Das literarische und politische Schaffen von Erich Mühsam ist geprägt durch eine unbestechliche Kompromisslosigkeit, seinen Traum von einem selbstbestimmten, freien Menschen zu verwirklichen, den er mit Anfeindungen, Niederlagen, Gefängnisaufenthalten, Folter und letztlich mit dem Tod bezahlte. Seine Parteinahme galt immer den Ausgestoßenen, Entrechteten und Ausgebeuteten, denen er sich mit tiefem menschlichem Gefühl verbunden fühlte. Bis heute zeigt sein Lebenswerk eine große Strahlkraft. Am 10. Juli dieses Jahres jährt sich der 90. Jahrestag seines Todes, ein Anlass an ihn zu erinnern.
Am 6. April 1878 in Berlin geboren, wächst er in Lübeck im Haus des jüdischen Apothekers Siegfried Seligmann auf, mit einem Rohrstock-prügelnden Vater und seiner Mutter Rosalie. Wegen »sozialistischer Umtriebe« wird Mühsam vom Gymnasium verwiesen, er hatte schulinterne Vorgänge an eine sozialdemokratische Zeitung weitergegeben. Er beginnt eine Apothekerlehre, arbeitet danach als Apothekengehilfe in Lübeck, Blomberg und Berlin.
Schon früh wird sein literarisches Talent erkannt. Es gibt erste Veröffentlichungen in anarchistischen Zeitungen. Er wird freier Schriftsteller, schließt sich der Dichtergruppe »Neue Gemeinschaft« an und bleibt mit Gustav Landauer bis zu seinem gewaltsamen Tod 1919 in enger Freundschaft verbunden, der ihn mit der kommunistisch-anarchistischen Bewegung bekannt macht. In dieser Lebensphase neigt Mühsam nach eigenem Bekunden zu einem theoretisch kaum reflektierten »Gefühlsanarchismus«, eine Phase starker romantisierender Hoffnungen. Er veröffentlicht in verschiedenen Zeitungen, u. a. im Simplicissimus, und kritisiert scharf bürgerliche Normen und Autoritäten wie auch bürgerliche Tendenzen und den Reformismus der damaligen SPD. Den Marxismus lehnt er wegen autoritärer Züge ab und sympathisiert mit der »Revolte des Subproletariats«.
In der Zeit zwischen 1904 und 1908 unternimmt er ausgedehnte Reisen nach Zürich, Ascona, Norditalien, München, Wien und Paris. In München gründet er die »Gruppe Tat« zur Agitation des Subproletariats und wird zu einer Zentralfigur der Schwabinger Bohème, ein Bürgerschreck mit entsprechendem Lebenswandel. In dieser Zeit entsteht sein bekanntestes Gedicht »Der Revoluzzer« mit dem Untertitel »Der deutschen Sozialdemokratie gewidmet«, die ihm das sehr übelnahm. Das Gedicht wird in der Folgezeit unzählige Male vertont und aufgeführt.
Der Revoluzzer
War einmal ein Revoluzzer, / im Zivilstand Lampenputzer;
ging im Revoluzzerschritt / mit den Revoluzzern mit.
Und er schrie: »ich revolüzze!« / Und die Revoluzzermütze
schob er auf das linke Ohr, / kam sich höchst gefährlich vor.
Doch die Revoluzzer schritten (mitten in der Straßen Mitten,
wo er sonst unverdrutzt / alle Gaslaternen putzt.
Sie vom Boden zu entfernen, / rupft man die Gaslaternen
aus dem Straßenpflaster aus, / zwecks des Barrikadenbaus.
Aber unser Revoluzzer / schrie: »Ich bin der Lampenputzer
dieses guten Leuchtelichts. / Bitte, bitte, tut ihm nichts!
Wenn wir Ihn´ das Licht ausdrehen, / kann kein Bürger nichts mehr sehen.
Lass die Lampen stehn, ich bitt!- / Denn sonst spiel ich nicht mehr mit!«
Doch die Revoluzzer lachten, / und die Gaslaternen krachten,
und der Lampenputzer schlich / fort und weinte bitterlich.
Dann ist er zu Haus geblieben / Und hat dort ein Buch geschrieben:
nämlich, wie man revoluzzt / und dabei doch Lampen putzt.
Ab 1911 veröffentlicht er die anarchistische Zeitung Kain – Zeitschrift für Menschlichkeit, eine Kampfschrift gegen Krieg, kapitalistische Ausbeutung und staatliche Bevormundung. Sie erscheint neun Jahre. Im Kain ruft er zur Verbrüderung des Subproletariats von »Verbrechern, Landstreichern, Huren und Künstlern« auf.
Während des Ersten Weltkriegs versucht er erfolglos, einen internationalen Bund der Kriegsgegner zu gründen. Seine Rebellion gegen Krieg und Kapitalismus und seine antimilitaristische, pazifistische Gesinnung bleiben allerdings weitgehend wirkungslos. Viele leidenschaftliche Gedichte und Zeitungsbeiträge aus der Zeit belegen seine politische Einstellung. Er ruft Soldaten auf, Drill und Gehorsam zu verweigern, die Herrschaft des Militarismus abzuschütteln, er ruft zum Generalstreik auf und proklamiert eine Friedenssehnsucht über alle Gräben hinweg.
