Lesern meines Alters und deren Kindern braucht man nicht zu erklären, warum man von Erich Kästner geradezu begeistert sein konnte, um nun an seinen 125. Geburtstag am 23. Februar zu erinnern. Den jetzt Jüngeren und Jüngsten, die mit Harry Potter oder Netflix-Serien aufgewachsen sind, dagegen schon. Ich als Dresdner hatte doppelten Grund für Zuneigung.
Als meine Kinder in den sechziger und siebziger Jahren ins lesefähige Alter hineinwuchsen, war es selbstverständlich, dass nicht nur Bücher überhaupt in unsere Wohnung kamen, sondern unbedingt auch die von Erich Kästner. Umso mehr, weil in ihnen Kinder sich stets als die pfiffigen Helden erweisen, während die Erwachsenen erziehungsbedürftig sind. Was heute mehr denn je gilt. Und dazu das zutiefst Menschliche, das Kästner in jeder Tonlage und auf jeder Seite wahrte.
So sammelten sich Emil und die Detektive, Das doppelte Lottchen, Pünktchen und Anton, Das fliegende Klassenzimmer und weitere zu langer Regalreihe an, erschienen in wechselnden DDR-Verlagen: Kinderbuchverlag, Altberliner Verlag Lucie Groszer, der Aufbau Verlag steuerte die Gedichte Wieso Warum und in der Taschenbuchreihe Als ich ein kleiner Junge war bei. Das Resultat war überwältigend, eins nach dem anderen löste in der ganzen Familie Begeisterung aus. Sie hat sich bis in die Gegenwart gehalten, da sie mit signifikanten Situationen verknüpft ist. Selbst meine Mutter wurde angesteckt und ließ sich neben Edgar Wallace auf Die verschwundene Miniatur als Krimi ein.
Anfang der sechziger Jahre hatte ich es inzwischen zu Veröffentlichungen gebracht und wurde Mitglied im Schriftstellerverband. Ohne dass es abzusehen war, ergab sich dadurch die Gelegenheit, Kästner zu begegnen. Zumindest unter Interessierten sprach sich herum, Kästner käme nach Dresden. Ich war geradezu elektrisiert. Auch dass es sich um eine Gegeneinladung, eine Art Äquivalententausch zur Einladung von Anna Seghers in ihre Geburtsstadt Mainz handele, hörte man. Was sich tatsächlich offiziell tat, war mir, wie allen außer der handvoll Eingeweihter, verborgen. Aber durch den Kulturbund, der in der Goetheallee im selben Haus wie der Schriftstellerverband untergebracht war, erfuhr man von der Unruhe, die in offiziellen Kreisen herrschte. Bis hin zu Überlegungen, wo die Veranstaltung stattfinden solle, ob wie die mit Scholochow im Ardenneclub, oder dem Interesse gemäß im großen Saal des Hygienemuseums oder gar im Kulturpalast.
Merkwürdigerweise versiegten die Gerüchte, Schweigen breitete sich aus. Wie leider über vieles geschwiegen wurde, auch über Sachen, die eigentlich nebensächlich und belanglos schienen. Die sich in der Summe schließlich doch als keine Nebensächlichkeiten erweisen sollten.
In meinem Roman Späte Reise, der 2006 bei Steidl erschien, habe ich endlich den seelischen Feingehalt des Erfahrens (Kästner) an die Begegnung mit ihm zu erfassen versucht. Soweit es die Erinnerung zuließ.
Das Für und Wider dieser Zeit dagegen ist eine festsitzende Erinnerung für mich. Jedes Hin und Her von Personen über die Grenze zwischen den beiden deutschen Staaten geriet im Kalten Krieg beinah zum Politikum. Anna Seghers wurde bei ihrem zuvor stattgefundenen Besuch in Mainz als Präsidentin des Schriftstellerverbandes der DDR – die im Westen immer noch als Ostzone im Umlauf war – längst nicht nur begrüßt, sondern von Journalisten für die geltenden Passierscheinregelungen und die Grenzanlagen überhaupt in Verantwortung genommen. Auf die schließlich ihrer Bedeutung gemäße Frage, woran sie arbeitet, reagierte sie geradezu erlöst: Endlich eine literarische Frage!
Leider verhielt sich die DDR gegenüber Kästner keineswegs generöser, auf ihre Weise. Die Einreiseerlaubnis für Kästner wurde auf seine präsidiale Rolle im westdeutschen PEN reduziert, eingeschnürt in ein Reglement, das alles, was ihn eigentlich ausmachte, seine literarische Bedeutung und die tiefe Verbundenheit mit Dresden, ausschloss.
Die Veranstaltung fand unerwartet im Gobelinsaal statt, eine zwar durchaus repräsentative Entscheidung. An der ehrenvollen Würdigung des Gastes sollte es keinen Zweifel geben. Ein Streichquartett der Staatskapelle trug als Umrahmung dazu bei. Der Blumenstrauß, der ihm zur Verabschiedung überreicht wurde, war an Üppigkeit und Größe nicht zu überbieten. Die Kehrseite der Ehrungen allerdings war sofort unübersehbar: Von den dreihundert Plätzen waren nicht mal alle besetzt.
