Der erste Eindruck, den man beim Betrachten des in vier Jahrzehnten entstandenen Werkes von Roger Loewig gewinnt, ist der einer Heterogenität stilistischer Intentionen, einer überbordenden Fülle der Themen und Motive. Loewig muss unter einem ungeheuren psychischen Druck gestanden und sich selbst alles Leid und Elend der Welt aufgeladen haben. Was sich da an Gefühlen und Beängstigungen in ihm aufgestaut hatte – die verlorene Heimat, die Verbrechen des Nationalsozialismus, Schuld und Sühne der Deutschen, die Bedrückungen im Realsozialismus, die Atomkriegsvisionen –, das suchte er nun in der Dichtung wie bildenden Kunst abzubauen, förmlich abzuarbeiten.
Warum er solch ein totalmenschliches Spannungsfeld auszuschreiten imstande war, erklärt sich schon aus der Biografie des Dichter-Künstlers. Der vor mehr als 80 Jahren in Schlesien Geborene wurde mit der Mutter 1945 aus der schlesischen Heimat vertrieben, schlug sich dann als Land- und Forstarbeiter in der Lausitz durch, absolvierte eine Lehrerausbildung und war dann 10 Jahre als Lehrer an Ostberliner Schulen tätig, nebenbei sich als Autodidakt intensiv dem Malen, Zeichnen und Schreiben widmend.
Wegen »staatsgefährdender Hetze und Propaganda in schwerwiegendem Falle« – der eigentliche Grund war eine erste Ausstellung in privaten Räumen mit Bildern über die Berliner Mauer – kam er 1963 in Stasi-Haft, Bilder und Manuskripte wurden beschlagnahmt und teilweise vernichtet. Ein Jahr später konnte er mit Mitteln aus dem Westen »freigekauft« werden. Aus dem Schuldienst entlassen, arbeitete Loewig, ständigen Repressalien ausgesetzt, als freischaffender Künstler, ganz auf private Käufer angewiesen. 1972 durfte er die DDR verlassen und bezog eine Atelierwohnung im Märkischen Viertel jenseits der Mauer. Aber auch im Westen blieb er ein »Heimatloser«, ein wirklicher Durchbruch war ihm auch hier nicht beschieden. 1997 starb er nach schwerer Krankheit, kurz vorher war ihm noch das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse verliehen worden.
Seit 1998 widmet sich eine Roger Loewig Gesellschaft in Berlin der Erschließung und Verbreitung des Loewigschen Werkes, und in der Stiftung Archiv der Akademie der Künste wurde ein Roger-Loewig-Archiv mit dem biografisch-literarischen Nachlass eingerichtet, während der bildkünstlerische Nachlass sich in der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur befindet.
Ein deutscher Künstler also, der weder im Osten noch im Westen sein Land gefunden hat, der im »Niemandsland« einer zerschnittenen Welt lebte. »Ich bleibe ein Landsucher auf der Suche nach Menschenland…« Loewigs Bild- und Dichtkunst sind eng miteinander verzahnt: Manche Gedichte bestehen aus aneinandergereihten Bildtiteln und umgekehrt – Zeichnungsfolgen tragen als Titel erste Verszeilen eines Gedichtzyklus. Loewigs Anfänge stehen ganz im Zeichen der Expressionisten, doch wollte er anstelle des expressionistischen Selbstmitleides ein umfassenderes Mitleid für die Opfer der Geschichte setzen. Drei großformatige Gouachen zu seinem Romanthema »Leskowiak« aus dem Jahre 1956 bilden den Auftakt; sie wurden 1995 in einem Zwischenboden der alten Köpenicker Wohnung aufgefunden und von der Stiftung Stadtmuseum Berlin angekauft. In expressiver Gebärdensprache sind auch die Rohrfederzeichnungen von 1962, »Bilder aus meinem Leben«, gehalten. Die Welt, in der er lebte, erschien ihm surreal, als eine Welt der Metaphern und Symbole, und mit dieser surrealen Welt hat er sich auseinandergesetzt. Der Tod der Mutter hatte monatelange Zeichenstudien in der Totenkammer eines Berliner Krankenhauses zur Folge. Die Lithografie, später auch die Radierung wurde für ihn bald wichtiger als die Malerei, weil sie seiner Neigung, in Zyklen zu arbeiten, entgegenkam.
