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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Erich Kästner und ich

Lesern mei­nes Alters und deren Kin­dern braucht man nicht zu erklä­ren, war­um man von Erich Käst­ner gera­de­zu begei­stert sein konn­te, um nun an sei­nen 125. Geburts­tag am 23. Febru­ar zu erin­nern. Den jetzt Jün­ge­ren und Jüng­sten, die mit Har­ry Pot­ter oder Net­flix-Seri­en auf­ge­wach­sen sind, dage­gen schon. Ich als Dresd­ner hat­te dop­pel­ten Grund für Zuneigung.

Als mei­ne Kin­der in den sech­zi­ger und sieb­zi­ger Jah­ren ins lese­fä­hi­ge Alter hin­ein­wuch­sen, war es selbst­ver­ständ­lich, dass nicht nur Bücher über­haupt in unse­re Woh­nung kamen, son­dern unbe­dingt auch die von Erich Käst­ner. Umso mehr, weil in ihnen Kin­der sich stets als die pfif­fi­gen Hel­den erwei­sen, wäh­rend die Erwach­se­nen erzie­hungs­be­dürf­tig sind. Was heu­te mehr denn je gilt. Und dazu das zutiefst Mensch­li­che, das Käst­ner in jeder Ton­la­ge und auf jeder Sei­te wahrte.

So sam­mel­ten sich Emil und die Detek­ti­ve, Das dop­pel­te Lott­chen, Pünkt­chen und Anton, Das flie­gen­de Klas­sen­zim­mer und wei­te­re zu lan­ger Regal­rei­he an, erschie­nen in wech­seln­den DDR-Ver­la­gen: Kin­der­buch­ver­lag, Alt­ber­li­ner Ver­lag Lucie Gro­szer, der Auf­bau Ver­lag steu­er­te die Gedich­te Wie­so War­um und in der Taschen­buch­rei­he Als ich ein klei­ner Jun­ge war bei. Das Resul­tat war über­wäl­ti­gend, eins nach dem ande­ren löste in der gan­zen Fami­lie Begei­ste­rung aus. Sie hat sich bis in die Gegen­wart gehal­ten, da sie mit signi­fi­kan­ten Situa­tio­nen ver­knüpft ist. Selbst mei­ne Mut­ter wur­de ange­steckt und ließ sich neben Edgar Wal­lace auf Die ver­schwun­de­ne Minia­tur als Kri­mi ein.

Anfang der sech­zi­ger Jah­re hat­te ich es inzwi­schen zu Ver­öf­fent­li­chun­gen gebracht und wur­de Mit­glied im Schrift­stel­ler­ver­band. Ohne dass es abzu­se­hen war, ergab sich dadurch die Gele­gen­heit, Käst­ner zu begeg­nen. Zumin­dest unter Inter­es­sier­ten sprach sich her­um, Käst­ner käme nach Dres­den. Ich war gera­de­zu elek­tri­siert. Auch dass es sich um eine Gegen­ein­la­dung, eine Art Äqui­va­len­ten­tausch zur Ein­la­dung von Anna Seg­hers in ihre Geburts­stadt Mainz han­de­le, hör­te man. Was sich tat­säch­lich offi­zi­ell tat, war mir, wie allen außer der hand­voll Ein­ge­weih­ter, ver­bor­gen. Aber durch den Kul­tur­bund, der in der Goe­the­al­lee im sel­ben Haus wie der Schrift­stel­ler­ver­band unter­ge­bracht war, erfuhr man von der Unru­he, die in offi­zi­el­len Krei­sen herrsch­te. Bis hin zu Über­le­gun­gen, wo die Ver­an­stal­tung statt­fin­den sol­le, ob wie die mit Scho­loch­ow im Arden­ne­club, oder dem Inter­es­se gemäß im gro­ßen Saal des Hygie­ne­mu­se­ums oder gar im Kulturpalast.

Merk­wür­di­ger­wei­se ver­sieg­ten die Gerüch­te, Schwei­gen brei­te­te sich aus. Wie lei­der über vie­les geschwie­gen wur­de, auch über Sachen, die eigent­lich neben­säch­lich und belang­los schie­nen. Die sich in der Sum­me schließ­lich doch als kei­ne Neben­säch­lich­kei­ten erwei­sen sollten.

In mei­nem Roman Spä­te Rei­se, der 2006 bei Steidl erschien, habe ich end­lich den see­li­schen Fein­ge­halt des Erfah­rens (Käst­ner) an die Begeg­nung mit ihm zu erfas­sen ver­sucht. Soweit es die Erin­ne­rung zuließ.

