pro­zes­se mit rechts­staat­li­chen Prin­zi­pi­en und bür­ger­recht­li­chen Maß­stä­ben kaum zu ver­ein­ba­ren waren.

Aus die­sen Grün­den hat­te Hein­rich Han­no­ver im Sep­tem­ber 1999, ein hal­bes Jahr vor unse­rer oben erwähn­ten Pres­se­kon­fe­renz, sei­nen frü­he­ren Anwalts­kol­le­gen Ger­hard Schrö­der (SPD) ange­schrie­ben, mit dem er einst in poli­ti­schen Ver­fah­ren ver­tei­digt hat­te und der 1998 Bun­des­kanz­ler einer rot-grü­nen Regie­rungs­ko­ali­ti­on gewor­den war. Han­no­ver woll­te ihn an sei­ne frü­he­re Hal­tung als Straf­ver­tei­di­ger erin­nern und ihn nun als Kanz­ler bit­ten, end­lich dafür zu sor­gen, »dass die noch leben­den Opfer der Justiz des Kal­ten Krie­ges, die, wie Du weißt, nicht nur in der DDR, son­dern auch in der alten Bun­des­re­pu­blik pro­du­ziert wor­den sind, reha­bi­li­tiert und ent­schä­digt wer­den«. Und er beton­te: »Es besteht drin­gen­der Hand­lungs­be­darf! Die betrof­fe­nen Men­schen sind alt, es ster­ben immer mehr weg.«

Der Bun­des­kanz­ler ließ sei­nem ehe­ma­li­gen Anwalts­kol­le­gen über einen Mini­ste­ri­al­di­rek­tor ant­wor­ten, dass »die Straf­ver­fah­ren, die Sie im Auge haben, unstrei­tig nach rechts­staat­li­chen Grund­sät­zen geführt wor­den« sei­en – trotz allen damit ver­bun­de­nen Unrechts. Han­no­ver wider­sprach die­ser euphe­mi­sti­schen Ein­schät­zung vehe­ment: Die dama­li­ge Justiz »war eine Waf­fe im kal­ten Krieg«, um Kom­mu­ni­sten und ihre Kon­takt­per­so­nen, kom­mu­ni­sti­sche Orga­ni­sa­tio­nen und ihre Bünd­nis­part­ner aus dem öffent­li­chen Mei­nungs­bil­dungs­pro­zess aus­zu­schlie­ßen. Bei den dama­li­gen Urtei­len hand­le es sich um »rechts­staats­wid­ri­ges justi­zi­el­les Unrecht« mit exi­sten­ti­el­len Fol­gen für die Betrof­fe­nen. Nicht sel­ten hat­ten an sol­chen Ent­schei­dun­gen auch »furcht­ba­re Juri­sten« mit­ge­wirkt, Alt­na­zis, die schon dem Nazi­re­gime gedient hat­ten und sich mit poli­ti­scher Ver­fol­gung bestens auskannten.

Auf die Ein­wän­de Han­no­vers ließ der Bun­des­kanz­ler über sei­nen Mini­ste­ri­al­di­rek­tor erwi­dern, dass das Bun­des­ju­stiz­mi­ni­ste­ri­um »aus Rechts­grün­den«, ins­be­son­de­re wegen des Grund­sat­zes der Gewal­ten­tei­lung, kei­ne Mög­lich­keit sehe, die dama­li­gen Gerichts­ur­tei­le per Gesetz auf­zu­he­ben. Des­halb sei­en auch weder Reha­bi­li­tie­rung von Ver­ur­teil­ten noch Ent­schä­di­gun­gen mög­lich (mit Aus­nah­me von gewis­sen »Här­te­fäl­len«).

Und so muss­ten wir wäh­rend unse­rer Pres­se­kon­fe­renz im März 2000 den Medi­en und der Öffent­lich­keit mit­tei­len, dass Bun­des­kanz­ler Schrö­der sich wei­gert, für eine Reha­bi­li­tie­rung der west­li­chen »Justiz­op­fer des Kal­ten Krie­ges« zu sor­gen, und damit das in den 1950er und 60er Jah­ren began­ge­ne Justiz­un­recht im Rah­men des Mög­li­chen wie­der­gut­zu­ma­chen. »Die Her­stel­lung von Gerech­tig­keit«, so Hein­rich Han­no­ver, sei »immer eine Sache des guten Wil­lens der jeweils herr­schen­den Macht­trä­ger«. Ange­sichts des offen­kun­dig feh­len­den guten Wil­lens for­der­te Han­no­ver in sei­nem Abschluss­schrei­ben an Schrö­ders Mini­ste­ri­al­di­rek­tor die­sen auf: »Rich­ten Sie Ihrem Chef bit­te aus, dass er sich schä­men möge.«

