Wir hatten die Abfahrt nach Anklam verpasst und waren genötigt, die nächste zu nehmen und über eine von Bäumen gesäumte schmale Landstraße gen Osten zu fahren. Dass wir uns über vormals umkämpftes Territorium bewegten, schlossen wir aus einer Selbstermutigung am Wegesrand: »Wir haben Wallenstein geschafft. Wir haben die Wende geschafft. Wir schaffen auch Corona!« Behaupte keiner, die Pommern hätten keinen Humor.
Die Straße wand sich durch einige Siedlungen. Diese waren klein, aber die Entfernungen zwischen ihnen ziemlich groß. Und viele trugen den gleichen Gemeindenamen, was auf die Größe des Verwaltungsgebietes hinwies. Einmal machte die Asphaltpiste an einem Dorfteich einen Knick, und im Vorüberfahren nahm ich zwei Bronzefiguren vor grüner Trauerweidenkulisse wahr. Ich trat auf die Bremse. Was waren das für Kunstwerke? Hier, an diesem unbekannten Ort namens Quilow, der zur Gemeinde Groß Polzin gehörte? So stand es jedenfalls am Ortseingang.
Auf einem kleinen Täfelchen neben den wuchtigen überlebensgroßen Figuren las ich wenig später: »LPG-Bauern, Bronze, 1976 / Ludwig Engelhardt 1924 – 2001«. Was, von eben jenem Engelhardt, von dem in Berlin das berühmte Marx-Engels-Denkmal stammt? Die Figuren in der Hauptstadt sind glatt und ansehnlich, diese hier, nun ja, ein wenig rau und grobschlächtig, mit von schwerer Arbeit gezeichneten Händen und Gesichtern. Ich wusste, dass Engelhardt zumeist in Gummlin auf Usedom, am Stettiner Haff, gelebt und gearbeitet hatte. Unweit von hier also. Doch andererseits wähnte ich die beiden Figuren in Dorf Mecklenburg bei Wismar, sie sind in allen einschlägigen Registern gelistet. 1969 habe sie Engelhardt geliefert, hieß es auch. Die Genossenschaftsbauern sollen – laut Friedrich Nostiz in der Berliner Zeitung vom 11. September 2010 – so erschrocken gewesen sein, als sie die dicke Frau und den vierschrötigen Mann sahen, dass sie das Paar gleich im LPG-Gewächshaus einlagerten, also versteckten. 1976 – zum 30. Jahrestag der demokratischen Bodenreform – holten sie die Figuren jedoch wieder hervor und stellten sie zu einem Relief auf einen Feldsteinsockel.
Dort, so meinte ich, sollten sie eigentlich noch immer stehen. Zumindest fand sich nichts Gegenteiliges. »Seit 1995 Landeskunstbesitz von Mecklenburg-Vorpommern«, hieß es noch immer im Internet nebst Hinweis jedoch, dass es sich um einen Zweitguss handele.
War dies hier vielleicht der Erstguss? Weit und breit kein Hinweis. Nur ein Richtungspfeil: Wasserschloss.
Das leuchtete schneeweiß in der Sonne durch die gewaltigen Kastanien. Da und dort standen noch Gerüste an der Fassade, hinter dem hübschen Renaissance-Gebäude wuchs eine Treppenkonstruktion aus Stahl in die Höhe. Überall waren Handwerker unterschiedlicher Profession zugange. Eine große Tafel verriet, dass die Europäische Union hier »in Wachstum und Beschäftigung« investiere, und auch das Land bekundete, die »denkmalgerechte Instandsetzung« zu unterstützen. Als Bauherr war ein Förderverein Stiftung Kulturerbe im ländlichen Raum Mecklenburg-Vorpommern e. V. ausgewiesen. Wer verbarg sich dahinter?