Bereits auf dem Weg dahin geriet ich in gemischte Stimmung. Ich wusste vom Ausschluss der Öffentlichkeit und fragte mich nach den Gründen, da seine Bücher ja erschienen. Ich frage es heute noch. An seiner pazifistischen Grundhaltung lag es wohl kaum. Die hatte er vor dreißig Jahren mit dem Gedicht Kennst du das Land, wo die Kanonen blühn als satirisch-bittere Begrüßung an die Nazis adressiert und in Ossietzkys Weltbühne ständig vor ihnen gewarnt. Als Redner bei Ostermärschen und mit seinem Protest gegen den Vietnamkrieg und dem gegen eine gegenwärtige Bücherverbrennung 1965 in Düsseldorf, darunter auch eigene, hatte er sie fraglos beibehalten. Er war anerkennend in der DDR-Presse erwähnt worden. Ich kannte nichts, womit er sich gegen die DDR positioniert haben könnte. Galt er als suspekt, weil er über die gesamte Nazizeit in Deutschland geblieben war, als Augenzeuge, wie er es selbst begründete, nicht nur der Bücherverbrennung?
Zwei Jahre nach Kriegsende bei einem seiner Aufenthalte in Dresden hatte durch Initiative der sowjetischen Militäradministration, was einiges hieß, für ihn als großen deutschen Schriftsteller sogar ein ehrender Empfang stattgefunden. Bei dem er wohl eine Rückkehr nach Dresden ablehnte. Wovon freilich weder ich noch sonst jemand, wusste. Das wurde total verschwiegen. Für immer. Erst durch einen Beitrag von Johan Zonneveld, der 2012 im Tectum Verlag erschien, erfuhr ich jetzt davon. Nach sechzig Jahren! Sollte eine lokale Huldigung für einen Abtrünnigen unterbunden werden? Ein weites Feld für Mutmaßungen, das tiefer reicht, als man je ahnen konnte.
Mir schien, als Kästner damals den Raum betrat, in den Anstandsbeifall hinein, war ihm anzusehen, dass er wusste, was vorging. Ich glaubte, dass man es ihm ansehen sollte. An die weitere Begrüßung erinnere ich mich kaum. Arnold Zweig, der PEN-Präsident der DDR, der mir selbstverständlich mehr als ein Begriff war, reiste krankheitsbedingt nicht an. Heinz Kamnitzer, der ihn vertrat, den ich nicht kannte, und wer aus dem Schriftstellerverband, Heinz Klemm, der Bezirksvorsitzende, und wer sonst da war, all das sagt nicht viel, auch nicht, ob der Dresdner Oberbürgermeister auftrat. Sie alle zügelten sich im Chor der Anwesenden, obwohl sie bestens um seine Bedeutung wussten und sich allzu gern auf ihn eingelassen hätten. Ein ausgesuchtes Publikum, das sich schon beim mäßigen Begrüßungsbeifall zurückgehalten hatte. Nicht dass ich es beobachtete. Es war zu spüren. Ich rang mit einem Anflug von Scham, dazuzugehören.
Kästner las fast ohne Vorbemerkungen aus Als ich ein kleiner Junge war und einige Gedichte, die ich leider nicht mehr nennen kann, die, wie ich sofort hinterher feststellte, in Wieso Warum nicht enthalten waren. Erklärt allein das die Nichtöffentlichkeit? Ich blieb voller Anspannung, im Raum konzentrierte Stille. So wie er, kaum wahrnehmbar, den Raum betreten hatte, verließ er ihn. Mitteilungen über den Abend gab es kaum. Im Neuen Deutschland, dem maßstabsetzenden Parteiorgan, erschien zwei Tage danach ein minimaler Beitrag, sachlich und nichtssagend, eingezwängt zwischen Tagesinformationen.
An der Garderobe, die sich in den düsteren Gewölben im Zwinger befand, bestätigten sich meine unguten Gefühle. Nachdem die überschaubaren Besucher sich verlaufen hatten, blieben, behaupte ich, Günter Jäckel, Germanist an der TU, den ich gut kannte, und ich mit dem zerlesenen Exemplar von Wieso Warum und bangem Herzen als einzige, und warteten. Günter Jäckel mit dem schmalen Kinderbuch Das Schwein beim Frisör, was ich für ihn merkwürdig fand. Doch gerade daran erinnere ich mich. Kästner kam in Begleitung eines Mannes, der ihm in den Mantel half (Jäckel sprach in einem Gespräch zwischen uns über den Abend von einer Dame). Meine weitere Erinnerung beschränkt sich auf mein Verhalten. Nachdem Kästner seinen Hut aufgesetzt hatte, hielt ich ihm das Buch mit der Bitte, es zu signieren, hin. Er nahm es, erfüllte das Anliegen, gab mir das Buch zurück; ob mit einem Nicken, einem Wort oder wortlos, ist mir in meiner Anspannung untergegangen. Ich meine, Kästner war eher zurückhaltend, nicht jovial, wie Jäckel feststellte. So geht das – Vonnegut, einen anderen beeindruckenden, zeitweiligen Dresdner zu Hilfe geholt – mit Erinnerungen.
Nun hüte ich das Buch, mit dem typischen Erich-Kästner-Signum, das Erich und Kästner ineinanderfließen lässt, eingereiht in das knappe Dutzend mir ehrenwert signierter anderer Bücher.
Im Verlauf der Jahrzehnte, die seitdem vergangen sind, bin ich nun zu einem der allerletzten Zeugen der einzigen Veranstaltung geworden, die in der DDR mit Kästner stattgefunden hat. Welchen Wert hat so eine Zeugenschaft?