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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Erinnern, um zu vergessen

Am 30. Janu­ar 1933 wur­de Adolf Hit­ler durch Reichs­prä­si­dent Paul von Hin­den­burg zum Reichs­kanz­ler ernannt. Die Natio­nal­so­zia­li­sten fei­er­ten die Beru­fung Hit­lers als »Macht­er­grei­fung«. Der 30. Janu­ar galt als »Tag der Macht­über­nah­me«. Die dama­li­ge Nazi-Sprech­wei­se hat sich bis heu­te erhal­ten, nicht zuletzt in den Schul­bü­chern. Die Main­stream-Medi­en über­bie­ten sich im rau­nen­den Geden­ken an neun­zig Jah­re »Macht­er­grei­fung«.

Die Rede von der »Macht­er­grei­fung« dient der Cha­rak­te­ri­sie­rung Hit­lers und sei­ner Par­tei als der dämo­ni­schen Usur­pa­to­ren staat­li­cher Macht. Das Wort »Macht­er­grei­fung« bedient ein Geschichts­nar­ra­tiv, das den Beginn des Natio­nal­so­zia­lis­mus auf ein fixes Datum fest­schreibt und nicht zu erken­nen gibt, dass sich der deut­sche Faschis­mus bereits mit der Nie­der­schla­gung der Räte­be­we­gung 1918/​19 ange­deu­tet hat.

Reichs­prä­si­dent Paul von Hin­den­burg hat­te sich lan­ge Zeit gewei­gert, Hit­ler zum Regie­rungs­chef zu beru­fen. Erst auf­grund einer Macht­in­tri­ge kon­ser­va­ti­ver Poli­ti­ker wur­de Hin­den­burg umge­stimmt. Er änder­te sei­ne ableh­nen­de Hal­tung gegen­über Hit­ler, nach­dem sein Ver­trau­ter, der Zen­trum-Poli­ti­ker Franz von Papen, das Gerücht eines Put­sches durch Gene­ral Kurt von Schlei­cher in einen real dro­hen­den Staats­streich umge­deu­tet hatte.

In der vom Reichs­prä­si­den­ten als bedroh­lich ein­ge­schätz­ten Situa­ti­on, und weil bei den für die Regie­rung vor­ge­se­he­nen Mini­stern die Mehr­heit den Kon­ser­va­ti­ven zuge­dacht war, änder­te Hin­den­burg sei­ne ableh­nen­de Hal­tung gegen­über einem Kabi­nett unter Hit­lers Kanz­ler­schaft. Was erin­ne­rungs­kul­tu­rell aus­ge­blen­det wird: Die Ein­set­zung Hit­lers als Kanz­ler ist nicht in erster Linie ein Ergeb­nis der Reichs­tags­wahl, son­dern die Fol­ge einer kon­ser­va­ti­ven Macht­in­tri­ge hin­ter den Kulissen.

Beim Geden­ken an den 30. Janu­ar 1933 wird der Öffent­lich­keit fer­ner die Ein­fluss­nah­me durch Reprä­sen­tan­ten der Ban­ken und des Groß­ka­pi­tals ver­schwie­gen. Bereits im Novem­ber 1932 hat­ten 19 pro­mi­nen­te Unter­neh­mer – dar­un­ter der Groß­in­du­stri­el­le Fritz Thys­sen – von Hin­den­burg gefor­dert, Hit­ler zum Reichs­kanz­ler zu ernen­nen. Die Hit­ler-Par­tei NSDAP bekam finan­zi­el­le Unter­stüt­zung aus Unter­neh­mer­krei­sen, u. a. vom Mon­tan-, Rüstungs- und Medi­en­un­ter­neh­mer Alfred Hugen­berg. Selbst aus den USA ist die För­de­rung Hit­lers durch die Wall Street und seit 1920 bereits durch den »Auto­kö­nig« Hen­ry Ford belegt.

Die Kon­zen­tra­ti­on der histo­ri­schen Rück­erin­ne­rung auf die Per­son des »natio­na­len Sozia­li­sten« Hit­ler und auf des­sen Ein­set­zung als Reichs­kanz­ler dient der Ablen­kung von der kon­ser­va­ti­ven Intri­ge und vom Ein­fluss des Kapi­tals. Nicht erin­nert wird fer­ner an die Rol­le des Mili­tärs und der Poli­zei, der Ärz­te­schaft und der Psy­cho­lo­gen, der Juri­sten und Kul­tur­schaf­fen­den, der Kir­chen und ihrer Ver­bän­de, auch des Deut­schen Roten Kreu­zes sowie der Pro­fes­so­ren- und Lehrerschaft.

Obgleich nicht alle Ange­hö­ri­gen die­ser Berufs­grup­pen fana­ti­sche Anhän­ger des NS-Regimes waren und Tei­le von ihnen sogar im Wider­stand kämpf­ten, stimm­te die Mehr­heit dem System zu oder ver­harr­te in poli­ti­scher Apa­thie. »Hit­ler war kein Betriebs­un­fall«, so der Histo­ri­ker Fritz Fischer. Im Geden­ken an die »Macht­er­grei­fung« am 30. Janu­ar 1933 wird all dies aus­ge­blen­det. Das allein auf Hit­lers Reichs­kanz­ler­schaft fokus­sier­te Erin­nern an den 30. Janu­ar 1933 dient dem Ver­ges­sen und der Ver­drän­gung der Vor­ge­schich­te sowie der Aus­blen­dung der wirt­schaft­li­chen, aber poli­tisch ent­schei­den­den Interessenzusammenhänge.

Die NS-fixier­te Rück­schau auf Ereig­nis­se der deut­schen Ver­gan­gen­heit in der Zeit von 1933 bis 1945 über­blen­det außer­dem die Ent­wick­lun­gen der Jetzt­zeit. Durch das Gedenk­mo­no­pol mit Bezug auf den deut­schen Faschis­mus an der Macht wird ober­fläch­lich ein »Nie wie­der!« zele­briert und dar­aus eine Recht­fer­ti­gung der herr­schen­den Ver­hält­nis­se abge­lei­tet. Auf die­se Wei­se legi­ti­miert wer­den – wie wir im Zusam­men­hang der Coro­na-Maß­nah­men erle­ben muss­ten – frei­heits­be­schrän­ken­de Maß­nah­men wie z. B. Demon­stra­ti­ons­ver­bo­te und Qua­ran­tä­ne-Ein­schlie­ßun­gen, will­kür­li­che Zen­sur und Poli­zei­ein­sät­ze, Rei­se­be­schrän­kun­gen und Berufsverbote.

So gese­hen lenkt die auf Hit­ler und die NSDAP ein­ge­schränk­te Erin­ne­rungs­kul­tur (bzw. -unkul­tur) im Ver­bund sowohl mit den Schrecken des Ukrai­ne­krie­ges als auch mit der Pro­pa­gan­da gegen retro­fa­schi­sti­sche Erschei­nun­gen und Gewalt­ta­ten davon ab, dass wir uns aktu­ell in einer poli­ti­schen, gesell­schaft­li­chen und öko­no­mi­schen Situa­ti­on befin­den, in der wir uns einer neu­en Art der anti­hu­ma­ni­sti­schem Faschi­sie­rung gegenübersehen.