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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Erfahrene Armut

»Der Reich­tum der Gesell­schaf­ten, in wel­chen kapi­ta­li­sti­sche Pro­duk­ti­ons­wei­se herrscht, erscheint als eine ›unge­heu­re Waren­samm­lung‹, die ein­zel­ne Ware als sei­ne Ele­men­tar­form« (Karl Marx). Die­ser Reich­tum, der sich in »Kon­sum­tem­peln« feil­bie­tet und für sei­ne »Show­rooms« beste Stadt­la­gen besetzt, bannt die Häss­lich­keit von Armut, der er ent­springt, in eine wohl­weis­lich zu mei­den­de Peri­phe­rie der Trost­lo­sig­keit (no-go-are­as, ban­lieus, Plat­te). Nach einer »Wirtschaftswunder«-Phase, in der not­ge­drun­gen zuge­stan­de­ne, heu­te Kopf­schüt­teln (»Wahn­sinn!«) oder Weh­mut (»das waren noch Zei­ten!«) aus­lö­sen­de Lohn­hö­hen deut­sche »Wohl­stands­bür­ger« und »-bäu­che« (»Gast­ar­bei­ter« blie­ben auf Diät) ermög­lich­ten, lau­tet die gesell­schaft­li­che Bilanz: »Die fet­ten Jah­re sind vor­bei.« Es fällt zuse­hends schwe­rer, in das Man­tra »Uns geht’s ja noch gold« ein­zu­stim­men, wenn am Ende des Gelds immer noch Monat übrig ist.

Weil »Armut rel­oa­ded« mitt­ler­wei­le augen­fäl­lig ist und auch bei bis­lang von ihr Aus­ge­nom­me­nen begrün­de­te Abstiegs­äng­ste her­vor­ruft, erfährt sie seit eini­ger Zeit (populär-)wissenschaftliche und media­le Auf­merk­sam­keit, als Sach­the­ma sowie fik­tio­nal und (auto-)biografisch behan­delt. Unter­schied­li­che Dar­stel­lungs­an­sät­ze und Erzähl­per­spek­ti­ven vari­ie­ren die gemein­sa­me Auf­fas­sung, dass »die Armen immer mit uns sein wer­den«. (So lob­te ein­mal eine ame­ri­ka­ni­sche Tou­ri­stin deut­sche Schre­ber­gär­ten mit den Wor­ten »Eure Slums sind schö­ner als unse­re«. Immer­hin.) Wäh­rend sich For­men von Armut wan­deln, stellt die Befas­sung mit ihnen Fra­gen und gibt Ant­wor­ten, die schon Tra­di­ti­on haben. Dazu ein paar (immer noch) aktu­el­le Beispiele.

Da ist zum einen die Fest­stel­lung, die Gesell­schaft habe ein Pro­blem unge­rech­ter Ver­tei­lung von Reich­tum zu bewäl­ti­gen. Tho­mas Piket­ty rech­net vor, wie eine gleich­mä­ßi­ge­re Reich­tums­ver­tei­lung mit Staa­tes Hil­fe zum Segen aller erreicht wer­den könn­te. Des Staats tat­säch­li­che Gegen­rech­nung, die sich einer glo­bal erfolg­rei­chen Stand­ort­po­li­tik ver­schreibt, behan­delt Sozi­al­po­li­tik jedoch völ­lig unver­blümt und syste­ma­tisch als »schlech­te Kosten«. Schon Ber­tolt Brecht for­mu­lier­te in Kür­ze und Klar­heit den Zusam­men­hang: »Rei­cher Mann und armer Mann stan­den da und sah’n sich an. Und der arme sag­te bleich, wär ich nicht arm, wärst du nicht reich.« Die­ser von Brecht aus heu­ti­ger Sicht »unter­kom­plex« gedach­te Gegen­satz ver­steht sich auch für Piket­ty – er deu­tet ihn jedoch als Ergeb­nis von Gesell­schaft­lich­keit an sich. Auf der kon­struk­ti­ven Ver­wand­lung des Gegen­sat­zes in ein Pro­blem aller fußen sei­ne krea­ti­ven und aus­führ­li­chen Ent­wür­fe zu Abhil­fe und Lin­de­rung; schließ­lich und eigent­lich müss­ten mit rich­ti­ger Steue­rung skan­da­lö­se Fehl­ent­wick­lun­gen von Ver­tei­lung nicht sein. Darf man sich heu­te (noch?) unter­ste­hen, sol­che System­ver­träg­lich­keit »ver­söhn­le­risch« zu nen­nen? Wahr­schein­lich »nicht wirk­lich«, denn die Ver­hält­nis­se, sie sind nicht (mehr?) so. Piket­tys moder­ne Begriff­lich­keit, die gras­sie­ren­de Armut dem Wal­ten der Gene­ral­ab­strak­ti­on »gesell­schaft­li­cher Wan­del« zuschreibt, hat die Nase im Wind; sei­ne Schwar­ten wur­den Bestseller.