Das Für und Wider die­ser Zeit dage­gen ist eine fest­sit­zen­de Erin­ne­rung für mich. Jedes Hin und Her von Per­so­nen über die Gren­ze zwi­schen den bei­den deut­schen Staa­ten geriet im Kal­ten Krieg bei­nah zum Poli­ti­kum. Anna Seg­hers wur­de bei ihrem zuvor statt­ge­fun­de­nen Besuch in Mainz als Prä­si­den­tin des Schrift­stel­ler­ver­ban­des der DDR – die im Westen immer noch als Ost­zo­ne im Umlauf war – längst nicht nur begrüßt, son­dern von Jour­na­li­sten für die gel­ten­den Pas­sier­schein­re­ge­lun­gen und die Grenz­an­la­gen über­haupt in Ver­ant­wor­tung genom­men. Auf die schließ­lich ihrer Bedeu­tung gemä­ße Fra­ge, wor­an sie arbei­tet, reagier­te sie gera­de­zu erlöst: End­lich eine lite­ra­ri­sche Frage!

Lei­der ver­hielt sich die DDR gegen­über Käst­ner kei­nes­wegs gene­rö­ser, auf ihre Wei­se. Die Ein­rei­se­er­laub­nis für Käst­ner wur­de auf sei­ne prä­si­dia­le Rol­le im west­deut­schen PEN redu­ziert, ein­ge­schnürt in ein Regle­ment, das alles, was ihn eigent­lich aus­mach­te, sei­ne lite­ra­ri­sche Bedeu­tung und die tie­fe Ver­bun­den­heit mit Dres­den, ausschloss.

Die Ver­an­stal­tung fand uner­war­tet im Gobe­lin­saal statt, eine zwar durch­aus reprä­sen­ta­ti­ve Ent­schei­dung. An der ehren­vol­len Wür­di­gung des Gastes soll­te es kei­nen Zwei­fel geben. Ein Streich­quar­tett der Staats­ka­pel­le trug als Umrah­mung dazu bei. Der Blu­men­strauß, der ihm zur Ver­ab­schie­dung über­reicht wur­de, war an Üppig­keit und Grö­ße nicht zu über­bie­ten. Die Kehr­sei­te der Ehrun­gen aller­dings war sofort unüber­seh­bar: Von den drei­hun­dert Plät­zen waren nicht mal alle besetzt.

Bereits auf dem Weg dahin geriet ich in gemisch­te Stim­mung. Ich wuss­te vom Aus­schluss der Öffent­lich­keit und frag­te mich nach den Grün­den, da sei­ne Bücher ja erschie­nen. Ich fra­ge es heu­te noch. An sei­ner pazi­fi­sti­schen Grund­hal­tung lag es wohl kaum. Die hat­te er vor drei­ßig Jah­ren mit dem Gedicht Kennst du das Land, wo die Kano­nen blühn als sati­risch-bit­te­re Begrü­ßung an die Nazis adres­siert und in Ossietz­kys Weltbühne stän­dig vor ihnen gewarnt. Als Red­ner bei Oster­mär­schen und mit sei­nem Pro­test gegen den Viet­nam­krieg und dem gegen eine gegen­wär­ti­ge Bücher­ver­bren­nung 1965 in Düs­sel­dorf, dar­un­ter auch eige­ne, hat­te er sie frag­los bei­be­hal­ten. Er war aner­ken­nend in der DDR-Pres­se erwähnt wor­den. Ich kann­te nichts, womit er sich gegen die DDR posi­tio­niert haben könn­te. Galt er als suspekt, weil er über die gesam­te Nazi­zeit in Deutsch­land geblie­ben war, als Augen­zeu­ge, wie er es selbst begrün­de­te, nicht nur der Bücherverbrennung?

Zwei Jah­re nach Kriegs­en­de bei einem sei­ner Auf­ent­hal­te in Dres­den hat­te durch Initia­ti­ve der sowje­ti­schen Mili­tär­ad­mi­ni­stra­ti­on, was eini­ges hieß, für ihn als gro­ßen deut­schen Schrift­stel­ler sogar ein ehren­der Emp­fang statt­ge­fun­den. Bei dem er wohl eine Rück­kehr nach Dres­den ablehn­te. Wovon frei­lich weder ich noch sonst jemand, wuss­te. Das wur­de total ver­schwie­gen. Für immer. Erst durch einen Bei­trag von Johan Zon­n­eveld, der 2012 im Tec­tum Ver­lag erschien, erfuhr ich jetzt davon. Nach sech­zig Jah­ren! Soll­te eine loka­le Hul­di­gung für einen Abtrün­ni­gen unter­bun­den wer­den? Ein wei­tes Feld für Mut­ma­ßun­gen, das tie­fer reicht, als man je ahnen konnte.

