Am 30. Januar 1933 wurde Adolf Hitler durch Reichspräsident Paul von Hindenburg zum Reichskanzler ernannt. Die Nationalsozialisten feierten die Berufung Hitlers als »Machtergreifung«. Der 30. Januar galt als »Tag der Machtübernahme«. Die damalige Nazi-Sprechweise hat sich bis heute erhalten, nicht zuletzt in den Schulbüchern. Die Mainstream-Medien überbieten sich im raunenden Gedenken an neunzig Jahre »Machtergreifung«.
Die Rede von der »Machtergreifung« dient der Charakterisierung Hitlers und seiner Partei als der dämonischen Usurpatoren staatlicher Macht. Das Wort »Machtergreifung« bedient ein Geschichtsnarrativ, das den Beginn des Nationalsozialismus auf ein fixes Datum festschreibt und nicht zu erkennen gibt, dass sich der deutsche Faschismus bereits mit der Niederschlagung der Rätebewegung 1918/19 angedeutet hat.
Reichspräsident Paul von Hindenburg hatte sich lange Zeit geweigert, Hitler zum Regierungschef zu berufen. Erst aufgrund einer Machtintrige konservativer Politiker wurde Hindenburg umgestimmt. Er änderte seine ablehnende Haltung gegenüber Hitler, nachdem sein Vertrauter, der Zentrum-Politiker Franz von Papen, das Gerücht eines Putsches durch General Kurt von Schleicher in einen real drohenden Staatsstreich umgedeutet hatte.
In der vom Reichspräsidenten als bedrohlich eingeschätzten Situation, und weil bei den für die Regierung vorgesehenen Ministern die Mehrheit den Konservativen zugedacht war, änderte Hindenburg seine ablehnende Haltung gegenüber einem Kabinett unter Hitlers Kanzlerschaft. Was erinnerungskulturell ausgeblendet wird: Die Einsetzung Hitlers als Kanzler ist nicht in erster Linie ein Ergebnis der Reichstagswahl, sondern die Folge einer konservativen Machtintrige hinter den Kulissen.
Beim Gedenken an den 30. Januar 1933 wird der Öffentlichkeit ferner die Einflussnahme durch Repräsentanten der Banken und des Großkapitals verschwiegen. Bereits im November 1932 hatten 19 prominente Unternehmer – darunter der Großindustrielle Fritz Thyssen – von Hindenburg gefordert, Hitler zum Reichskanzler zu ernennen. Die Hitler-Partei NSDAP bekam finanzielle Unterstützung aus Unternehmerkreisen, u. a. vom Montan-, Rüstungs- und Medienunternehmer Alfred Hugenberg. Selbst aus den USA ist die Förderung Hitlers durch die Wall Street und seit 1920 bereits durch den »Autokönig« Henry Ford belegt.
Die Konzentration der historischen Rückerinnerung auf die Person des »nationalen Sozialisten« Hitler und auf dessen Einsetzung als Reichskanzler dient der Ablenkung von der konservativen Intrige und vom Einfluss des Kapitals. Nicht erinnert wird ferner an die Rolle des Militärs und der Polizei, der Ärzteschaft und der Psychologen, der Juristen und Kulturschaffenden, der Kirchen und ihrer Verbände, auch des Deutschen Roten Kreuzes sowie der Professoren- und Lehrerschaft.
Obgleich nicht alle Angehörigen dieser Berufsgruppen fanatische Anhänger des NS-Regimes waren und Teile von ihnen sogar im Widerstand kämpften, stimmte die Mehrheit dem System zu oder verharrte in politischer Apathie. »Hitler war kein Betriebsunfall«, so der Historiker Fritz Fischer. Im Gedenken an die »Machtergreifung« am 30. Januar 1933 wird all dies ausgeblendet. Das allein auf Hitlers Reichskanzlerschaft fokussierte Erinnern an den 30. Januar 1933 dient dem Vergessen und der Verdrängung der Vorgeschichte sowie der Ausblendung der wirtschaftlichen, aber politisch entscheidenden Interessenzusammenhänge.
Die NS-fixierte Rückschau auf Ereignisse der deutschen Vergangenheit in der Zeit von 1933 bis 1945 überblendet außerdem die Entwicklungen der Jetztzeit. Durch das Gedenkmonopol mit Bezug auf den deutschen Faschismus an der Macht wird oberflächlich ein »Nie wieder!« zelebriert und daraus eine Rechtfertigung der herrschenden Verhältnisse abgeleitet. Auf diese Weise legitimiert werden – wie wir im Zusammenhang der Corona-Maßnahmen erleben mussten – freiheitsbeschränkende Maßnahmen wie z. B. Demonstrationsverbote und Quarantäne-Einschließungen, willkürliche Zensur und Polizeieinsätze, Reisebeschränkungen und Berufsverbote.
So gesehen lenkt die auf Hitler und die NSDAP eingeschränkte Erinnerungskultur (bzw. -unkultur) im Verbund sowohl mit den Schrecken des Ukrainekrieges als auch mit der Propaganda gegen retrofaschistische Erscheinungen und Gewalttaten davon ab, dass wir uns aktuell in einer politischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Situation befinden, in der wir uns einer neuen Art der antihumanistischem Faschisierung gegenübersehen.