Gegenüber vom Schloss entdeckte ich ein zweigeschossiges Backsteingebäude, beim Nähertreten durch ein Schild als Sitz der Bauleitung erkennbar. Hinter der Scheibe telefonierte ein Mann, ausgangs Dreißig vielleicht, offenkundig der Chef. Nach dem Telefonat kam er ins Freie und reagierte freundlich auf meine Frage, allerdings konnte auch er nicht sagen, wann und wie die beiden Engelhardt-Figuren hierhergekommen seien. Er lebe erst seit wenigen Jahren in Quilow. Mit seinem Freund Dirk Lagall sei er damals auf der Suche nach einem Häuschen im Grünen gewesen. Dabei hätten sie die Ruine entdeckt, dieses etwa 450 Jahre alte Schloss – wobei zur Wahrheit gehört, dass der Verfall erst nach der Wende einsetzte, nachdem es »leergezogen« worden war. Post, Schule und Mieter mussten das Weite suchen. Verschiedene Versuche einer Privatisierung waren gescheitert. Vielleicht waren die Auflagen des Denkmalschutzes zu hoch, eventuell bereits genügend Herren- und Gutshäuser in der Umgebung in Hotels verwandelt worden, dass kein weiteres benötigt wurde. Wer weiß. Jedenfalls kamen irgendwann Uwe Eichler, der Schauspieler, und der Lehrer Dirk Lagall aus Berlin des Wegs und meinten, da könne man doch ein Kulturhaus draus machen. Eichler hatte mit anderen 2006 im Prenzlauer Berg das Ballhaus Ost gegründet, eine Produktions- und Spielstätte für freie Theater- und Kunstprojekte. Warum also nicht eine vergleichbare Einrichtung in einer Region, die nicht gerade mit Musentempeln gesegnet ist und wo rechte Unkultur sich auch aus diesem Grunde breitmacht?
Wie Eichler erzählte, habe ihr Förderverein die zuständigen Stellen mit dem Nutzungskonzept überzeugt. Das Schloss sei nicht vorrangig für Touristen gedacht, aber auch: Unweit fließt die Peene, gibt es eine Kolonie Fischreiher und Stieleichen, die dort fast ein halbes Jahrtausend schon wachsen, und Großsteingräber, die zehn Mal so alt sind wie diese Bäume. Alles sehenswert und gut zu erwandern. In erster Linie, so Eichler, sei der Ort aber für Menschen aus der Region gedacht, die vorbeikommen, um Kaffee zu trinken oder Kultur zu genießen: Theater, Kino, Puppenspiel, Ausstellungen … Ein Anlaufpunkt. Viele Menschen seien nach der Wende weggegangen, kein Wunder, wenn man sieht, was die Treuhand auch hier veranstaltet habe. So Eichler weiter. Dorfgemeinschaften seien auseinandergerissen worden und die Folgen des Kulturbruchs bis heute zu spüren. Apfelkuchen schafft keine Infrastruktur, sagte Eichler auch, aber Kontakte. Die Menschen hier stehen morgens auf, fahren Dutzende Kilometer zur Arbeit, kommen abends nach Hause, kümmern sich um die Kinder und sitzen vorm Fernseher. Mehr ist hier nicht. Kaum Kontakte überm Zaun …
Anfänglich herrschte das gegenüber Fremden übliche Misstrauen bei den Alteingesessenen. Als Erste kamen die Mitglieder des benachbarten Trabi-Clubs mit einem Kasten Bier vorbei, dann die anderen Neugierigen, um zu schauen, was aus dem früheren Dorfmittelpunkt werden würde. Na, wenigstens keine Wessis, hieß es erleichtert, was der aus Essen stammende Eichler und der Saarländer Lagall nicht dementierten und den Befund als Anerkennung annahmen. Offenkundig gingen der bauleitende Schauspieler und der in Anklam tätige Pädagoge als Ossis durch. Weil sie sich mit Ausdauer ins Zeug legten für das Schloss und sich nicht anlegten mit den Anrainern und deren Lebensauffassungen. (Man kennt diverse West-Jammerarien und wissenschaftliche Befunde des Aufeinanderprallens konträrer Kulturen und Wertevorstellungen.)
Die Fassade des Schlosses strahlte bis 1815, als es schwedisch war, in Falunrot, wie man an Farbresten entdeckt hatte. Nun ist sie neutral weiß. Die Farbe der Unschuld. Inzwischen sind 4,9 Millionen Euro aus diversen Fördertöpfen verbaut, und im Sommer müssen noch die ersten Kulturveranstaltungen das Geld für die Heizung im Winter einspielen. Aber die Plastiken …? Da müsse ich mal beim Bürgermeister nachfragen, vielleicht wisse der mehr.
