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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Einsamkeit

Gera­de zu Weih­nach­ten war es – wie in jedem Jahr – für vie­le ein Pro­blem: die Ein­sam­keit, das Allein­sein. Gefühlt alle ande­ren ver­brin­gen die Fest­ta­ge mit ihrer Fami­lie, zurück blei­ben die­je­ni­gen, die nie­man­den haben, um zu fei­ern oder ein­fach zu reden. Auch die Bun­des­re­gie­rung hat Ein­sam­keit als Pro­blem erkannt, vor allem wegen der gesund­heit­li­chen Aus­wir­kun­gen, und Ende 2023 ein »Stra­te­gie­pa­pier gegen die Ein­sam­keit« ver­öf­fent­licht. In Groß­bri­tan­ni­en gibt es seit fünf Jah­ren sogar ein Einsamkeits-Ministerium.

Die Coro­na-Zeit war ein gro­ßer Ver­stär­ker von Ein­sam­keits-Gefüh­len. Das öffent­li­che Leben wur­de lahm­ge­legt, Stu­den­ten, die dabei waren, sich in ihrer Uni-Stadt ein neu­es Umfeld zu schaf­fen, stan­den plötz­lich allein da, Jugend­li­che durf­ten Freun­de nicht tref­fen und konn­ten im online-Unter­richt kei­ne Bezie­hun­gen pfle­gen, Erwach­se­ne saßen oft­mals allein im Home­of­fice. Eine Situa­ti­on, die mit psy­chi­schen Fol­gen nach­wirkt und zeigt, dass inzwi­schen nicht nur älte­re Men­schen betrof­fen sind, son­dern gera­de auch jun­ge Men­schen unter Ein­sam­keit leiden.

Aber auch ohne die­se Aus­nah­me-Situa­ti­on brei­tet sich Ein­sam­keit in unse­rer Gesell­schaft immer wei­ter aus. Die Kon­sum­ge­sell­schaft neigt dazu, Indi­vi­dua­lis­mus zu stark zu beto­nen, Gemein­schaft kommt oft­mals zu kurz. Gera­de in den Städ­ten mit ihren anony­men Struk­tu­ren ist das der Fall. Betrof­fen sind neben alten Men­schen ohne enge­re Fami­lie vor allem jun­ge Men­schen. So schreibt die Bar­mer: »Ein­sam­keit ist unter jun­gen Men­schen kein sel­te­nes Phä­no­men mehr. Spä­te­stens seit Beginn der Pan­de­mie ist der Lei­dens­druck jun­ger Men­schen im Alter zwi­schen 15 und 30 Jah­ren in den gesell­schaft­li­chen Fokus gerückt. Erste Ergeb­nis­se in die­sem noch jun­gen For­schungs­ge­biet wei­sen auf die hohe Zahl der jun­gen Men­schen hin, die sich ein­sam füh­len. So gaben 35,2 Pro­zent der Teil­neh­men­den einer reprä­sen­ta­ti­ven Online-Umfra­ge im Novem­ber 2020 an, dass sie sich ein­sam füh­len. Eine nach­fol­gen­de Unter­su­chung im Dezem­ber 2021 zeig­te einen leich­ten Anstieg der sich ein­sam füh­len­den jun­gen Men­schen auf 36,5 Prozent.«

Eine For­sche­rin der Hein­rich-Hei­ne-Uni­ver­si­tät in Düs­sel­dorf sagt: »Wir wis­sen, dass die Anzahl enger Freund­schaf­ten in den ver­gan­ge­nen zehn bis zwan­zig Jah­ren deut­lich abge­nom­men hat als Fol­ge von Ver­städ­te­rung.« Und wei­ter: »Wenn Sie ein­sam sind, wer­den Sie krank. Nicht nur phy­sisch, son­dern auch psy­chisch. Es ent­ste­hen Angst­stö­run­gen, Depres­sio­nen, Abhän­gig­kei­ten bis hin zu Schizophrenie.«

