Gerade zu Weihnachten war es – wie in jedem Jahr – für viele ein Problem: die Einsamkeit, das Alleinsein. Gefühlt alle anderen verbringen die Festtage mit ihrer Familie, zurück bleiben diejenigen, die niemanden haben, um zu feiern oder einfach zu reden. Auch die Bundesregierung hat Einsamkeit als Problem erkannt, vor allem wegen der gesundheitlichen Auswirkungen, und Ende 2023 ein »Strategiepapier gegen die Einsamkeit« veröffentlicht. In Großbritannien gibt es seit fünf Jahren sogar ein Einsamkeits-Ministerium.
Die Corona-Zeit war ein großer Verstärker von Einsamkeits-Gefühlen. Das öffentliche Leben wurde lahmgelegt, Studenten, die dabei waren, sich in ihrer Uni-Stadt ein neues Umfeld zu schaffen, standen plötzlich allein da, Jugendliche durften Freunde nicht treffen und konnten im online-Unterricht keine Beziehungen pflegen, Erwachsene saßen oftmals allein im Homeoffice. Eine Situation, die mit psychischen Folgen nachwirkt und zeigt, dass inzwischen nicht nur ältere Menschen betroffen sind, sondern gerade auch junge Menschen unter Einsamkeit leiden.
Aber auch ohne diese Ausnahme-Situation breitet sich Einsamkeit in unserer Gesellschaft immer weiter aus. Die Konsumgesellschaft neigt dazu, Individualismus zu stark zu betonen, Gemeinschaft kommt oftmals zu kurz. Gerade in den Städten mit ihren anonymen Strukturen ist das der Fall. Betroffen sind neben alten Menschen ohne engere Familie vor allem junge Menschen. So schreibt die Barmer: »Einsamkeit ist unter jungen Menschen kein seltenes Phänomen mehr. Spätestens seit Beginn der Pandemie ist der Leidensdruck junger Menschen im Alter zwischen 15 und 30 Jahren in den gesellschaftlichen Fokus gerückt. Erste Ergebnisse in diesem noch jungen Forschungsgebiet weisen auf die hohe Zahl der jungen Menschen hin, die sich einsam fühlen. So gaben 35,2 Prozent der Teilnehmenden einer repräsentativen Online-Umfrage im November 2020 an, dass sie sich einsam fühlen. Eine nachfolgende Untersuchung im Dezember 2021 zeigte einen leichten Anstieg der sich einsam fühlenden jungen Menschen auf 36,5 Prozent.«
Eine Forscherin der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf sagt: »Wir wissen, dass die Anzahl enger Freundschaften in den vergangenen zehn bis zwanzig Jahren deutlich abgenommen hat als Folge von Verstädterung.« Und weiter: »Wenn Sie einsam sind, werden Sie krank. Nicht nur physisch, sondern auch psychisch. Es entstehen Angststörungen, Depressionen, Abhängigkeiten bis hin zu Schizophrenie.«
Funktionierende Großfamilien gibt es heute nur noch selten – sie sind wegen Bevormundung und Enge auch oft nicht erwünscht, gerade bei jungen Menschen. Aber der Wunsch nach Gemeinschaft ist da, kann sich jedoch meistens nicht adäquat ausdrücken. In den 1970er Jahren bewirkte eine lebendige Wohngemeinschafts-Bewegung, dass Einsamkeitsgefühle seltener auftraten. Wohngemeinschaften, so es sie noch gibt, sind auch deutlich besser durch die Corona-Zeit gekommen, weil hier zumindest eine Kleingruppe mit ihren Verbindungen Bestand hatte, deren Mitglieder sich gegenseitig stützten. Das zeigt, wo ein Ansatz liegen könnte, Einsamkeitsgefühlen entgegenzuwirken, ein Ansatz, der von unten, von den Menschen selbst ausgehen kann. Denn nur so wird Selbstwirksamkeit erreicht.
Eine Wohngemeinschafts-Bewegung gibt es nicht mehr. Überlebt haben etliche größere Gemeinschaften, zumeist Öko-Gemeinschaften, die auch einen politischen Anspruch haben. Aber nichts spricht dagegen, diese Bewegung wiederaufleben zu lassen. Im Gegensatz zur Bewegung der 1970er Jahre sollte sie allerdings Generationen-übergreifend sein.