Sebastian Hornburg ist seit Mai 2019 im Amt. Für den jungen Mann aus der CDU hatte jeder zweite Wähler votiert; die beiden anderen Bewerberinnen kenne ich nicht, aber weshalb dieser Kandidat gewann, wird gleich klar – er ist von zupackender, hilfsbereiter Art und wirkt nicht nur entschlossen. Meine Frage kann er auch nur vage beantworten und holt Erkundigung ein beim Leiter des Museums im Steintor in Anklam, der ganz gewiss nicht zufällig den gleichen Namen trägt. Wilfried Hornburg war Lehrer in der DDR und später Kulturamtsleiter in Anklam. Er ist promoviert, kennt sich aus und liefert die Genesis des Kunstwerkes, die hier vermutlich zum ersten Male publiziert wird.
Willy Schäfer, Jahrgang 1927, gründete als Neubauer mit 25 Jahren in Groß Polzin die LPG Freier Bauer, es war die dritte Genossenschaft im Kreis Anklam. Sie muss offenbar sehr gut aus den Startlöchern gekommen sein, denn schon nach Jahresfrist wurde Schäfer der Titel »Held der Arbeit« verliehen. Im Unterschied zu anderen Helden, die vor der Zeit ausgezeichnet wurden, machte Schäfer seinem Titel Ehre: Er sorgte dafür, dass im Ort eine Gärtnerei mit Gewächshausanlagen und ein Sportplatz entstanden sowie ein Kulturhaus mit großem Saal und Gaststätte. Überdies kam er als Mitglied der Demokratischen Bauernpartei Deutschlands (DBD) auch irgendwann in die Volkskammer. So war das in der DDR damals. Es gibt übrigens ein Plakat aus dem Jahr 1958, das zeigt ein Porträt Willy Schäfers mit einem holpernden Zitat von ihm: »Den Sozialismus in unsren Dörfern zum Siege führen, können wir nur, wenn die ganze Dorfbevölkerung vereint in der Nationalen Front dafür schafft. Vorwärts zum III. Kongreß der Nationalen Front.« Gemeinsinn vor Eigensinn. Gute Idee.
Schäfer und Engelhardt kannten sich also. Mindestens seit 1964, als der LPG-Vorsitzende bei ihm für eine Büste Modell saß. Dann war das Kulturhaus fertig, und beide meinten, dass auch richtige Kunst dazugehörte. So entstand eben jene Figurengruppe, die 1969 am Eingang aufgestellt wurde. (Sieben Jahre später wurde ein Zweitguss gefertigt: Der steht noch heute an der Schweriner Straße in Dorf Mecklenburg – womit die Darstellung in der Berliner Zeitung von 2010 also ins Reich der Legende verwiesen ist: In Dorf Mecklenburg konnte 1969 noch nichts versteckt werden.)
Wahr hingegen ist, dass die LPG-Bäuerinnen und -Bauern auch in Groß Polzin mit den robusten Bronzeplastiken fremdelten. Nachdem Schäfer 1973 Quilow verlassen hatte, um LPG-Vorsitzender in Kaakstedt im Kreis Templin zu werden, stellte man die Figuren bei der Kartoffelsortieranlage in der Nähe des Friedhofs auf oder besser: ab. Später platzierte man sie am Dorfteich in Groß Polzin und schließlich, nach der Wende, im Hof der ehemaligen Möbelfabrik an der Demminer Landstraße, wo die Anklamer Grafik+Design-Schule eingezogen war. Als diese 2011 nach Greifswald weiterzog, kehrte das Paar in die Gemeinde Polzin zurück, an eben jenen exponierten Ort, wo es heute steht.
»Die Gemeinde Groß Polzin und der Ort Quilow können stolz darauf sein, diese Kunst im öffentlichen Raum zu besitzen«, sagte Wilfried Hornburg, der Museumsleiter. Und sein Sohn, der CDU-Bürgermeister, meinte, dass sie über Licht nachdenken, um die Figuren auch im Dunkeln leuchten zu lassen.
Nach der jahrzehntelangen Bilderstürmerei hierzulande wärmen Nachrichten wie diese das Herz. Und sie offenbaren zudem, wie nützlich die Wahl einer falschen Abfahrt mitunter sein kann. Umwege führen zu Zielen, von denen man vorher nichts wusste.