Ande­re so neue wie alte Vor­schlä­ge zur Bekämp­fung von Ver­tei­lungs­un­ge­rech­tig­keit fal­len uti­li­ta­ri­stisch-meri­to­kra­tisch aus und ent­hal­ten den Ver­dacht, dass die Armen irgend­wie »ein Stück weit« schon selbst an ihrem Los schuld sind. So stell­te Peter Slo­ter­di­jk den vom Staat aus­ge­beu­te­ten öko­no­mi­schen Höchst­lei­stern schma­rot­zen­de Nichts­tu­er gegen­über und an den Pran­ger. Nicht nur deren Null-Lei­stung sei ein Skan­dal – dazu kom­me auch noch als Extra-Unver­schämt­heit eine gro­ße Klap­pe beim Anmel­den unbe­rech­tig­ter Ansprü­che. Dem könn­te abge­hol­fen wer­den, indem der Staat auf­hör­te, Eigen­in­itia­ti­ve zu ersticken, und sich dazu über­wän­de, den ver­dien­ten Kräf­ten der Gesell­schaft den Tri­but für Unnüt­ze zu erspa­ren; im so gewon­ne­nen Frei­raum könn­te dann eine Geneigt­heit auf­blü­hen, nach eige­ner Gerech­tig­keit und Barm­her­zig­keit etwas für dann auch dank­ba­re Bedürf­ti­ge zu erüb­ri­gen. Was den Armen fehlt, sind Phil­an­thro­pen; derer gibt es noch zu weni­ge, da ihnen der staat­li­che Sozi­al­fe­ti­schis­mus das Leben schwermacht.

Neben die­ser Kla­ge und von Sar­ra­zin, der AfD, »Brandmauer«-Merz et al. geäu­ßer­ten For­de­run­gen, es müs­se end­lich »ein Ruck durch unser Land« (Roman Her­zog) gehen – das tut er, aber weni­ger sozi­al­po­li­tisch als krie­ge­risch hel­fend –, steht auch ein Ver­ständ­nis für die Nöte unver­schul­det Abge­häng­ter. Sei­ne erste Sor­ge gilt der Gefahr, dass Armut zu einem anstän­di­gen Staats­bür­ger­sein untaug­lich machen könn­te. Das kann man kon­sta­tie­ren, etwa so: »Arme haben an Poli­tik halt kein Inter­es­se«, und damit schon wie­der die impli­zi­te Schuld­fra­ge gelöst haben, oder bedau­ern: »Armen hört die Poli­tik nicht zu; sie haben ja kei­ne Lob­by.« Nun, Daseins­für­sor­ge fällt nie üppig aus, da sie zwar geschäfts­mä­ßig orga­ni­siert, aber immer noch ein »Over­head« von Reich­tums­pro­duk­ti­on ist. Austeri­tät rührt also nicht von man­geln­dem Zuhö­ren oder poli­ti­scher Abge­ho­ben­heit vom ein­fa­chen Volk. Zudem ver­tre­ten Belan­ge der Armen auch qua­li­fi­zier­te Spre­cher und Orga­ni­sa­tio­nen, aber sie müs­sen sich, was sie auch ein­se­hen, an Kosten/­Nut­zen-Kal­ku­la­tio­nen mes­sen las­sen. Des­halb gibt es auch kein Ende des Streits dar­um, wie viel an Maß­nah­men aus­rei­chend, d.h. vor allem »finan­zier­bar«, ist oder sein könn­te. An die­ser Ecke des Bud­gets sind die staat­li­chen Geber­hän­de chro­nisch gebun­den, und bei der Aus­ru­fung von edle­ren Zwecken die­nen­den Son­der­ver­mö­gen eben nicht. Man­chen Par­tei­en, die Sozia­les »trotz alle­dem« groß­schrei­ben wol­len, bie­ten die­se Umstän­de Gele­gen­heit, sich an der Erschlie­ßung von Wäh­ler­po­ten­ti­al auch in »unter­pri­vi­le­gier­ten Milieus« zu ver­su­chen, was z. B. der Gra­zer »K« mit einem umge­hend skan­da­li­sier­ten Wahl­sieg gelang. Die Ber­li­ner Bür­ger­mei­ste­rei hin­ge­gen – Mot­to: »Wenn­wa jebn, jebn­wa jern. Wir jebn aba nüscht« –kommt ohne »bil­li­ge Popu­lis­men« auch ganz gut aus.

