»Der Reichtum der Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht, erscheint als eine ›ungeheure Warensammlung‹, die einzelne Ware als seine Elementarform« (Karl Marx). Dieser Reichtum, der sich in »Konsumtempeln« feilbietet und für seine »Showrooms« beste Stadtlagen besetzt, bannt die Hässlichkeit von Armut, der er entspringt, in eine wohlweislich zu meidende Peripherie der Trostlosigkeit (no-go-areas, banlieus, Platte). Nach einer »Wirtschaftswunder«-Phase, in der notgedrungen zugestandene, heute Kopfschütteln (»Wahnsinn!«) oder Wehmut (»das waren noch Zeiten!«) auslösende Lohnhöhen deutsche »Wohlstandsbürger« und »-bäuche« (»Gastarbeiter« blieben auf Diät) ermöglichten, lautet die gesellschaftliche Bilanz: »Die fetten Jahre sind vorbei.« Es fällt zusehends schwerer, in das Mantra »Uns geht’s ja noch gold« einzustimmen, wenn am Ende des Gelds immer noch Monat übrig ist.
Weil »Armut reloaded« mittlerweile augenfällig ist und auch bei bislang von ihr Ausgenommenen begründete Abstiegsängste hervorruft, erfährt sie seit einiger Zeit (populär-)wissenschaftliche und mediale Aufmerksamkeit, als Sachthema sowie fiktional und (auto-)biografisch behandelt. Unterschiedliche Darstellungsansätze und Erzählperspektiven variieren die gemeinsame Auffassung, dass »die Armen immer mit uns sein werden«. (So lobte einmal eine amerikanische Touristin deutsche Schrebergärten mit den Worten »Eure Slums sind schöner als unsere«. Immerhin.) Während sich Formen von Armut wandeln, stellt die Befassung mit ihnen Fragen und gibt Antworten, die schon Tradition haben. Dazu ein paar (immer noch) aktuelle Beispiele.
Da ist zum einen die Feststellung, die Gesellschaft habe ein Problem ungerechter Verteilung von Reichtum zu bewältigen. Thomas Piketty rechnet vor, wie eine gleichmäßigere Reichtumsverteilung mit Staates Hilfe zum Segen aller erreicht werden könnte. Des Staats tatsächliche Gegenrechnung, die sich einer global erfolgreichen Standortpolitik verschreibt, behandelt Sozialpolitik jedoch völlig unverblümt und systematisch als »schlechte Kosten«. Schon Bertolt Brecht formulierte in Kürze und Klarheit den Zusammenhang: »Reicher Mann und armer Mann standen da und sah’n sich an. Und der arme sagte bleich, wär ich nicht arm, wärst du nicht reich.« Dieser von Brecht aus heutiger Sicht »unterkomplex« gedachte Gegensatz versteht sich auch für Piketty – er deutet ihn jedoch als Ergebnis von Gesellschaftlichkeit an sich. Auf der konstruktiven Verwandlung des Gegensatzes in ein Problem aller fußen seine kreativen und ausführlichen Entwürfe zu Abhilfe und Linderung; schließlich und eigentlich müssten mit richtiger Steuerung skandalöse Fehlentwicklungen von Verteilung nicht sein. Darf man sich heute (noch?) unterstehen, solche Systemverträglichkeit »versöhnlerisch« zu nennen? Wahrscheinlich »nicht wirklich«, denn die Verhältnisse, sie sind nicht (mehr?) so. Pikettys moderne Begrifflichkeit, die grassierende Armut dem Walten der Generalabstraktion »gesellschaftlicher Wandel« zuschreibt, hat die Nase im Wind; seine Schwarten wurden Bestseller.
Andere so neue wie alte Vorschläge zur Bekämpfung von Verteilungsungerechtigkeit fallen utilitaristisch-meritokratisch aus und enthalten den Verdacht, dass die Armen irgendwie »ein Stück weit« schon selbst an ihrem Los schuld sind. So stellte Peter Sloterdijk den vom Staat ausgebeuteten ökonomischen Höchstleistern schmarotzende Nichtstuer gegenüber und an den Pranger. Nicht nur deren Null-Leistung sei ein Skandal – dazu komme auch noch als Extra-Unverschämtheit eine große Klappe beim Anmelden unberechtigter Ansprüche. Dem könnte abgeholfen werden, indem der Staat aufhörte, Eigeninitiative zu ersticken, und sich dazu überwände, den verdienten Kräften der Gesellschaft den Tribut für Unnütze zu ersparen; im so gewonnenen Freiraum könnte dann eine Geneigtheit aufblühen, nach eigener Gerechtigkeit und Barmherzigkeit etwas für dann auch dankbare Bedürftige zu erübrigen. Was den Armen fehlt, sind Philanthropen; derer gibt es noch zu wenige, da ihnen der staatliche Sozialfetischismus das Leben schwermacht.