Aldous Huxley, bekannt durch Schöne Neue Welt, hat 1963 seinen letzten größeren Roman veröffentlicht, die Utopie Eiland. Darin beschreibt er eine Lebensform, die umfassender ist als die Kleinfamilie (die es bei ihm auch gibt), ohne dass die Menschen zusammenwohnen. Mutual Adoption Clubs nennt Huxley diese Zusammenschlüsse, bei der sich Menschen auf der Grundlage von Sympathie zusammentun, um sich gegenseitig zu unterstützen. Sie wohnen nicht unbedingt miteinander oder auch nur nahe beieinander, aber kennen sich intensiv. In Eiland klingt das so:
»Wir alle gehören einem MAC an – einem Patenschaftsverein auf Gegenseitigkeit. Jeder MAC besteht aus fünfzehn bis fünfundzwanzig gemischten Paaren. Frisch gebackene Bräute und Bräutigame, alte Hasen mit heranwachsenden Kindern, Großeltern und Urgroßeltern – jeder im Club übernimmt die Patenschaft für alle anderen. Neben unseren eigenen Blutsverwandten haben wir also unsere zusätzlichen, frei gewählten Mütter und Väter, zusätzliche Tanten und Onkel, zusätzliche Brüder und Schwestern, zusätzliche Babys und Kleinkinder und Teenager.«
Auf diese Weise entsteht eine ganz andere Art von Familie. Keine hermetisch abgeschlossene Kleinfamilie mit einer einzigen Einheit von Eltern, (manchmal) Großeltern und Geschwistern, sondern eine inklusive, nicht vorherbestimmte und freiwillige (Groß-)Familie. Zwanzig Paare von Vätern und Müttern, acht oder neun Ältere und ca. vierzig Kinder jeden Alters. Dazu müssen wir heute noch diejenigen rechnen, die Single bleiben, sich aber ebenfalls einer Großfamilie anschließen wollen. Insgesamt kommen so ca. 80 bis 100 Menschen aus den verschiedenen Generationen in einer Wahlfamilie zusammen, die Verantwortung füreinander übernehmen und in einer Struktur leben, die ein kleines Abbild der Gesellschaft ist. 80 bis 100 Menschen sind dabei eine Größe, die für jedes Mitglied überschaubar ist, wodurch anonyme Strukturen nicht so leicht auftauchen.
Unsere Kleinfamilie muss nicht scheitern, wenn die Mitglieder einander zugewandt sind und sich gegenseitig respektieren – aber oft genug scheitert sie an unseren menschlichen Unzulänglichkeiten, an der Enge der Kleinfamilie und der Unmöglichkeit, ihr zu entkommen. In Huxleys Utopie haben die Menschen die Möglichkeit, auf andere Paten auszuweichen, wenn die Stimmung in der eigenen Kleinfamilie der eigenen Gesundheit nicht zuträglich ist. Aber auch, wenn alles rund läuft, bietet die Großfamilie die Möglichkeit anderer Erfahrungen, die Möglichkeit von Veränderung, wenn man zeitweise mit anderen Mitgliedern des MACs lebt. Nicht nur, dass keine Einsamkeit aufkommt, sondern man lernt die ganze Vielfalt dieser ausgedehnten Familie kennen, all ihre Stärken und Schwächen und Absonderlichkeiten und Fertigkeiten. Und man kommt mit allen Generationen in Kontakt, lernt Rücksicht, Fürsorge und Respekt.
Es ist ein Leben innerhalb eines weitverzweigten Clans. Die israelischen Kibbuzim haben ihre Erfahrungen damit gemacht und in den existierenden Öko-Dörfern mit ihrer übersichtlichen Struktur geht es ähnlich zu. Auch andere Kulturen, v. a. indigene Gemeinschaften leben gut in solchen Strukturen. Daher kommt der Spruch: Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind zu erziehen. Oder eben eine große Wahlfamilie.
Doch in unseren heutigen Gesellschaften gilt: Die heilige Kleinfamilie soll nicht angetastet werden, denn sie und der freischwebende, oft einsame Single sind Grundlage dieses ökonomischen Systems, in dem der Konsum eine so tragende Rolle spielt. Ein Konsum, der oft genug der Einsamkeit und dem Unglücklich-sein entspringt. Wenn wir unser Glück, unsere Zufriedenheit im Austausch mit anderen Menschen finden, müssen wir uns nicht dem ständigen Konsum hingeben, sondern kümmern uns eher um den Nächsten, um unsere Gemeinschaft und um die Gesellschaft. Und das Gute ist: Wir können selbst damit anfangen, solche Wahlfamilien aufzubauen.