Hanna Sewald kann ihre Einsamkeit nicht durchbrechen. Obwohl sie mit ihren drei Söhnen in einem betriebsamen Zuhause lebt, bei ihrem Vater und dessen neuer Frau, in deren Weimarer »Haus mit der Madonna«. Es wird im Roman so genannt, weil eines seiner Bleiglasfenster die Gottesmutter mit dem Kind zeigt. Doch Maria, die Trösterin, die Gesprächspartnerin von Frauen in Not, scheint zu schweigen. Auch Hanna schweigt. Denn sie ist die Witwe des an einer Adolf-Hitler-Schule tätig gewesenen und in den letzten Kriegstagen beim Volkssturm gefallenen Erziehers Albin Sewald. Der war zugleich aber auch ein begabter, feinfühliger Lyriker, der seine Werke publizierte und Lehrbücher konzipierte.
Nun ist es so, dass der Autor dieses Romans, Till Sailer, im Jahre 2023, ebenfalls im Mitteldeutschen Verlag, »Der Krieg meines Vaters« erscheinen ließ und in diesem Buch die »wahre« Geschichte seines Vaters Herbert Sailer erzählt, dokumentarisch, schmerzlich genau auch dadurch, dass man mit den Gedichten dieses Mannes konfrontiert wird. Die sind mitunter von einer Zartheit und Gefühlsfülle, von einer Tiefe und Gründlichkeit, dass es einem den Atem verschlägt. Und dann wieder von einer völkischen Brutalität und Verranntheit, dass es einem wiederum den Atem raubt. (Übrigens hat Till Sailer diese Arbeit lange vor sich hergeschoben, was man gut verstehen kann. Er erläutert seine Intentionen im Vorwort so: »Wie kann ein Mensch, intelligent, sensibel, gebildet, einer Weltsicht anhängen, die für mich geprägt ist durch Egoismus, Brutalität und Menschenfeindlichkeit? Nein, als Prototypen eines ›Faschisten‹ sah ich meinen Vater nie. Und ich wollte mir auch nicht einen ›guten Nazi‹ zurechtbiegen.«)
Wer nun, wie ich, zuerst »Der Krieg meines Vaters« und danach den Roman »Haus mit der Madonna« liest, gerät in die eigentümliche Situation, die Romanhandlung mit dem zu vergleichen, was er über die zu Romanfiguren Gewordenen aus der dokumentarischen »Annäherung« weiß. Die Übereinstimmung ist erstaunlich, obwohl Sailer im »Haus mit der Madonna« eine ganz andere Geschichte erzählt. Nämlich die Hanna Sewalds in der komplizierten deutschen Nachkriegszeit, etwa 1947 beginnend.
Der einst erfolgreiche Erzieher und völkische Dichter Albin Sewald ist wie Herbert Sailer tot, aber in den Vorstellungen seiner Frau »schläft« er, ist also gewissermaßen anwesend und gegenwärtig. Und das ist die faszinierende Stärke dieses Romans, dass eindrücklich und glaubhaft gezeigt wird, wie stark die alten Prägungen wirkten, wie schwer der Abschied von ihnen war. Es war eben nicht so, wie es man gern zeigte oder zu lesen gab, dass der Zusammenbruch des Nazi-Regimes gleich neue Menschen erzeugte. Hanna Sewald bleibt in vielem dem »Alten« verhaftet. Das aber erschwert ihr das Leben ungemein in Verhältnissen, die sich als »neu« verstehen. Sie muss allein den Lebensunterhalt für sich und ihre drei Söhne sichern, aber ire Arbeitssuche scheitert. Sie findet keine Anstellung als Lehrerin, denn die »neuen Menschen« haben schon die Schaltstellen besetzt, und die »Jenaplan-Pädagogik« Peter Petersens, bei dem Hanna studiert hat, wird misstrauisch beäugt. Sowjetischer Einfluss macht sich, wie im ganzen Osten Deutschlands, auch in der Pädagogik geltend.
Trotz des gespannten Verhältnisses zu ihrem Vater (er hatte einst ihre Ehe missbilligt) Wilhelm Elsner, Liberaler und Jurist, jetzt gar Minister der Thüringer Landesregierung, nimmt Hanna dessen Angebot an, mit ihren Kindern nach Weimar zu kommen und bei ihm im Haus zu wohnen. Das ist das Haus mit der Madonna. Damit ist sie aus der ärgsten Not heraus. Die Bedrängnisse jedoch bleiben: Sie kann in den neuen Verhältnissen einfach nicht Fuß fassen, ein Gnadenbild im Haus garantiert keine Gnade.
Auch im Westen, wo man die »alten Verhältnisse« weitaus besser konserviert hat und wo sie gar auf Verehrer der Dichtkunst ihres Mannes trifft, gelingt ihr das nicht. Sie fühlt sich unwillkommen, ist es auch, sie bleibt einsam. So gibt sie die Pläne einer endgültigen Umsiedlung in den Westen auf, in Weimar jedoch werden die Freiräume knapper, ihr Vater gerät in politische Nöte, denn die Gründung der DDR dämmert herauf.
Und auch das Erscheinen Thomas Manns in Weimar ändert nichts daran, dass die Zeit einer gewissen Liberalität schon wieder zu Ende geht. Hanna erhält Gelegenheit, an einer Festveranstaltung im Weimarer Nationaltheater teilzunehmen, wo dem Dichter, den sie einst »Verräter« nannte, der Goethepreis verliehen wird. Freilich hatte ihr Mann Albin immer die Werke des Laureaten in einem besonderen Bücherfach verborgen. Treffender lässt sich die Zwiespältigkeit Hannas und ihres Mannes kaum darstellen. Und die im Buch eher seltene Ironie flackert auf, indem ein Dichter und künftiger Kulturminister namens Johannes R. Becher eine hymnisch gestaltete Eloge auf Thomas Mann hält.
Selten hat man eine so weit gespannte Darstellung, manchmal vielleicht gar zu weit gespannte, aber doch ungemein tiefgründige und weithin fesselnde Schilderung jener Zwischenwelt nach dem Zweiten Weltkrieg und vor der Gründung der DDR gelesen. Familiengeschichte wird hier zur Geschichte jenes Landes »im Dämmerschein«, wie Becher in einem seiner besseren Gedichte schrieb. Man lernt begreifen, wie schwer innere Wandlungen sind, wenn man sie nicht vortäuschen will – wie Hanna Sewald.
Ich habe, wiewohl sie als kleine Eisenbahner ganz anderen Sphären angehörten als die Protagonisten des Romans oder der Vater Till Sailers, auch etwas über meine Eltern erfahren und etwas verstanden, nämlich von ihrem Verhalten und ihren Reden in den frühen fünfziger Jahren.
Till Sailer, Haus mit der Madonna, Roman, Mitteldeutscher Verlag 2021, 332 S., 25 €.