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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Erinnerung an Erich Mühsam

Das lite­ra­ri­sche und poli­ti­sche Schaf­fen von Erich Müh­sam ist geprägt durch eine unbe­stech­li­che Kom­pro­miss­lo­sig­keit, sei­nen Traum von einem selbst­be­stimm­ten, frei­en Men­schen zu ver­wirk­li­chen, den er mit Anfein­dun­gen, Nie­der­la­gen, Gefäng­nis­auf­ent­hal­ten, Fol­ter und letzt­lich mit dem Tod bezahl­te. Sei­ne Par­tei­nah­me galt immer den Aus­ge­sto­ße­nen, Ent­rech­te­ten und Aus­ge­beu­te­ten, denen er sich mit tie­fem mensch­li­chem Gefühl ver­bun­den fühl­te. Bis heu­te zeigt sein Lebens­werk eine gro­ße Strahl­kraft. Am 10. Juli die­ses Jah­res jährt sich der 90. Jah­res­tag sei­nes Todes, ein Anlass an ihn zu erinnern.

Am 6. April 1878 in Ber­lin gebo­ren, wächst er in Lübeck im Haus des jüdi­schen Apo­the­kers Sieg­fried Selig­mann auf, mit einem Rohr­stock-prü­geln­den Vater und sei­ner Mut­ter Rosa­lie. Wegen »sozia­li­sti­scher Umtrie­be« wird Müh­sam vom Gym­na­si­um ver­wie­sen, er hat­te schul­in­ter­ne Vor­gän­ge an eine sozi­al­de­mo­kra­ti­sche Zei­tung wei­ter­ge­ge­ben. Er beginnt eine Apo­the­ker­leh­re, arbei­tet danach als Apo­the­ken­ge­hil­fe in Lübeck, Blom­berg und Berlin.

Schon früh wird sein lite­ra­ri­sches Talent erkannt. Es gibt erste Ver­öf­fent­li­chun­gen in anar­chi­sti­schen Zei­tun­gen. Er wird frei­er Schrift­stel­ler, schließt sich der Dich­ter­grup­pe »Neue Gemein­schaft« an und bleibt mit Gustav Land­au­er bis zu sei­nem gewalt­sa­men Tod 1919 in enger Freund­schaft ver­bun­den, der ihn mit der kom­mu­ni­stisch-anar­chi­sti­schen Bewe­gung bekannt macht. In die­ser Lebens­pha­se neigt Müh­sam nach eige­nem Bekun­den zu einem theo­re­tisch kaum reflek­tier­ten »Gefühls­an­ar­chis­mus«, eine Pha­se star­ker roman­ti­sie­ren­der Hoff­nun­gen. Er ver­öf­fent­licht in ver­schie­de­nen Zei­tun­gen, u. a. im Sim­pli­cis­si­mus, und kri­ti­siert scharf bür­ger­li­che Nor­men und Auto­ri­tä­ten wie auch bür­ger­li­che Ten­den­zen und den Refor­mis­mus der dama­li­gen SPD. Den Mar­xis­mus lehnt er wegen auto­ri­tä­rer Züge ab und sym­pa­thi­siert mit der »Revol­te des Subproletariats«.

In der Zeit zwi­schen 1904 und 1908 unter­nimmt er aus­ge­dehn­te Rei­sen nach Zürich, Asco­na, Nord­ita­li­en, Mün­chen, Wien und Paris. In Mün­chen grün­det er die »Grup­pe Tat« zur Agi­ta­ti­on des Sub­pro­le­ta­ri­ats und wird zu einer Zen­tral­fi­gur der Schwa­bin­ger Bohè­me, ein Bür­ger­schreck mit ent­spre­chen­dem Lebens­wan­del. In die­ser Zeit ent­steht sein bekann­te­stes Gedicht »Der Revo­luz­zer« mit dem Unter­ti­tel »Der deut­schen Sozi­al­de­mo­kra­tie gewid­met«, die ihm das sehr übel­nahm. Das Gedicht wird in der Fol­ge­zeit unzäh­li­ge Male ver­tont und aufgeführt.