Weni­ger Kon­junk­tur hat aus den ange­spro­che­nen Grün­den zur­zeit die Fra­ge, wo Armut begin­ne und auf­hö­re, und ob denn über­haupt legi­ti­mer­wei­se von ihr gespro­chen wer­den kön­ne – »selbst bei uns?!«. Schließ­lich (und mit dem Ein­satz von des Glückes Unter­pfand namens Tau­rus und Co. muss das nicht so blei­ben) geht es ande­ren anders­wo noch drecki­ger, viel­leicht ein­fach des­halb, weil »die Ein­ge­bo­re­nen das eben nicht gebacken krie­gen«. Davon über­zeugt sich slum­tou­ri­sti­scher Ras­sis­mus immer noch und immer wie­der gern. Sei­ner Besich­ti­gung zufol­ge tau­gen die zu Schuh­put­zern gemach­ten Orts­kräf­te nur zum Schu­he­put­zen. Tja. Aus solch infe­rio­rem Mate­ri­al, dem das deut­sche Gen abgeht, lässt sich wohl nicht viel machen. Das ist ein Stand­punkt, den so aus­zu­spre­chen »nicht okay« ist, aber in ent­spre­chend kor­rek­ter Auf­hüb­schung kann man ihn jeden Tag Zei­tun­gen und Leser­zu­schrif­ten entnehmen.

Ist Armut echt oder »nur gefühlt«? Ist sie wirk­lich so schlimm und aus­weg­los wie immer behaup­tet? Vor Jahr­zehn­ten such­ten Bar­ba­ra Ehren­reich (Nickel and Dimed) und Pol­ly Toyn­bee (Hard Work) nach einer Ant­wort auf Bob Dylans Fra­ge How does it feel, indem sie an sich selbst aus­pro­bier­ten, was es heißt, sich als Mit­glied der indu­stri­el­len Reser­ve­ar­mee zu ver­din­gen bzw. ohne Arbeit und nach ihr suchend über die Run­den zu kom­men. Die Damen schlu­gen den dem Gros des Fuß­volks vor­ge­ge­be­nen Weg der Erle­di­gung von Jobs für Unge­lern­te ein. Ergeb­nis: Sowohl die arbei­ten­den Armen als auch die »Stüt­ze« Bezie­hen­den sind Armut als einem Dau­er­zu­stand aus­ge­setzt, aus dem die ihnen ver­ord­ne­ten »Aus­we­ge« nicht her­aus­füh­ren. In bei­den, ohne­hin nicht streng geschie­de­nen Vari­an­ten wur­den sie aus­ge­presst, »bis es quietscht«.

Der Slo­gan »for the dir­ty, dull and dan­ge­rous« bewirbt nicht nur Waf­fen, son­dern trifft auch auf Arbeit als »Ver­aus­ga­bung von Hirn, Mus­kel, Nerv« zu. Und die muss man aus­hal­ten, unter Auf­sicht des Rechts, das auch den Rei­chen ver­bie­tet, unter Brücken zu schla­fen (Ana­to­le France). Das schließt ein, dass der in vie­len Fil­men von Ken Loach behan­del­te Kampf um Sub­si­stenz sich ange­sichts düste­rer lega­ler Per­spek­ti­ven auch des Ver­bo­te­nen und jeder Men­ge Gewalt, gegen sich und ande­re, bedient. In Roman­form stel­len das auch Sybil­le Berg, GRM, Nico­las Mathieu, Wie spä­ter ihre Kin­der, und nicht­fik­tio­nal Gila Lusti­gers Essay Erschüt­te­rung dar. Aber auch im Bereich der Mit­tel­schicht (jedoch nicht der von Fried­rich Merz) äußern sich Bit­ter­keit, Rat­lo­sig­keit, Wut, Suche nach Schul­di­gen und Selbst­hass (vgl. Anke Stel­ling, Schäf­chen im Trocke­nen): Mit der Dro­hung sozia­len Abstiegs rückt der Schock näher, der eige­ne gute Wil­le, alles rich­tig zu machen, habe sich nicht ausgezahlt.