Neben dieser Klage und von Sarrazin, der AfD, »Brandmauer«-Merz et al. geäußerten Forderungen, es müsse endlich »ein Ruck durch unser Land« (Roman Herzog) gehen – das tut er, aber weniger sozialpolitisch als kriegerisch helfend –, steht auch ein Verständnis für die Nöte unverschuldet Abgehängter. Seine erste Sorge gilt der Gefahr, dass Armut zu einem anständigen Staatsbürgersein untauglich machen könnte. Das kann man konstatieren, etwa so: »Arme haben an Politik halt kein Interesse«, und damit schon wieder die implizite Schuldfrage gelöst haben, oder bedauern: »Armen hört die Politik nicht zu; sie haben ja keine Lobby.« Nun, Daseinsfürsorge fällt nie üppig aus, da sie zwar geschäftsmäßig organisiert, aber immer noch ein »Overhead« von Reichtumsproduktion ist. Austerität rührt also nicht von mangelndem Zuhören oder politischer Abgehobenheit vom einfachen Volk. Zudem vertreten Belange der Armen auch qualifizierte Sprecher und Organisationen, aber sie müssen sich, was sie auch einsehen, an Kosten/Nutzen-Kalkulationen messen lassen. Deshalb gibt es auch kein Ende des Streits darum, wie viel an Maßnahmen ausreichend, d.h. vor allem »finanzierbar«, ist oder sein könnte. An dieser Ecke des Budgets sind die staatlichen Geberhände chronisch gebunden, und bei der Ausrufung von edleren Zwecken dienenden Sondervermögen eben nicht. Manchen Parteien, die Soziales »trotz alledem« großschreiben wollen, bieten diese Umstände Gelegenheit, sich an der Erschließung von Wählerpotential auch in »unterprivilegierten Milieus« zu versuchen, was z. B. der Grazer »K«PÖ mit einem umgehend skandalisierten Wahlsieg gelang. Die Berliner Bürgermeisterei hingegen – Motto: »Wennwa jebn, jebnwa jern. Wir jebn aba nüscht« –kommt ohne »billige Populismen« auch ganz gut aus.
Weniger Konjunktur hat aus den angesprochenen Gründen zurzeit die Frage, wo Armut beginne und aufhöre, und ob denn überhaupt legitimerweise von ihr gesprochen werden könne – »selbst bei uns?!«. Schließlich (und mit dem Einsatz von des Glückes Unterpfand namens Taurus und Co. muss das nicht so bleiben) geht es anderen anderswo noch dreckiger, vielleicht einfach deshalb, weil »die Eingeborenen das eben nicht gebacken kriegen«. Davon überzeugt sich slumtouristischer Rassismus immer noch und immer wieder gern. Seiner Besichtigung zufolge taugen die zu Schuhputzern gemachten Ortskräfte nur zum Schuheputzen. Tja. Aus solch inferiorem Material, dem das deutsche Gen abgeht, lässt sich wohl nicht viel machen. Das ist ein Standpunkt, den so auszusprechen »nicht okay« ist, aber in entsprechend korrekter Aufhübschung kann man ihn jeden Tag Zeitungen und Leserzuschriften entnehmen.
Ist Armut echt oder »nur gefühlt«? Ist sie wirklich so schlimm und ausweglos wie immer behauptet? Vor Jahrzehnten suchten Barbara Ehrenreich (Nickel and Dimed) und Polly Toynbee (Hard Work) nach einer Antwort auf Bob Dylans Frage How does it feel, indem sie an sich selbst ausprobierten, was es heißt, sich als Mitglied der industriellen Reservearmee zu verdingen bzw. ohne Arbeit und nach ihr suchend über die Runden zu kommen. Die Damen schlugen den dem Gros des Fußvolks vorgegebenen Weg der Erledigung von Jobs für Ungelernte ein. Ergebnis: Sowohl die arbeitenden Armen als auch die »Stütze« Beziehenden sind Armut als einem Dauerzustand ausgesetzt, aus dem die ihnen verordneten »Auswege« nicht herausführen. In beiden, ohnehin nicht streng geschiedenen Varianten wurden sie ausgepresst, »bis es quietscht«.