Der Revo­luz­zer
War ein­mal ein Revo­luz­zer, /​ im Zivil­stand Lampenputzer;
ging im Revo­luz­zer­schritt /​ mit den Revo­luz­zern mit.
Und er schrie: »ich revolüz­ze!« /​ Und die Revoluzzermütze
schob er auf das lin­ke Ohr, /​ kam sich höchst gefähr­lich vor.
Doch die Revo­luz­zer schrit­ten (mit­ten in der Stra­ßen Mitten,
wo er sonst unver­drutzt /​ alle Gas­la­ter­nen putzt.
Sie vom Boden zu ent­fer­nen, /​ rupft man die Gaslaternen
aus dem Stra­ßen­pfla­ster aus, /​ zwecks des Barrikadenbaus.
Aber unser Revo­luz­zer /​ schrie: »Ich bin der Lampenputzer
die­ses guten Leuch­te­lichts. /​ Bit­te, bit­te, tut ihm nichts!
Wenn wir Ihn´ das Licht aus­dre­hen, /​ kann kein Bür­ger nichts mehr sehen.
Lass die Lam­pen stehn, ich bitt!- /​ Denn sonst spiel ich nicht mehr mit!«
Doch die Revo­luz­zer lach­ten, /​ und die Gas­la­ter­nen krachten,
und der Lam­pen­put­zer schlich /​ fort und wein­te bitterlich.
Dann ist er zu Haus geblie­ben /​ Und hat dort ein Buch geschrieben: 
näm­lich, wie man revo­luzzt /​ und dabei doch Lam­pen putzt.

Ab 1911 ver­öf­fent­licht er die anar­chi­sti­sche Zei­tung Kain – Zeit­schrift für Mensch­lich­keit, eine Kampf­schrift gegen Krieg, kapi­ta­li­sti­sche Aus­beu­tung und staat­li­che Bevor­mun­dung. Sie erscheint neun Jah­re. Im Kain ruft er zur Ver­brü­de­rung des Sub­pro­le­ta­ri­ats von »Ver­bre­chern, Land­strei­chern, Huren und Künst­lern« auf.

Wäh­rend des Ersten Welt­kriegs ver­sucht er erfolg­los, einen inter­na­tio­na­len Bund der Kriegs­geg­ner zu grün­den. Sei­ne Rebel­li­on gegen Krieg und Kapi­ta­lis­mus und sei­ne anti­mi­li­ta­ri­sti­sche, pazi­fi­sti­sche Gesin­nung blei­ben aller­dings weit­ge­hend wir­kungs­los. Vie­le lei­den­schaft­li­che Gedich­te und Zei­tungs­bei­trä­ge aus der Zeit bele­gen sei­ne poli­ti­sche Ein­stel­lung. Er ruft Sol­da­ten auf, Drill und Gehor­sam zu ver­wei­gern, die Herr­schaft des Mili­ta­ris­mus abzu­schüt­teln, er ruft zum Gene­ral­streik auf und pro­kla­miert eine Frie­dens­sehn­sucht über alle Grä­ben hinweg.

In die­ser Zeit hei­ra­tet er sei­ne Lebens­part­ne­rin Kres­zen­tia »Zenzl« Elfin­ger, die ihn bis 1962 über­lebt. Ende des Ersten Welt­kriegs wird Müh­sam wegen Wei­ge­rung, am »Vater­län­di­schen Hilfs­dienst« teil­zu­neh­men, ver­haf­tet und zu sechs Mona­ten Festungs­haft verurteilt.

Als einer der ersten Initia­to­ren der Baye­ri­schen Novem­ber­re­vo­lu­ti­on, zusam­men mit Ernst Tol­ler und Gustav Land­au­er, tritt er dem Revo­lu­tio­nä­ren Zen­tral­rat bei und ruft 1919 den Frei­staat Bay­ern als demo­kra­ti­schen Räte­re­pu­blik aus. Durch den soge­nann­ten »Palm­sonn­tag­putsch« repu­bli­ka­ni­scher Schutz­trup­pen, Reichs­wehr und rechts­na­tio­na­ler Frei­korps­ver­bän­de wird das sozia­li­sti­sche Expe­ri­ment der Münch­ner Räte­re­pu­blik been­det. Erich Müh­sam wird zusam­men mit ande­ren Ver­haf­te­ten erst in der Festungs­haft­an­stalt Ans­bach, spä­ter im Gefäng­nis Nie­der­schö­nen­feld bis 1924 inhaftiert.