In den wirbelnden, lastenden Rauchschwaden des Blattes »Brennende« aus dem »Jüdischen Zyklus« von 1965 sind menschliche Konturen nur zu ahnen. Auf dem Blatt »Zusammengeschmolzenes« (1965) treiben bis zur Unkenntlichkeit entstellte Köpfe und Leiber in erkalteter Lavamasse. Dann wieder brechen die Körper wie in Geschwüren auf, innere Organe und Gedärme werden bloßgelegt. »Großes Panorama« von 1965 zeigt wabernde, schlackenhafte Formen, aus denen menschliche Leiber, Torsi, die Mauern einer Stadt, Himmelskörper hervortreten. Kreuz- und Querverbindungen zwischen Vorder- und Hintergrund geben den Szenen Loewigs ein klaustrophobisch zusammengepresstes Aussehen. Aus der räumlichen Verdichtung gotischer Altarbilder entsteht der Schauplatz moderner Kreuzigungen und Kalvarien, eine ganze Psychogeschichte Europas.
Die Blätter der Folgen »Wirbelsäulenwälder« und »Im Sumpfland« scheinen sich zwischen Schöpfung und Apokalypse zu erstrecken. Wie absichtslos tauchen verwehende Gestalten, skelettierte Körper, amputierte Vogelwesen aus dem Amorphen auf. »Frostgeschwärzte Insekten« werden zu monumentalen Ungeheuern in »düsterem Totentanzflug«, »Stürzende Vögel« betten sich zu einem Leichenhügel, in den sanften Linien der anthropomorphen Landschaften lassen sich Menschen- und Tierkörper in ihren Umrissen erkennen. Eine weiträumige Landschaft breitet sich jetzt aus: Zwischenland, Erdland, Sumpfland, Dunkelascheland als Schicksalslandschaft. In Bildern und Gegenbildern ruft Loewig zur Bewahrung und Wiederherstellung des Menschenbildes, der Humanität auf.
Zwischen 1964 und 1972, aber dann auch wieder nach dem Mauerfall hatte der Maler-Poet in dem im Schweizerhaus-Stil veränderten Anwesen seines Freundes und Weggefährten Wolfgang Woizick oberhalb des Fläming-Ortes Belzig, mit einer herrlichen Panorama-Sicht, sein Refugium gefunden. Hier zog er sich zurück, durchstreifte die Landschaft des Flämings, zeichnete Feldsteinkirchen und verfallende Mühlen, fand in dieser Umwelt viele seiner künstlerischen wie literarischen Themen. Ab 2007 konnte dank der großzügigen Übereignung durch seinen bisherigen Besitzer, durch Spenden und erste Fördergelder eine grundlegende Sanierung des Woizickschen Hauses erfolgen und die Stiftung Roger Loewig Haus – als Museum und Gedenkstätte – eingerichtet werden. Die ständige Ausstellung, entstanden in Kooperation mit der Robert-Loewig-Gesellschaft e. V., ist an den Wochenenden für Besucher geöffnet und gibt eine spannungsvolle Übersicht von den frühen expressiven Gemälden und Papierarbeiten der 50er/60er Jahre bis zu den späten Fläming-Skizzen – in Kombination mit den gleichzeitig entstandenen lyrischen Texten.
Die Radierungsfolge »Masurische Insignien«, die späten Zeichnungen des märkischen Landes, der Oderlandschaft, des Hohen Fläming besitzen das, was Loewig als das Höchste für einen Künstler bezeichnete, »wie ein leiser Hauch zu sein, der die Stirnen berührt als Mahnung, nie zu vergessen, was nicht vergessen werden darf, als Warnung vor der Zerstörung der Erde und ihrer Lebewesen, als eine Bitte um Menschlichkeit«. Es ist die Stille eines ausklingenden Werkes, die auch uns stumm werden lässt.
Stiftung Roger Loewig Haus – Museum und Gedenkstätte. 14806 Bad Belzig, Flämingweg 6. Ständige Ausstellung, geöffnet Sa u. So 11-17 Uhr (bis 28. Oktober 2023) sowie nach Vereinbarung (Tel. 33841 636860, www.roger-loewig.de).