Der Slogan »for the dirty, dull and dangerous« bewirbt nicht nur Waffen, sondern trifft auch auf Arbeit als »Verausgabung von Hirn, Muskel, Nerv« zu. Und die muss man aushalten, unter Aufsicht des Rechts, das auch den Reichen verbietet, unter Brücken zu schlafen (Anatole France). Das schließt ein, dass der in vielen Filmen von Ken Loach behandelte Kampf um Subsistenz sich angesichts düsterer legaler Perspektiven auch des Verbotenen und jeder Menge Gewalt, gegen sich und andere, bedient. In Romanform stellen das auch Sybille Berg, GRM, Nicolas Mathieu, Wie später ihre Kinder, und nichtfiktional Gila Lustigers Essay Erschütterung dar. Aber auch im Bereich der Mittelschicht (jedoch nicht der von Friedrich Merz) äußern sich Bitterkeit, Ratlosigkeit, Wut, Suche nach Schuldigen und Selbsthass (vgl. Anke Stelling, Schäfchen im Trockenen): Mit der Drohung sozialen Abstiegs rückt der Schock näher, der eigene gute Wille, alles richtig zu machen, habe sich nicht ausgezahlt.
Man soll sich nicht die Butter vom Brot nehmen lassen, heißt es ermunternd, aber ob sie dableibt, entscheidet man nicht selbst, sondern z. B. ein Herr Benko, der tatsächlich auch nur seiner, etwas anderen, Aufgabe nachkommt, auf deren Sozialverträglichkeit eine Frau Fahimi aufpasst. Das sei aber nun zu schwarzgemalt, würden berufliche Literaturgourmets hier einwenden; zu trostlos Angerichtetes lassen sie schon mal wegen Fehlens des Positiven (Philipp Tingler) oder Verzagtheit (Sandra Kegel) in die Autorenküche zurückgehen. Merke: zu guter Letzt kommt es doch bei allem nur auf die Einstellung an; schließlich gibt es auch fröhliche Arme, vielleicht sogar in der Nachbarschaft.
Darren McGarvey gehört, wie z. B. Christian Baron (Ein Mann seiner Klasse) und der seinen Wurzeln entfremdete Intellektuelle Didier Eribon (Rückkehr nach Reims), zu den »authentischen«, also glaubwürdigen Autoren, die angesichts von selbst Erlebtem nicht den Verdacht erregen, aus der Wohlfühlecke über etwas zu berichten, das sie gar nicht richtig kennen könnten. Mit seinem Titel – Poverty Safari – spricht McGarvey schon an, was eine ungefilterte Kundgabe von Beschwerden und Anliegen Armer behindert und verzerrt: Zum einen, dass sie einen Antragsweg mit von oben ausgewählten und vordefinierten Inhalten »so und nicht anders« absolvieren müssen; zum anderen, dass ihnen entweder die Option fehlt, sich Gehör zu verschaffen, indem sie selbst für sich sprechen, was ohne eine Artikuliertheit, einen erfolgreichen Spracherwerb nicht geht; oder dass (was McGarvey nicht weiter ausführt) die Ausdrucksfähigkeit für den Kampf gegen Konkurrenten, gegen Gangs von nebenan, gegen im sozialdarwinistischen Jargon »Opfer«, »Loser«, »Bitches« Genannte und für ein Influencerwesen genutzt wird. Am Reichtum der Warenwelt fällt auf, dass es ihn gibt, und den müssen sich die Einzelnen – Solidarität ist für Weicheier – auf welche Weise auch immer besorgen: »Was geht?« Beißend beschreibt McGarvey eine herablassende Sozialpolitik, die die Überflüssigen auf Ausflügen begutachtet und sowohl vorher wie nachher weiß, was das Beste ist. Weshalb weiß sie das? An diesem Punkt hält er inne und mahnt dazu, sich der Richtigkeit der eigenen Position nie sicher zu sein und sie stets zu hinterfragen; wie sonst ließe sich ein Auskommen mit Armut erreichen? Zumindest dessen ist er sich sicher – ein schwacher Trost, aber Bettler können eben nicht wählerisch sein.