Erschlagen. Kann das ein Theaterstück? Kann der Erschlagene noch denken, kombinieren, Parallelen ziehen? Eine Rezension schreiben?
Oder ist er ganz kreatürlich auf sich geworfen? In den Sessel hineingedrückt? Mit immer wieder erschreckt sich schließenden Augen?
Dem Regisseur Kay Voges ist das im Hamburger Schauspielhaus gelungen mit seiner Inszenierung von José Saramagos Roman »Die Stadt der Blinden« (1995). Das Bühnenbild (Pia Maria Mackert): eine heruntergekommene große düstere Villa – eine ehemalige Irrenanstalt –, die dem Zuschauer dank der Drehbühne von allen Seiten Einblick gibt. Drumherum ein hoher Metallzaun mit NATO-Stacheldraht. Jeder, der sich ihm von innen nähert, verkündet der Lautsprecher, wird erschossen.
Drinnen in der Villa: Blinde. Zwei nicht ins Stück gehörende, überdeutlich sichtbare Kameramänner filmen die Schauspielenden bei jeglicher Verrichtung auch auf den von Kot überquellenden Klos. Alles wird auf eine Videowand über der Bühne übertragen und zugleich in einem magisch-grünen Licht auf die Wände der ebenfalls durch die Fenster einsehbaren Villa.
Bei Saramago kommt die Blindheit wie eine Epidemie über die Menschheit, niemand kennt die Ursache. Der Autor fühlt sich in die Situation von Ausgeschlossenen ein, als sei er einer von ihnen. Die zuerst Erblindeten werden in diese Anstalt verbannt, die in ihrer Anlage und Bewachung an Flüchtlingscamps erinnert. Jeglicher Kontakt soll vermieden werden. Diese »weiße Seuche« ist ansteckend. Kisten mit Essen werden im Außenbereich abgelegt. Lautsprecherdurchsagen geben Anleitung, was zu tun, vor allem, was verboten ist. Und schon ist der erste Blinde, der in die falsche Richtung läuft, erschossen. Der Kampf ums Essen entwickelt sich zum Krieg. Eine Gruppe – oben – beherrscht die anderen. Einer von ihnen hat eine Pistole, das Machtmittel. Die Videobilder zeigen alles in Großaufnahme, Ekel, Abscheu, Verzweiflung auf den Gesichtern.
Ein Mensch, die Frau (Sandra Gerling) des gleich zu Anfang eingelieferten Augenarztes (Christoph Jöde), kann sehen. Sie wollte ihren Mann nicht verlassen, verheimlicht ihre Nicht-Blindheit. Dieses Sehen-Können entwickelt sich für sie bald zu dem Zwang, sehen zu müssen. Sie hilft und unterstützt die zuerst kleine Gruppe, ständig in Angst, entdeckt zu werden. Es kommen immer mehr Infizierte dazu. Unerträgliche Zustände. Das, was schon im Roman kaum auszuhalten ist, wird in der hautnah projizierten Direktheit zur Folter. Die Musik (Paul Wallfisch) peitscht die Emotionen hoch. Eine Szene, offensichtlich zur Entspannung eingefügt, irritiert und verfälscht. Alle tanzen, lustvoll, nach den hohlen Klängen eines kleinen Radios. Einer, der später kam, hat es mitgebracht. Bei Saramago tanzt niemand. Da gibt es Nachrichten, Gerüchte, in Kürze werde eine Regierung der Einheit und nationalen Erlösung eingesetzt.
Kein Mensch hat in dieser Inszenierung einen Namen – wie im Roman. Die Schlaflose (Rosemary Hardy) darf Gustav-Mahler-Lieder singen. Sie taucht als weiße Gestalt überall auf, bewegt sich wie eine Schlafwandlerin. Die Frau mit Sonnenbrille, als Prostituierte bezeichnet, auch sie hilft, besonders dem einzigen Kind (Josefine Großkinsky), eine behinderte Schauspielerin, die sich bewundernswert ins Ensemble einfügt.
Die Situation der Unterdrückung überschlägt sich. Die da oben, wo die Pistole regiert und der »König der Blinden« (Maximilian Scheidt), wollen schließlich Bezahlung (Wertsachen) für das Essen, was sie horten: Draußen in der Welt gibt es auch nichts umsonst. Die Menschen werden langsam zu Tieren, zwangsweise. Es eskaliert bis zum menschlichen Fleisch – sie wollen nun die Frauen. Alles groß im Video, wenn auch verschwommen. Gleichzeitig stehen die Männer dieser Frauen regungslos am Stacheldrahtzaun, zur Hilflosigkeit verdammt. Die Frauen tasten sich wie im Bild von Pieter Bruegel langsam zurück. Eine, die schon schwach war, die »Kleine«, stirbt auf der Treppe nach der Vergewaltigung. Sie wird von den anderen Frauen mit Tüchern gereinigt, die Besudelung abgewaschen. Eine berührende, schwesterliche Geste. Die Frau des Arztes, die auch Opfer war und die zynischen Reden des Pistolenmannes mitanhören musste, sie wird zur Täterin, nimmt ihre Schere und ersticht den Vergewaltiger.
Nicht lange danach geht die Irrenanstalt in Flammen auf. Die Bewacher sind schon weg, blind geworden. Die meisten können fliehen in eine Außenwelt, die auch nicht mehr sieht und zum Chaos geworden ist. Nichts ist mehr so, wie es einmal war. Die letzte Phase des Stücks spielt vor einer weißen Wand, auf die ein Auge projiziert wird. Totale Dunkelheit, dann blendende Helle, Lichtblitze, unerträglich. Der Zuschauer wird blind, die Blinden wieder sehend.
P.S.: Der Theaterzettel warnt: »Wir weisen darauf hin, dass im letzten Teil der Inszenierung massiv Blitzeffekte eingesetzt werden und es zu Blendungsreaktionen kommen kann.«