Funk­tio­nie­ren­de Groß­fa­mi­li­en gibt es heu­te nur noch sel­ten – sie sind wegen Bevor­mun­dung und Enge auch oft nicht erwünscht, gera­de bei jun­gen Men­schen. Aber der Wunsch nach Gemein­schaft ist da, kann sich jedoch mei­stens nicht adäquat aus­drücken. In den 1970er Jah­ren bewirk­te eine leben­di­ge Wohn­ge­mein­schafts-Bewe­gung, dass Ein­sam­keits­ge­füh­le sel­te­ner auf­tra­ten. Wohn­ge­mein­schaf­ten, so es sie noch gibt, sind auch deut­lich bes­ser durch die Coro­na-Zeit gekom­men, weil hier zumin­dest eine Klein­grup­pe mit ihren Ver­bin­dun­gen Bestand hat­te, deren Mit­glie­der sich gegen­sei­tig stütz­ten. Das zeigt, wo ein Ansatz lie­gen könn­te, Ein­sam­keits­ge­füh­len ent­ge­gen­zu­wir­ken, ein Ansatz, der von unten, von den Men­schen selbst aus­ge­hen kann. Denn nur so wird Selbst­wirk­sam­keit erreicht.

Eine Wohn­ge­mein­schafts-Bewe­gung gibt es nicht mehr. Über­lebt haben etli­che grö­ße­re Gemein­schaf­ten, zumeist Öko-Gemein­schaf­ten, die auch einen poli­ti­schen Anspruch haben. Aber nichts spricht dage­gen, die­se Bewe­gung wie­der­auf­le­ben zu las­sen. Im Gegen­satz zur Bewe­gung der 1970er Jah­re soll­te sie aller­dings Gene­ra­tio­nen-über­grei­fend sein.

Aldous Hux­ley, bekannt durch Schö­ne Neue Welt, hat 1963 sei­nen letz­ten grö­ße­ren Roman ver­öf­fent­licht, die Uto­pie Eiland. Dar­in beschreibt er eine Lebens­form, die umfas­sen­der ist als die Klein­fa­mi­lie (die es bei ihm auch gibt), ohne dass die Men­schen zusam­men­woh­nen. Mutu­al Adop­ti­on Clubs nennt Hux­ley die­se Zusam­men­schlüs­se, bei der sich Men­schen auf der Grund­la­ge von Sym­pa­thie zusam­men­tun, um sich gegen­sei­tig zu unter­stüt­zen. Sie woh­nen nicht unbe­dingt mit­ein­an­der oder auch nur nahe bei­ein­an­der, aber ken­nen sich inten­siv. In Eiland klingt das so:

»Wir alle gehö­ren einem MAC an – einem Paten­schafts­ver­ein auf Gegen­sei­tig­keit. Jeder MAC besteht aus fünf­zehn bis fünf­und­zwan­zig gemisch­ten Paa­ren. Frisch gebacke­ne Bräu­te und Bräu­ti­ga­me, alte Hasen mit her­an­wach­sen­den Kin­dern, Groß­el­tern und Urgroß­el­tern – jeder im Club über­nimmt die Paten­schaft für alle ande­ren. Neben unse­ren eige­nen Bluts­ver­wand­ten haben wir also unse­re zusätz­li­chen, frei gewähl­ten Müt­ter und Väter, zusätz­li­che Tan­ten und Onkel, zusätz­li­che Brü­der und Schwe­stern, zusätz­li­che Babys und Klein­kin­der und Teenager.«

