Es ist inzwischen unbestritten, dass die bundesdeutsche Justiz bei der Verfolgung von Naziverbrechen in weiten Teilen versagt hat. Über Jahrzehnte wurden Tatverdächtige nur halbherzig ins Visier genommen und, wenn überhaupt, verhielten sich die Ermittlungsbehörden nicht selten »wie der Jagdhund, der zur Jagd getragen werden muss« (F. K. Kaul). Auch die in den letzten Jahren gegen einige wenige 95-Jährige oder ältere Beschuldigte eingeleiteten Verfahren können diesen Makel nicht rückwirkend beseitigen. Die Auffassung, dass jeder, der in einem Konzentrationslager »Dienst« getan hat und auf diese Weise das Funktionieren der Mord- und Gewaltherrschaft unterstützte, auch wegen der Beihilfe zu solchen Untaten zu bestrafen ist, setzte sich auch erst im Jahr 2011 im Zusammenhang mit der Verurteilung von John Demjanjuk durch das Landgericht München II durch.
Seit knapp zwei Jahrzehnten wurden sukzessive mehrere wissenschaftliche Untersuchungen vorgelegt, die die Beschäftigung ehemaliger Nazijuristen in verschiedenen hohen Bundesbehörden – vom Bundesjustizministerium bis hin zur Generalbundesanwaltschaft – in den ersten Jahren der jungen Bundesrepublik bestätigen. Gegenwärtig wird untersucht, welche früheren Richter am Bundesarbeitsgericht ebenfalls so in die Nazi-Justiz verstrickt waren, dass sie nach der Zerschlagung des Hitlerfaschismus nicht hätten dort beschäftigt werden dürfen. Verschiedene juristische Standardwerke, die bei der Ausbildung und in der Praxis benutzt werden, wurden einst von nazibelasteten Juristen vorgelegt. Sie trugen dann in der Folge auch in der Regel deren Namen. Beim Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch beispielsweise arbeitete man noch bis vor kurzem mit dem »Palandt«.
Otto Palandt (1877-1951) »diente rückhaltlos dem Nationalsozialismus« und hat »insgesamt zu einer Vertiefung der nationalsozialistischen Unrechtsauffassung beigetragen«. Das ist das Ergebnis einer Studie, die dem früheren Präsidenten des Reichsjustizprüfungsamtes eine erhebliche Verstrickung in die NS- Justiz bescheinigt.
Bei dem »Schönfelder« wiederum handelte es sich um eine Gesetzessammlung der wesentlichen deutschen Gesetze, die in einem Loseblattband auf dem Laufenden gehalten und ergänzt wurden. Auch ihn gab es bereits zur Nazizeit. Heinrich Schönfelder (1902-1944) hatte sich vor allem bereits vor 1933 für die Einführung einer faschistischen Diktatur ausgesprochen.
Ein Dritter im Bunde ist Adolf Schönke, der einen Strafrechtskommentar herausgegeben hat, der noch bis vor kurzem weiterhin mit seinem Namen verbunden gewesen ist. Auch er war ein intensiver Verfechter der faschistischen Rechtsauffassungen. Erst jetzt hat der Verlag entschieden, das Werk künftig als »Tübinger Kommentar zum StGB« erscheinen zu lassen. Der »Palandt« wurde im Jahr 2021 in »Grüneberg« umbenannt und im gleichen Jahr der »Schönfelder« in Habersack. Beide Werke tragen nunmehr die Namen von Herausgebern, die nicht mehr in einer Nazitradition stehen.
Bis etwa Mitte der 1990er Jahre trug auch der Standardkommentar zur Strafprozessordnung noch den Namen von Eduard Dreher (1907-1996). Er war einst Staatsanwalt am Sondergericht in Innsbruck, wo er Todesstrafen wegen Bagatelldelikten beantragte. Ihm wurde bescheinigt, dass er politisch »vollkommen überzeugungstreu und verlässlich« in diesen Zeiten gewesen sei. Ab 1951 war er dann als leitender Ministerialbeamter im Bundesjustizministerium beschäftigt. Es gibt zumindest Hinweise darauf, dass er an einer 1968 erfolgten Änderung von § 50 des Strafgesetzbuches beteiligt gewesen sein soll, die letztlich zahlreichen Nazitätern zur Amnestie über die Hintertür verhalf.
Zu erwähnen wäre in dem Zusammenhang noch Theodor Maunz (1901-1993) der bereits 1933 der Nazipartei und der SA beigetreten war und sich in der Lehre und Forschung als nachhaltiger Unterstützer des faschistischen Regimes erwies. Nach dem Ende der Nazidiktatur lehrte er Verwaltungsrecht an der Universität in München und gab seit 1958 einen der bekanntesten Kommentare zum Bonner Grundgesetz heraus. Demgemäß war dieses Werk ebenfalls maßgeblich mit seinem Namen verbunden und erforderte eine Umbenennung, die auch 2021 erfolgt ist. Maunz und Dreher waren übrigens bereits 1968 im Braunbuch der DDR zu Kriegs- und Naziverbrechern in der BRD und Westberlin mit ihrer dunklen Vergangenheit erwähnt. Insgesamt dauerte es also fast acht Jahrzehnte bis die Namensgeber juristischer Standardwerke, die die Terrorjustiz unterstützten, beseitigt wurden. Der Bruch mit dieser Tradition war mehr als überfällig.