Bei die­ser Wei­ge­rungs­hal­tung ist es unter sämt­li­chen Bun­des­re­gie­run­gen bis heu­te geblie­ben. Selbst wenn Reha­bi­li­tie­rung und Ent­schä­di­gung ange­sichts der weni­gen noch leben­den Betrof­fe­nen in den aller­mei­sten Fäl­len zu spät kom­men wür­de, gilt wei­ter­hin: Die­ses Justiz­un­recht muss drin­gend der gesell­schaft­li­chen Ver­drän­gung ent­ris­sen, und die noch leben­den »Justiz­op­fer des Kal­ten Krie­ges« müs­sen umge­hend reha­bi­li­tiert und ent­schä­digt wer­den. Dies gilt im Übri­gen auch für die mei­sten Betrof­fe­nen von Berufs­ver­bo­ten der 1970er und 80er Jah­re: Denn auch ihre Geschich­te mit­samt den damit ver­bun­de­nen Grund­rechts­ver­let­zun­gen und erlit­te­nen exi­sten­ti­el­len Fol­gen ist bis heu­te nicht offi­zi­ell aufgearbeitet.

Auch die­se For­de­rung ist im Sin­ne Hein­rich Han­no­vers, über den Ossietzky-Mit­her­aus­ge­ber Otto Köh­ler in einem Frei­tag-Arti­kel zu des­sen 80. Geburts­tag (2005) in der ihm eige­nen iro­nisch-sar­ka­sti­schen Art geschrie­ben hat­te: Der zu Fei­ern­de sei in sei­nen 50 Anwalts­jah­ren »nie etwas Rech­tes gewor­den« – ganz anders als des­sen frü­he­re Anwalts­kol­le­gen Ger­hard Schrö­der, der zum Bun­des­kanz­ler avan­cier­te, und Otto Schi­ly, der vom »Ter­ro­ri­sten­an­walt« zum Bun­des­in­nen­mi­ni­ster und sicher­heits­po­li­ti­schen Hard­li­ner mutier­te. Und tat­säch­lich: Han­no­ver ist abseits solch macht­po­li­ti­scher Muta­tio­nen sei­nem Kampf um Gerech­tig­keit und damit sich selbst treu geblie­ben. Oder aus Sicht von Otto Köh­ler: Selbst die »vie­len Nie­der­la­gen, die Hein­rich Han­no­ver in sei­nem lan­gen Juri­sten­le­ben errun­gen hat«, sei­en letzt­lich zugleich Sie­ge, »weil sie die­sen Staat zwan­gen, sich kennt­lich zu machen«.

Doch Hein­rich Han­no­vers Wir­ken ging, wie gezeigt, weit dar­über hin­aus: Die­ser »gesell­schaft­li­che Strei­ter gegen mili­tan­te Unver­nunft und justiz­för­mi­ges Unrecht« hat staat­lich bedräng­ten und ver­folg­ten Men­schen gehol­fen und mit sei­ner sub­stan­ti­el­len Justiz­kri­tik ein Stück Justiz­ge­schich­te geschrie­ben. Und das beinhal­tet auch und gera­de die Ein­for­de­rung poli­ti­scher Kon­se­quen­zen, die wir nun in sei­nem Sin­ne wei­ter betrei­ben müssen.

 Brief­wech­sel Hein­rich Han­no­ver – Bun­des­kanz­ler Ger­hard Schrö­der (1999-2000): http://www.heinrich-hannover.de/briefwechsel.htm.
Hein­rich Han­no­ver: Die Repu­blik vor Gericht. Erin­ne­run­gen eines unbe­que­men Rechts­an­walts 1954-1974 (Band I, Ber­lin 1998) und 1975-1995 (Band II, Ber­lin 1999). 
Rolf Gös­s­ner: Die ver­ges­se­nen Justiz­op­fer des Kal­ten Krie­ges. Ver­drän­gung im Westen – Abrech­nung mit dem Osten? (Ham­burg 1994; Ber­lin, erw. Neu­auf­la­ge 1998); mit einem Vor­wort von Hein­rich Hannover.
Josef Fosche­poth: Ver­fas­sungs­wid­rig! Das KPD-Ver­bot im Kal­ten Bür­ger­krieg, Göt­tin­gen 2017.