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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Einsamkeit unterm Gnadenbild

Han­na Sewald kann ihre Ein­sam­keit nicht durch­bre­chen. Obwohl sie mit ihren drei Söh­nen in einem betrieb­sa­men Zuhau­se lebt, bei ihrem Vater und des­sen neu­er Frau, in deren Wei­ma­rer »Haus mit der Madon­na«. Es wird im Roman so genannt, weil eines sei­ner Blei­glas­fen­ster die Got­tes­mut­ter mit dem Kind zeigt. Doch Maria, die Trö­ste­rin, die Gesprächs­part­ne­rin von Frau­en in Not, scheint zu schwei­gen. Auch Han­na schweigt. Denn sie ist die Wit­we des an einer Adolf-Hit­ler-Schu­le tätig gewe­se­nen und in den letz­ten Kriegs­ta­gen beim Volks­sturm gefal­le­nen Erzie­hers Albin Sewald. Der war zugleich aber auch ein begab­ter, fein­füh­li­ger Lyri­ker, der sei­ne Wer­ke publi­zier­te und Lehr­bü­cher konzipierte.

Nun ist es so, dass der Autor die­ses Romans, Till Sai­ler, im Jah­re 2023, eben­falls im Mit­tel­deut­schen Ver­lag, »Der Krieg mei­nes Vaters« erschei­nen ließ und in die­sem Buch die »wah­re« Geschich­te sei­nes Vaters Her­bert Sai­ler erzählt, doku­men­ta­risch, schmerz­lich genau auch dadurch, dass man mit den Gedich­ten die­ses Man­nes kon­fron­tiert wird. Die sind mit­un­ter von einer Zart­heit und Gefühls­fül­le, von einer Tie­fe und Gründ­lich­keit, dass es einem den Atem ver­schlägt. Und dann wie­der von einer völ­ki­schen Bru­ta­li­tät und Ver­rannt­heit, dass es einem wie­der­um den Atem raubt. (Übri­gens hat Till Sai­ler die­se Arbeit lan­ge vor sich her­ge­scho­ben, was man gut ver­ste­hen kann. Er erläu­tert sei­ne Inten­tio­nen im Vor­wort so: »Wie kann ein Mensch, intel­li­gent, sen­si­bel, gebil­det, einer Welt­sicht anhän­gen, die für mich geprägt ist durch Ego­is­mus, Bru­ta­li­tät und Men­schen­feind­lich­keit? Nein, als Pro­to­ty­pen eines ›Faschi­sten‹ sah ich mei­nen Vater nie. Und ich woll­te mir auch nicht einen ›guten Nazi‹ zurechtbiegen.«)

Wer nun, wie ich, zuerst »Der Krieg mei­nes Vaters« und danach den Roman »Haus mit der Madon­na« liest, gerät in die eigen­tüm­li­che Situa­ti­on, die Roman­hand­lung mit dem zu ver­glei­chen, was er über die zu Roman­fi­gu­ren Gewor­de­nen aus der doku­men­ta­ri­schen »Annä­he­rung« weiß. Die Über­ein­stim­mung ist erstaun­lich, obwohl Sai­ler im »Haus mit der Madon­na« eine ganz ande­re Geschich­te erzählt. Näm­lich die Han­na Sewalds in der kom­pli­zier­ten deut­schen Nach­kriegs­zeit, etwa 1947 beginnend.

Der einst erfolg­rei­che Erzie­her und völ­ki­sche Dich­ter Albin Sewald ist wie Her­bert Sai­ler tot, aber in den Vor­stel­lun­gen sei­ner Frau »schläft« er, ist also gewis­ser­ma­ßen anwe­send und gegen­wär­tig. Und das ist die fas­zi­nie­ren­de Stär­ke die­ses Romans, dass ein­drück­lich und glaub­haft gezeigt wird, wie stark die alten Prä­gun­gen wirk­ten, wie schwer der Abschied von ihnen war. Es war eben nicht so, wie es man gern zeig­te oder zu lesen gab, dass der Zusam­men­bruch des Nazi-Regimes gleich neue Men­schen erzeug­te. Han­na Sewald bleibt in vie­lem dem »Alten« ver­haf­tet. Das aber erschwert ihr das Leben unge­mein in Ver­hält­nis­sen, die sich als »neu« ver­ste­hen. Sie muss allein den Lebens­un­ter­halt für sich und ihre drei Söh­ne sichern, aber ire Arbeits­su­che schei­tert. Sie fin­det kei­ne Anstel­lung als Leh­re­rin, denn die »neu­en Men­schen« haben schon die Schalt­stel­len besetzt, und die »Jena­plan-Päd­ago­gik« Peter Peter­sens, bei dem Han­na stu­diert hat, wird miss­trau­isch beäugt. Sowje­ti­scher Ein­fluss macht sich, wie im gan­zen Osten Deutsch­lands, auch in der Päd­ago­gik geltend.