In dieser Zeit heiratet er seine Lebenspartnerin Kreszentia »Zenzl« Elfinger, die ihn bis 1962 überlebt. Ende des Ersten Weltkriegs wird Mühsam wegen Weigerung, am »Vaterländischen Hilfsdienst« teilzunehmen, verhaftet und zu sechs Monaten Festungshaft verurteilt.
Als einer der ersten Initiatoren der Bayerischen Novemberrevolution, zusammen mit Ernst Toller und Gustav Landauer, tritt er dem Revolutionären Zentralrat bei und ruft 1919 den Freistaat Bayern als demokratischen Räterepublik aus. Durch den sogenannten »Palmsonntagputsch« republikanischer Schutztruppen, Reichswehr und rechtsnationaler Freikorpsverbände wird das sozialistische Experiment der Münchner Räterepublik beendet. Erich Mühsam wird zusammen mit anderen Verhafteten erst in der Festungshaftanstalt Ansbach, später im Gefängnis Niederschönenfeld bis 1924 inhaftiert.
Direkt nach seiner Entlassung zieht er nach Berlin und gibt die anarchistische Zeitschrift Fanal heraus und betätigt sich weiterhin als unermüdlicher Aktivist. Das Zusammengehen aller revolutionären Kräfte ist für Mühsam eine politische Notwendigkeit wie auch seine Herzenzangelegenheit. Zwischen diesen beiden Polen positioniert er sein politisches Weltbild, und überall sitzt er zwischen allen Stühlen. Für ihn muss die Ablösung des Kapitalismus der Sozialismus sein. »Nur die ideale Forderung in ihrem weitesten Umfang schafft Fortschritt im engen Kreis. Die Utopie ist die Vorbedingung jeder Entwicklung«, schreibt er im »Idealistischen Manifest«. 1919 tritt Mühsam kurzzeitig der KPD bei, ruft zur Unterstützung der Russischen Revolution auf, verlässt die Partei jedoch ein Jahr später bereits.
In der Zeit zwischen 1925 bis 1929 engagiert er sich unermüdlich mit programmatischen Schriften und Vorträgen für die Gefangenenhilfsorganisation Rote Hilfe Deutschland, um inhaftierte Genossen in der Haft zu unterstützen. Aus diesem Grund wird er von der anarchistischen FKAD ausgeschlossen, die ihm eine zu große Nähe zur KPD vorwirft. Aber auch aus der Roten Hilfe tritt er 1929 aus, da sie entschieden hat, ausschließlich KPD-Genossen zu unterstützen und ihre Überparteilichkeit aufgibt, eine politische Entwicklung, die die zunehmende Stalinisierung der KPD als Ursache hat.
Mit Beginn der dreißiger Jahre wird er dann Mitglied in der anarcho-syndikalistischen FAUD, was ihn aber nicht davon abhält, auch politisch-satirische Beträge unter dem Pseudonym »Tobias« in bürgerlichen Organen wie dem Ulk und dem Berliner Tageblatt zu veröffentlichen.
Früh erkennt Mühsam die Gefahr des heraufziehenden Faschismus und warnt als einer der Ersten vor dem Erstarken des Nationalsozialismus. In der Nacht auf den 28. Februar 1933 wird er von der SA verhaftet und nach über 16-monatiger »Schutzhaft« von der SS ermordet. Als Rätesozialist, anarchistischer Publizist, Jude, Antimilitarist und Rebell gegen Untertanengeist ist er den Nationalsozialisten besonders verhasst. Unzählige Mal geprügelt und misshandelt, die Finger gebrochen, um ihn am Schreiben zu hindern, wird er mit einer Giftspritze getötet, und um einen Suizid vorzutäuschen, in der Toilette aufgehängt. In der Nacht vor seinem Tod bekennt er einem Mitgefangenen gegenüber, dass er niemals in den Freitod gehen werde – eine letzte Form seines Widerstands.
Beerdigt liegt Erich Mühsam zusammen mit seiner Frau »Zenzl« auf dem Berliner Waldfriedhof in Dahlem, ein Ehrengrab der Stadt Berlin. Gedenksteine für ihn wurden auf dem Gelände des ehemaligen KZ Oranienburg errichtet, dem Ort seines Todes. Eine Vielzahl von Straßen und Plätzen tragen seinen Namen. Die Erich Mühsam-Gesellschaft verleiht den Erich-Mühsam-Preis nunmehr alle drei Jahre.
Sein lebenslanger Kampf war für ein würdiges Menschsein ohne Unterdrückung und für Gerechtigkeit unter gleichen Individuen. Moralisch aufrichtig, charismatisch, integer und ein unbeirrbarer Fundamentalkritiker, alles das war Erich Mühsam. In der Nacht vom 9. auf den 10. Juli 1934 verstarb er.