Direkt nach sei­ner Ent­las­sung zieht er nach Ber­lin und gibt die anar­chi­sti­sche Zeit­schrift Fanal her­aus und betä­tigt sich wei­ter­hin als uner­müd­li­cher Akti­vist. Das Zusam­men­ge­hen aller revo­lu­tio­nä­ren Kräf­te ist für Müh­sam eine poli­ti­sche Not­wen­dig­keit wie auch sei­ne Her­zen­z­an­ge­le­gen­heit. Zwi­schen die­sen bei­den Polen posi­tio­niert er sein poli­ti­sches Welt­bild, und über­all sitzt er zwi­schen allen Stüh­len. Für ihn muss die Ablö­sung des Kapi­ta­lis­mus der Sozia­lis­mus sein. »Nur die idea­le For­de­rung in ihrem wei­te­sten Umfang schafft Fort­schritt im engen Kreis. Die Uto­pie ist die Vor­be­din­gung jeder Ent­wick­lung«, schreibt er im »Idea­li­sti­schen Mani­fest«. 1919 tritt Müh­sam kurz­zei­tig der KPD bei, ruft zur Unter­stüt­zung der Rus­si­schen Revo­lu­ti­on auf, ver­lässt die Par­tei jedoch ein Jahr spä­ter bereits.

In der Zeit zwi­schen 1925 bis 1929 enga­giert er sich uner­müd­lich mit pro­gram­ma­ti­schen Schrif­ten und Vor­trä­gen für die Gefan­ge­nen­hilfs­or­ga­ni­sa­ti­on Rote Hil­fe Deutsch­land, um inhaf­tier­te Genos­sen in der Haft zu unter­stüt­zen. Aus die­sem Grund wird er von der anar­chi­sti­schen FKAD aus­ge­schlos­sen, die ihm eine zu gro­ße Nähe zur KPD vor­wirft. Aber auch aus der Roten Hil­fe tritt er 1929 aus, da sie ent­schie­den hat, aus­schließ­lich KPD-Genos­sen zu unter­stüt­zen und ihre Über­par­tei­lich­keit auf­gibt, eine poli­ti­sche Ent­wick­lung, die die zuneh­men­de Sta­li­ni­sie­rung der KPD als Ursa­che hat.

Mit Beginn der drei­ßi­ger Jah­re wird er dann Mit­glied in der anar­cho-syn­di­ka­li­sti­schen FAUD, was ihn aber nicht davon abhält, auch poli­tisch-sati­ri­sche Beträ­ge unter dem Pseud­onym »Tobi­as« in bür­ger­li­chen Orga­nen wie dem Ulk und dem Ber­li­ner Tage­blatt zu veröffentlichen.

Früh erkennt Müh­sam die Gefahr des her­auf­zie­hen­den Faschis­mus und warnt als einer der Ersten vor dem Erstar­ken des Natio­nal­so­zia­lis­mus. In der Nacht auf den 28. Febru­ar 1933 wird er von der SA ver­haf­tet und nach über 16-mona­ti­ger »Schutz­haft« von der SS ermor­det. Als Räte­so­zia­list, anar­chi­sti­scher Publi­zist, Jude, Anti­mi­li­ta­rist und Rebell gegen Unter­ta­nen­geist ist er den Natio­nal­so­zia­li­sten beson­ders ver­hasst. Unzäh­li­ge Mal geprü­gelt und miss­han­delt, die Fin­ger gebro­chen, um ihn am Schrei­ben zu hin­dern, wird er mit einer Gift­sprit­ze getö­tet, und um einen Sui­zid vor­zu­täu­schen, in der Toi­let­te auf­ge­hängt. In der Nacht vor sei­nem Tod bekennt er einem Mit­ge­fan­ge­nen gegen­über, dass er nie­mals in den Frei­tod gehen wer­de – eine letz­te Form sei­nes Widerstands.

Beer­digt liegt Erich Müh­sam zusam­men mit sei­ner Frau »Zenzl« auf dem Ber­li­ner Wald­fried­hof in Dah­lem, ein Ehren­grab der Stadt Ber­lin. Gedenk­stei­ne für ihn wur­den auf dem Gelän­de des ehe­ma­li­gen KZ Ora­ni­en­burg errich­tet, dem Ort sei­nes Todes. Eine Viel­zahl von Stra­ßen und Plät­zen tra­gen sei­nen Namen. Die Erich Müh­sam-Gesell­schaft ver­leiht den Erich-Müh­sam-Preis nun­mehr alle drei Jahre.

Sein lebens­lan­ger Kampf war für ein wür­di­ges Mensch­sein ohne Unter­drückung und für Gerech­tig­keit unter glei­chen Indi­vi­du­en. Mora­lisch auf­rich­tig, cha­ris­ma­tisch, inte­ger und ein unbe­irr­ba­rer Fun­da­men­tal­kri­ti­ker, alles das war Erich Müh­sam. In der Nacht vom 9. auf den 10. Juli 1934 ver­starb er.