Mir schien, als Käst­ner damals den Raum betrat, in den Anstands­bei­fall hin­ein, war ihm anzu­se­hen, dass er wuss­te, was vor­ging. Ich glaub­te, dass man es ihm anse­hen soll­te. An die wei­te­re Begrü­ßung erin­ne­re ich mich kaum. Arnold Zweig, der PEN-Prä­si­dent der DDR, der mir selbst­ver­ständ­lich mehr als ein Begriff war, rei­ste krank­heits­be­dingt nicht an. Heinz Kam­nit­zer, der ihn ver­trat, den ich nicht kann­te, und wer aus dem Schrift­stel­ler­ver­band, Heinz Klemm, der Bezirks­vor­sit­zen­de, und wer sonst da war, all das sagt nicht viel, auch nicht, ob der Dresd­ner Ober­bür­ger­mei­ster auf­trat. Sie alle zügel­ten sich im Chor der Anwe­sen­den, obwohl sie bestens um sei­ne Bedeu­tung wuss­ten und sich all­zu gern auf ihn ein­ge­las­sen hät­ten. Ein aus­ge­such­tes Publi­kum, das sich schon beim mäßi­gen Begrü­ßungs­bei­fall zurück­ge­hal­ten hat­te. Nicht dass ich es beob­ach­te­te. Es war zu spü­ren. Ich rang mit einem Anflug von Scham, dazuzugehören.

Käst­ner las fast ohne Vor­be­mer­kun­gen aus Als ich ein klei­ner Jun­ge war und eini­ge Gedich­te, die ich lei­der nicht mehr nen­nen kann, die, wie ich sofort hin­ter­her fest­stell­te, in Wie­so War­um nicht ent­hal­ten waren. Erklärt allein das die Nicht­öf­fent­lich­keit? Ich blieb vol­ler Anspan­nung, im Raum kon­zen­trier­te Stil­le. So wie er, kaum wahr­nehm­bar, den Raum betre­ten hat­te, ver­ließ er ihn. Mit­tei­lun­gen über den Abend gab es kaum. Im Neu­en Deutsch­land, dem maß­stab­set­zen­den Par­tei­or­gan, erschien zwei Tage danach ein mini­ma­ler Bei­trag, sach­lich und nichts­sa­gend, ein­ge­zwängt zwi­schen Tagesinformationen.

An der Gar­de­ro­be, die sich in den düste­ren Gewöl­ben im Zwin­ger befand, bestä­tig­ten sich mei­ne ungu­ten Gefüh­le. Nach­dem die über­schau­ba­ren Besu­cher sich ver­lau­fen hat­ten, blie­ben, behaup­te ich, Gün­ter Jäckel, Ger­ma­nist an der TU, den ich gut kann­te, und ich mit dem zer­le­se­nen Exem­plar von Wie­so War­um und ban­gem Her­zen als ein­zi­ge, und war­te­ten. Gün­ter Jäckel mit dem schma­len Kin­der­buch Das Schwein beim Fri­sör, was ich für ihn merk­wür­dig fand. Doch gera­de dar­an erin­ne­re ich mich. Käst­ner kam in Beglei­tung eines Man­nes, der ihm in den Man­tel half (Jäckel sprach in einem Gespräch zwi­schen uns über den Abend von einer Dame). Mei­ne wei­te­re Erin­ne­rung beschränkt sich auf mein Ver­hal­ten. Nach­dem Käst­ner sei­nen Hut auf­ge­setzt hat­te, hielt ich ihm das Buch mit der Bit­te, es zu signie­ren, hin. Er nahm es, erfüll­te das Anlie­gen, gab mir das Buch zurück; ob mit einem Nicken, einem Wort oder wort­los, ist mir in mei­ner Anspan­nung unter­ge­gan­gen. Ich mei­ne, Käst­ner war eher zurück­hal­tend, nicht jovi­al, wie Jäckel fest­stell­te. So geht das – Von­ne­gut, einen ande­ren beein­drucken­den, zeit­wei­li­gen Dresd­ner zu Hil­fe geholt – mit Erinnerungen.

Nun hüte ich das Buch, mit dem typi­schen Erich-Käst­ner-Signum, das Erich und Käst­ner inein­an­der­flie­ßen lässt, ein­ge­reiht in das knap­pe Dut­zend mir ehren­wert signier­ter ande­rer Bücher.

Im Ver­lauf der Jahr­zehn­te, die seit­dem ver­gan­gen sind, bin ich nun zu einem der aller­letz­ten Zeu­gen der ein­zi­gen Ver­an­stal­tung gewor­den, die in der DDR mit Käst­ner statt­ge­fun­den hat. Wel­chen Wert hat so eine Zeugenschaft?