Inzwischen sind zahlreiche Nachrufe auf den Strafverteidiger, Publizisten und Kinderbuchautor Heinrich Hannover erschienen. Anders als in früheren Zeiten würdigen heute alle Verfasser sein Leben, sein Engagement für Gerechtigkeit, sein humanistisch-demokratisches, friedenspolitisches und aufklärerisches Wirken. Einen lesenswerten Nachruf hat Norman Paech in der vorigen Ausgabe von Ossietzky veröffentlicht – in derselben Ausgabe, in der auch ich einige meiner Erinnerungen an berufliche und persönliche Begegnungen sowie an gemeinsame Projekte niedergeschrieben habe. Dem möchte ich nun ein weiteres, ziemlich verdrängtes Kapitel aus der bundesdeutschen Frühgeschichte der 1950er und 60er Jahre hinzufügen.
Heinrich Hannover wäre gerne Wirtschaftsanwalt in Bremen geworden. Doch gleich zu Beginn seiner Anwaltstätigkeit 1954 hatte er die Pflichtverteidigung eines Kommunisten übertragen bekommen. Von da an übernahm er weitere Mandate dieser Art. Und er machte dabei die bittere Erfahrung, vor einer im wahrsten Sinne des Wortes »Politischen Justiz« verteidigen zu müssen – genauer: vor einer politisch motivierten Sondergerichtsbarkeit, die stramm nach antikommunistischer Tradition Kommunisten und andere Linke wie »innere Feinde« behandelte.
Es war ein gemeinsames Anliegen, das uns Anfang 2000 dazu bewegte, zusammen eine Pressekonferenz in Bremen zu veranstalten, um mit unseren gerade erschienenen Büchern auf dieses dunkle Kapitel und seine Langzeitfolgen aufmerksam zu machen: mit Heinrich Hannovers Memoiren »Die Republik vor Gericht 1954-1974. Erinnerungen eines unbequemen Rechtsanwalts« sowie mit der Neuauflage meines Buches »Die vergessenen Justizopfer des Kalten Krieges. Verdrängung im Westen – Abrechnung mit dem Osten?«, für das Hannover ein Vorwort beigesteuert hatte; beide Bücher sind im Berliner Aufbau-Verlag erschienen. Aus diesen gesammelten Erfahrungen, Analysen und Erkenntnissen leiteten wir rechtspolitische Forderungen ab.
Doch worum genau ging es bei unserer publizistischen Erinnerungsarbeit? Mit der deutschen Einheit und dem Ende des Kalten Krieges Anfang der 1990er Jahre schien die Zeit gekommen, nicht nur die DDR-Geschichte, sondern auch das so stark verdrängte Tabu-Thema politischer Verfolgung in Westdeutschland offiziell aufzuarbeiten. Dazu gehören zwei weitere, unmittelbar zusammenhängende Grundbelastungen bundesdeutscher Frühgeschichte, die die Bundesrepublik allzu lange negativ prägten: die verspätet-mangelhafte Aufarbeitung der Nazi-Vergangenheit sowie die Wiedereingliederung von Altnazis in Staat und Gesellschaft.
Von politischer Verfolgung betroffen waren in erster Linie Kommunisten, ihre Unterstützer und »Sympathisanten« – aber auch linke Bündnispartner und bloße Kontaktpersonen. Das Ausmaß ist heute kaum mehr vorstellbar: Von 1951 bis 1968 gab es Strafermittlungsverfahren gegen 150.000 bis 200.000 Personen und Tausende von Verurteilungen. Mehr als doppelt so viele – etwa eine halbe Million – waren direkt oder indirekt von staatlichen Ermittlungsmaßnahmen betroffen: so von langfristigen Observationen, Abhöraktionen und Untersuchungshaft. Selbst gewaltlose Proteste gegen die damalige Wiederaufrüstung wurden als kriminelle Delikte verfolgt, wenn sie als »kommunistisch gesteuert« galten. Menschen wurden wegen »Staatsgefährdung« oder »Geheimbündelei« bestraft, weil sie für ein entmilitarisiertes, neutrales Gesamtdeutschland eintraten oder weil sie deutsch-deutsche Kontakte pflegten.