Trotz des gespann­ten Ver­hält­nis­ses zu ihrem Vater (er hat­te einst ihre Ehe miss­bil­ligt) Wil­helm Els­ner, Libe­ra­ler und Jurist, jetzt gar Mini­ster der Thü­rin­ger Lan­des­re­gie­rung, nimmt Han­na des­sen Ange­bot an, mit ihren Kin­dern nach Wei­mar zu kom­men und bei ihm im Haus zu woh­nen. Das ist das Haus mit der Madon­na. Damit ist sie aus der ärg­sten Not her­aus. Die Bedräng­nis­se jedoch blei­ben: Sie kann in den neu­en Ver­hält­nis­sen ein­fach nicht Fuß fas­sen, ein Gna­den­bild im Haus garan­tiert kei­ne Gnade.

Auch im Westen, wo man die »alten Ver­hält­nis­se« weit­aus bes­ser kon­ser­viert hat und wo sie gar auf Ver­eh­rer der Dicht­kunst ihres Man­nes trifft, gelingt ihr das nicht. Sie fühlt sich unwill­kom­men, ist es auch, sie bleibt ein­sam. So gibt sie die Plä­ne einer end­gül­ti­gen Umsied­lung in den Westen auf, in Wei­mar jedoch wer­den die Frei­räu­me knap­per, ihr Vater gerät in poli­ti­sche Nöte, denn die Grün­dung der DDR däm­mert herauf.

Und auch das Erschei­nen Tho­mas Manns in Wei­mar ändert nichts dar­an, dass die Zeit einer gewis­sen Libe­ra­li­tät schon wie­der zu Ende geht. Han­na erhält Gele­gen­heit, an einer Fest­ver­an­stal­tung im Wei­ma­rer Natio­nal­thea­ter teil­zu­neh­men, wo dem Dich­ter, den sie einst »Ver­rä­ter« nann­te, der Goe­the­preis ver­lie­hen wird. Frei­lich hat­te ihr Mann Albin immer die Wer­ke des Lau­rea­ten in einem beson­de­ren Bücher­fach ver­bor­gen. Tref­fen­der lässt sich die Zwie­späl­tig­keit Han­nas und ihres Man­nes kaum dar­stel­len. Und die im Buch eher sel­te­ne Iro­nie flackert auf, indem ein Dich­ter und künf­ti­ger Kul­tur­mi­ni­ster namens Johan­nes R. Becher eine hym­nisch gestal­te­te Elo­ge auf Tho­mas Mann hält.

Sel­ten hat man eine so weit gespann­te Dar­stel­lung, manch­mal viel­leicht gar zu weit gespann­te, aber doch unge­mein tief­grün­di­ge und weit­hin fes­seln­de Schil­de­rung jener Zwi­schen­welt nach dem Zwei­ten Welt­krieg und vor der Grün­dung der DDR gele­sen. Fami­li­en­ge­schich­te wird hier zur Geschich­te jenes Lan­des »im Däm­mer­schein«, wie Becher in einem sei­ner bes­se­ren Gedich­te schrieb. Man lernt begrei­fen, wie schwer inne­re Wand­lun­gen sind, wenn man sie nicht vor­täu­schen will – wie Han­na Sewald.

Ich habe, wie­wohl sie als klei­ne Eisen­bah­ner ganz ande­ren Sphä­ren ange­hör­ten als die Prot­ago­ni­sten des Romans oder der Vater Till Sai­lers, auch etwas über mei­ne Eltern erfah­ren und etwas ver­stan­den, näm­lich von ihrem Ver­hal­ten und ihren Reden in den frü­hen fünf­zi­ger Jahren.

 Till Sai­ler, Haus mit der Madon­na, Roman, Mit­tel­deut­scher Ver­lag 2021, 332 S., 25 €.