Man soll sich nicht die But­ter vom Brot neh­men las­sen, heißt es ermun­ternd, aber ob sie dableibt, ent­schei­det man nicht selbst, son­dern z. B. ein Herr Ben­ko, der tat­säch­lich auch nur sei­ner, etwas ande­ren, Auf­ga­be nach­kommt, auf deren Sozi­al­ver­träg­lich­keit eine Frau Fahi­mi auf­passt. Das sei aber nun zu schwarz­ge­malt, wür­den beruf­li­che Lite­ra­tur­gour­mets hier ein­wen­den; zu trost­los Ange­rich­te­tes las­sen sie schon mal wegen Feh­lens des Posi­ti­ven (Phil­ipp Tin­gler) oder Ver­zagt­heit (San­dra Kegel) in die Autoren­kü­che zurück­ge­hen. Mer­ke: zu guter Letzt kommt es doch bei allem nur auf die Ein­stel­lung an; schließ­lich gibt es auch fröh­li­che Arme, viel­leicht sogar in der Nachbarschaft.

Dar­ren McGar­vey gehört, wie z. B. Chri­sti­an Baron (Ein Mann sei­ner Klas­se) und der sei­nen Wur­zeln ent­frem­de­te Intel­lek­tu­el­le Didier Eri­bon (Rück­kehr nach Reims), zu den »authen­ti­schen«, also glaub­wür­di­gen Autoren, die ange­sichts von selbst Erleb­tem nicht den Ver­dacht erre­gen, aus der Wohl­fühlecke über etwas zu berich­ten, das sie gar nicht rich­tig ken­nen könn­ten. Mit sei­nem Titel – Pover­ty Safa­ri – spricht McGar­vey schon an, was eine unge­fil­ter­te Kund­ga­be von Beschwer­den und Anlie­gen Armer behin­dert und ver­zerrt: Zum einen, dass sie einen Antrags­weg mit von oben aus­ge­wähl­ten und vor­de­fi­nier­ten Inhal­ten »so und nicht anders« absol­vie­ren müs­sen; zum ande­ren, dass ihnen ent­we­der die Opti­on fehlt, sich Gehör zu ver­schaf­fen, indem sie selbst für sich spre­chen, was ohne eine Arti­ku­liert­heit, einen erfolg­rei­chen Spracherwerb nicht geht; oder dass (was McGar­vey nicht wei­ter aus­führt) die Aus­drucks­fä­hig­keit für den Kampf gegen Kon­kur­ren­ten, gegen Gangs von neben­an, gegen im sozi­al­dar­wi­ni­sti­schen Jar­gon »Opfer«, »Loser«, »Bit­ches« Genann­te und für ein Influen­cer­we­sen genutzt wird. Am Reich­tum der Waren­welt fällt auf, dass es ihn gibt, und den müs­sen sich die Ein­zel­nen – Soli­da­ri­tät ist für Weich­ei­er – auf wel­che Wei­se auch immer besor­gen: »Was geht?« Bei­ßend beschreibt McGar­vey eine her­ab­las­sen­de Sozi­al­po­li­tik, die die Über­flüs­si­gen auf Aus­flü­gen begut­ach­tet und sowohl vor­her wie nach­her weiß, was das Beste ist. Wes­halb weiß sie das? An die­sem Punkt hält er inne und mahnt dazu, sich der Rich­tig­keit der eige­nen Posi­ti­on nie sicher zu sein und sie stets zu hin­ter­fra­gen; wie sonst lie­ße sich ein Aus­kom­men mit Armut errei­chen? Zumin­dest des­sen ist er sich sicher – ein schwa­cher Trost, aber Bett­ler kön­nen eben nicht wäh­le­risch sein.