Der Höhepunkt dieser justiziellen Verfolgungsgeschichte war 1956 mit dem Verbot der Kommunistischen Partei (KPD) durch das Bundesverfassungsgericht erreicht worden – ein Urteil, das nach neuerer Forschung anhand zuvor geheim gehaltener Dokumente als verfassungswidrig gelten kann, u.a. wegen unzulässiger exekutiver Einflussnahme (Foschepoth 2017). Mit dieser Entscheidung wurde letztlich die Kriminalisierung der politischen Betätigung von Kommunisten und ihren Organisationen verfassungsrechtlich legitimiert.
Erst 1968 fand die 17 Jahre währende Kommunistenverfolgung ein Ende: Die damalige CDU/SPD-Bundesregierung initiierte eine Liberalisierung und Korrektur des politischen Strafrechts, zumindest teilweise, und erließ auf Grundlage des Straffreiheitsgesetzes eine »Rechtskorrektur«-Amnestie für verdächtigte und bereits angeklagte Betroffene sowie für jene, die noch ihre Strafe verbüßen sollten. Die Betroffenen wurden jedoch – bis heute – weder rehabilitiert noch entschädigt, obwohl die damaligen Staatsschutzprozesse mit rechtsstaatlichen Prinzipien und bürgerrechtlichen Maßstäben kaum zu vereinbaren waren.
Aus diesen Gründen hatte Heinrich Hannover im September 1999, ein halbes Jahr vor unserer oben erwähnten Pressekonferenz, seinen früheren Anwaltskollegen Gerhard Schröder (SPD) angeschrieben, mit dem er einst in politischen Verfahren verteidigt hatte und der 1998 Bundeskanzler einer rot-grünen Regierungskoalition geworden war. Hannover wollte ihn an seine frühere Haltung als Strafverteidiger erinnern und ihn nun als Kanzler bitten, endlich dafür zu sorgen, »dass die noch lebenden Opfer der Justiz des Kalten Krieges, die, wie Du weißt, nicht nur in der DDR, sondern auch in der alten Bundesrepublik produziert worden sind, rehabilitiert und entschädigt werden«. Und er betonte: »Es besteht dringender Handlungsbedarf! Die betroffenen Menschen sind alt, es sterben immer mehr weg.«
Der Bundeskanzler ließ seinem ehemaligen Anwaltskollegen über einen Ministerialdirektor antworten, dass »die Strafverfahren, die Sie im Auge haben, unstreitig nach rechtsstaatlichen Grundsätzen geführt worden« seien – trotz allen damit verbundenen Unrechts. Hannover widersprach dieser euphemistischen Einschätzung vehement: Die damalige Justiz »war eine Waffe im kalten Krieg«, um Kommunisten und ihre Kontaktpersonen, kommunistische Organisationen und ihre Bündnispartner aus dem öffentlichen Meinungsbildungsprozess auszuschließen. Bei den damaligen Urteilen handle es sich um »rechtsstaatswidriges justizielles Unrecht« mit existentiellen Folgen für die Betroffenen. Nicht selten hatten an solchen Entscheidungen auch »furchtbare Juristen« mitgewirkt, Altnazis, die schon dem Naziregime gedient hatten und sich mit politischer Verfolgung bestens auskannten.
Auf die Einwände Hannovers ließ der Bundeskanzler über seinen Ministerialdirektor erwidern, dass das Bundesjustizministerium »aus Rechtsgründen«, insbesondere wegen des Grundsatzes der Gewaltenteilung, keine Möglichkeit sehe, die damaligen Gerichtsurteile per Gesetz aufzuheben. Deshalb seien auch weder Rehabilitierung von Verurteilten noch Entschädigungen möglich (mit Ausnahme von gewissen »Härtefällen«).
