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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Erblindet im Theater

Erschla­gen. Kann das ein Thea­ter­stück? Kann der Erschla­ge­ne noch den­ken, kom­bi­nie­ren, Par­al­le­len zie­hen? Eine Rezen­si­on schreiben?

Oder ist er ganz krea­tür­lich auf sich gewor­fen? In den Ses­sel hin­ein­ge­drückt? Mit immer wie­der erschreckt sich schlie­ßen­den Augen?

Dem Regis­seur Kay Voges ist das im Ham­bur­ger Schau­spiel­haus gelun­gen mit sei­ner Insze­nie­rung von José Sara­ma­gos Roman »Die Stadt der Blin­den« (1995). Das Büh­nen­bild (Pia Maria Mackert): eine her­un­ter­ge­kom­me­ne gro­ße düste­re Vil­la – eine ehe­ma­li­ge Irren­an­stalt –, die dem Zuschau­er dank der Dreh­büh­ne von allen Sei­ten Ein­blick gibt. Drum­her­um ein hoher Metall­zaun mit NATO-Sta­chel­draht. Jeder, der sich ihm von innen nähert, ver­kün­det der Laut­spre­cher, wird erschossen.

Drin­nen in der Vil­la: Blin­de. Zwei nicht ins Stück gehö­ren­de, über­deut­lich sicht­ba­re Kame­ra­män­ner fil­men die Schau­spie­len­den bei jeg­li­cher Ver­rich­tung auch auf den von Kot über­quel­len­den Klos. Alles wird auf eine Video­wand über der Büh­ne über­tra­gen und zugleich in einem magisch-grü­nen Licht auf die Wän­de der eben­falls durch die Fen­ster ein­seh­ba­ren Villa.

Bei Sara­ma­go kommt die Blind­heit wie eine Epi­de­mie über die Mensch­heit, nie­mand kennt die Ursa­che. Der Autor fühlt sich in die Situa­ti­on von Aus­ge­schlos­se­nen ein, als sei er einer von ihnen. Die zuerst Erblin­de­ten wer­den in die­se Anstalt ver­bannt, die in ihrer Anla­ge und Bewa­chung an Flücht­lings­camps erin­nert. Jeg­li­cher Kon­takt soll ver­mie­den wer­den. Die­se »wei­ße Seu­che« ist ansteckend. Kisten mit Essen wer­den im Außen­be­reich abge­legt. Laut­spre­cher­durch­sa­gen geben Anlei­tung, was zu tun, vor allem, was ver­bo­ten ist. Und schon ist der erste Blin­de, der in die fal­sche Rich­tung läuft, erschos­sen. Der Kampf ums Essen ent­wickelt sich zum Krieg. Eine Grup­pe – oben – beherrscht die ande­ren. Einer von ihnen hat eine Pisto­le, das Macht­mit­tel. Die Video­bil­der zei­gen alles in Groß­auf­nah­me, Ekel, Abscheu, Ver­zweif­lung auf den Gesichtern.

Ein Mensch, die Frau (San­dra Ger­ling) des gleich zu Anfang ein­ge­lie­fer­ten Augen­arz­tes (Chri­stoph Jöde), kann sehen. Sie woll­te ihren Mann nicht ver­las­sen, ver­heim­licht ihre Nicht-Blind­heit. Die­ses Sehen-Kön­nen ent­wickelt sich für sie bald zu dem Zwang, sehen zu müs­sen. Sie hilft und unter­stützt die zuerst klei­ne Grup­pe, stän­dig in Angst, ent­deckt zu wer­den. Es kom­men immer mehr Infi­zier­te dazu. Uner­träg­li­che Zustän­de. Das, was schon im Roman kaum aus­zu­hal­ten ist, wird in der haut­nah pro­ji­zier­ten Direkt­heit zur Fol­ter. Die Musik (Paul Wall­fisch) peitscht die Emo­tio­nen hoch. Eine Sze­ne, offen­sicht­lich zur Ent­span­nung ein­ge­fügt, irri­tiert und ver­fälscht. Alle tan­zen, lust­voll, nach den hoh­len Klän­gen eines klei­nen Radi­os. Einer, der spä­ter kam, hat es mit­ge­bracht. Bei Sara­ma­go tanzt nie­mand. Da gibt es Nach­rich­ten, Gerüch­te, in Kür­ze wer­de eine Regie­rung der Ein­heit und natio­na­len Erlö­sung eingesetzt.

Kein Mensch hat in die­ser Insze­nie­rung einen Namen – wie im Roman. Die Schlaf­lo­se (Rose­ma­ry Har­dy) darf Gustav-Mahler-Lie­der sin­gen. Sie taucht als wei­ße Gestalt über­all auf, bewegt sich wie eine Schlaf­wand­le­rin. Die Frau mit Son­nen­bril­le, als Pro­sti­tu­ier­te bezeich­net, auch sie hilft, beson­ders dem ein­zi­gen Kind (Jose­fi­ne Groß­kin­sky), eine behin­der­te Schau­spie­le­rin, die sich bewun­derns­wert ins Ensem­ble einfügt.

Die Situa­ti­on der Unter­drückung über­schlägt sich. Die da oben, wo die Pisto­le regiert und der »König der Blin­den« (Maxi­mi­li­an Scheidt), wol­len schließ­lich Bezah­lung (Wert­sa­chen) für das Essen, was sie hor­ten: Drau­ßen in der Welt gibt es auch nichts umsonst. Die Men­schen wer­den lang­sam zu Tie­ren, zwangs­wei­se. Es eska­liert bis zum mensch­li­chen Fleisch – sie wol­len nun die Frau­en. Alles groß im Video, wenn auch ver­schwom­men. Gleich­zei­tig ste­hen die Män­ner die­ser Frau­en regungs­los am Sta­chel­draht­zaun, zur Hilf­lo­sig­keit ver­dammt. Die Frau­en tasten sich wie im Bild von Pie­ter Brue­gel lang­sam zurück. Eine, die schon schwach war, die »Klei­ne«, stirbt auf der Trep­pe nach der Ver­ge­wal­ti­gung. Sie wird von den ande­ren Frau­en mit Tüchern gerei­nigt, die Besu­de­lung abge­wa­schen. Eine berüh­ren­de, schwe­ster­li­che Geste. Die Frau des Arz­tes, die auch Opfer war und die zyni­schen Reden des Pisto­len­man­nes mit­an­hö­ren muss­te, sie wird zur Täte­rin, nimmt ihre Sche­re und ersticht den Vergewaltiger.

Nicht lan­ge danach geht die Irren­an­stalt in Flam­men auf. Die Bewa­cher sind schon weg, blind gewor­den. Die mei­sten kön­nen flie­hen in eine Außen­welt, die auch nicht mehr sieht und zum Cha­os gewor­den ist. Nichts ist mehr so, wie es ein­mal war. Die letz­te Pha­se des Stücks spielt vor einer wei­ßen Wand, auf die ein Auge pro­ji­ziert wird. Tota­le Dun­kel­heit, dann blen­den­de Hel­le, Licht­blit­ze, uner­träg­lich. Der Zuschau­er wird blind, die Blin­den wie­der sehend.

P.S.: Der Thea­ter­zet­tel warnt: »Wir wei­sen dar­auf hin, dass im letz­ten Teil der Insze­nie­rung mas­siv Blitz­ef­fek­te ein­ge­setzt wer­den und es zu Blen­dungs­re­ak­tio­nen kom­men kann.«