Auf die­se Wei­se ent­steht eine ganz ande­re Art von Fami­lie. Kei­ne her­me­tisch abge­schlos­se­ne Klein­fa­mi­lie mit einer ein­zi­gen Ein­heit von Eltern, (manch­mal) Groß­el­tern und Geschwi­stern, son­dern eine inklu­si­ve, nicht vor­her­be­stimm­te und frei­wil­li­ge (Groß-)Familie. Zwan­zig Paa­re von Vätern und Müt­tern, acht oder neun Älte­re und ca. vier­zig Kin­der jeden Alters. Dazu müs­sen wir heu­te noch die­je­ni­gen rech­nen, die Sin­gle blei­ben, sich aber eben­falls einer Groß­fa­mi­lie anschlie­ßen wol­len. Ins­ge­samt kom­men so ca. 80 bis 100 Men­schen aus den ver­schie­de­nen Gene­ra­tio­nen in einer Wahl­fa­mi­lie zusam­men, die Ver­ant­wor­tung für­ein­an­der über­neh­men und in einer Struk­tur leben, die ein klei­nes Abbild der Gesell­schaft ist. 80 bis 100 Men­schen sind dabei eine Grö­ße, die für jedes Mit­glied über­schau­bar ist, wodurch anony­me Struk­tu­ren nicht so leicht auftauchen.

Unse­re Klein­fa­mi­lie muss nicht schei­tern, wenn die Mit­glie­der ein­an­der zuge­wandt sind und sich gegen­sei­tig respek­tie­ren – aber oft genug schei­tert sie an unse­ren mensch­li­chen Unzu­läng­lich­kei­ten, an der Enge der Klein­fa­mi­lie und der Unmög­lich­keit, ihr zu ent­kom­men. In Hux­leys Uto­pie haben die Men­schen die Mög­lich­keit, auf ande­re Paten aus­zu­wei­chen, wenn die Stim­mung in der eige­nen Klein­fa­mi­lie der eige­nen Gesund­heit nicht zuträg­lich ist. Aber auch, wenn alles rund läuft, bie­tet die Groß­fa­mi­lie die Mög­lich­keit ande­rer Erfah­run­gen, die Mög­lich­keit von Ver­än­de­rung, wenn man zeit­wei­se mit ande­ren Mit­glie­dern des MACs lebt. Nicht nur, dass kei­ne Ein­sam­keit auf­kommt, son­dern man lernt die gan­ze Viel­falt die­ser aus­ge­dehn­ten Fami­lie ken­nen, all ihre Stär­ken und Schwä­chen und Abson­der­lich­kei­ten und Fer­tig­kei­ten. Und man kommt mit allen Gene­ra­tio­nen in Kon­takt, lernt Rück­sicht, Für­sor­ge und Respekt.

Es ist ein Leben inner­halb eines weit­ver­zweig­ten Clans. Die israe­li­schen Kib­bu­zim haben ihre Erfah­run­gen damit gemacht und in den exi­stie­ren­den Öko-Dör­fern mit ihrer über­sicht­li­chen Struk­tur geht es ähn­lich zu. Auch ande­re Kul­tu­ren, v. a. indi­ge­ne Gemein­schaf­ten leben gut in sol­chen Struk­tu­ren. Daher kommt der Spruch: Es braucht ein gan­zes Dorf, um ein Kind zu erzie­hen. Oder eben eine gro­ße Wahlfamilie.

Doch in unse­ren heu­ti­gen Gesell­schaf­ten gilt: Die hei­li­ge Klein­fa­mi­lie soll nicht ange­ta­stet wer­den, denn sie und der frei­schwe­ben­de, oft ein­sa­me Sin­gle sind Grund­la­ge die­ses öko­no­mi­schen Systems, in dem der Kon­sum eine so tra­gen­de Rol­le spielt. Ein Kon­sum, der oft genug der Ein­sam­keit und dem Unglück­lich-sein ent­springt. Wenn wir unser Glück, unse­re Zufrie­den­heit im Aus­tausch mit ande­ren Men­schen fin­den, müs­sen wir uns nicht dem stän­di­gen Kon­sum hin­ge­ben, son­dern küm­mern uns eher um den Näch­sten, um unse­re Gemein­schaft und um die Gesell­schaft. Und das Gute ist: Wir kön­nen selbst damit anfan­gen, sol­che Wahl­fa­mi­li­en aufzubauen.