Und so mussten wir während unserer Pressekonferenz im März 2000 den Medien und der Öffentlichkeit mitteilen, dass Bundeskanzler Schröder sich weigert, für eine Rehabilitierung der westlichen »Justizopfer des Kalten Krieges« zu sorgen, und damit das in den 1950er und 60er Jahren begangene Justizunrecht im Rahmen des Möglichen wiedergutzumachen. »Die Herstellung von Gerechtigkeit«, so Heinrich Hannover, sei »immer eine Sache des guten Willens der jeweils herrschenden Machtträger«. Angesichts des offenkundig fehlenden guten Willens forderte Hannover in seinem Abschlussschreiben an Schröders Ministerialdirektor diesen auf: »Richten Sie Ihrem Chef bitte aus, dass er sich schämen möge.«
Bei dieser Weigerungshaltung ist es unter sämtlichen Bundesregierungen bis heute geblieben. Selbst wenn Rehabilitierung und Entschädigung angesichts der wenigen noch lebenden Betroffenen in den allermeisten Fällen zu spät kommen würde, gilt weiterhin: Dieses Justizunrecht muss dringend der gesellschaftlichen Verdrängung entrissen, und die noch lebenden »Justizopfer des Kalten Krieges« müssen umgehend rehabilitiert und entschädigt werden. Dies gilt im Übrigen auch für die meisten Betroffenen von Berufsverboten der 1970er und 80er Jahre: Denn auch ihre Geschichte mitsamt den damit verbundenen Grundrechtsverletzungen und erlittenen existentiellen Folgen ist bis heute nicht offiziell aufgearbeitet.
Auch diese Forderung ist im Sinne Heinrich Hannovers, über den Ossietzky-Mitherausgeber Otto Köhler in einem Freitag-Artikel zu dessen 80. Geburtstag (2005) in der ihm eigenen ironisch-sarkastischen Art geschrieben hatte: Der zu Feiernde sei in seinen 50 Anwaltsjahren »nie etwas Rechtes geworden« – ganz anders als dessen frühere Anwaltskollegen Gerhard Schröder, der zum Bundeskanzler avancierte, und Otto Schily, der vom »Terroristenanwalt« zum Bundesinnenminister und sicherheitspolitischen Hardliner mutierte. Und tatsächlich: Hannover ist abseits solch machtpolitischer Mutationen seinem Kampf um Gerechtigkeit und damit sich selbst treu geblieben. Oder aus Sicht von Otto Köhler: Selbst die »vielen Niederlagen, die Heinrich Hannover in seinem langen Juristenleben errungen hat«, seien letztlich zugleich Siege, »weil sie diesen Staat zwangen, sich kenntlich zu machen«.
Doch Heinrich Hannovers Wirken ging, wie gezeigt, weit darüber hinaus: Dieser »gesellschaftliche Streiter gegen militante Unvernunft und justizförmiges Unrecht« hat staatlich bedrängten und verfolgten Menschen geholfen und mit seiner substantiellen Justizkritik ein Stück Justizgeschichte geschrieben. Und das beinhaltet auch und gerade die Einforderung politischer Konsequenzen, die wir nun in seinem Sinne weiter betreiben müssen.
Briefwechsel Heinrich Hannover – Bundeskanzler Gerhard Schröder (1999-2000): http://www.heinrich-hannover.de/briefwechsel.htm.
Heinrich Hannover: Die Republik vor Gericht. Erinnerungen eines unbequemen Rechtsanwalts 1954-1974 (Band I, Berlin 1998) und 1975-1995 (Band II, Berlin 1999).
Rolf Gössner: Die vergessenen Justizopfer des Kalten Krieges. Verdrängung im Westen – Abrechnung mit dem Osten? (Hamburg 1994; Berlin, erw. Neuauflage 1998); mit einem Vorwort von Heinrich Hannover.
Josef Foschepoth: Verfassungswidrig! Das KPD-Verbot im Kalten Bürgerkrieg, Göttingen 2017.