Sophie Scholl war eines der bekanntesten Gesichter des deutschen Widerstands gegen das NS-Regime. Neben Graf Claus von Stauffenberg, Henning von Tresckow, dem Kreisauer Kreis, dem Theologen Dietrich Bonhoeffer oder dem Einzelgänger Georg Elser ist sie heute eine Symbolfigur des »anderen Deutschlands«.
Vor hundert Jahren, am 9. Mai 1921, wurde Sophie Scholl in Forchtenberg/Kocher (Württemberg) als Tochter des liberalen Bürgermeisters Robert Scholl und dessen Frau Magdalene geboren. Nach Inge (1917), Hans (1918) und Elisabeth (1920) war Lina Sofie (so stand es in der Geburtsurkunde) das vierte Kind der Familie. Ein Jahr später wurde der Bruder Werner geboren und 1925 die Schwester Thilde. Am 1. Mai 1928 wurde Sophie in der Volksschule von Forchtenberg eingeschult. Trotz seiner erfolgreichen Bilanz als Schultheiß wurde der Vater 1929 nicht wieder gewählt. Es begann ein Kleinkrieg von Verleumdungen, Klagen und Gegenklagen; schließlich musste die Familie die Dienstwohnung im Rathaus verlassen. Der Vater fand eine Anstellung als Geschäftsführer der Maler- und Lackiererinnung in Stuttgart; als Wohnort entschied sich die Familie jedoch für Ludwigsburg. Im März 1932 zog die Familie schließlich nach Ulm, wo sie wieder ein eigenes Haus bewohnten. Zusammen mit ihren Schwestern Inge und Elisabeth ging Sophie zur Mädchenoberrealschule.
Inzwischen hatten die Nationalsozialisten die Macht ergriffen und fanden vor allem bei der Jugend begeisternde Zustimmung. Sophies Bruder Hans wurde Mitglied der Hitlerjugend, sie selbst trat 1934 dem Bund Deutscher Mädchen (BDM) bei. Im Herbst 1937 wurde Sophie zusammen mit ihren Geschwistern für einige Stunden verhaftet, weil ihr Bruder Hans wegen »bündischer Umtriebe« verfolgt und mehrere Wochen inhaftiert worden war. Diese Verhaftung bewirkte bei Sophie eine erste innere Abkehr von den nationalsozialistischen Idealen, die durch Novemberpogrom und den Einmarsch der Wehrmacht in Österreich und im Sudetenland noch verstärkt wurde.
Mit 16 Jahren hatte Sophie den vier Jahre älteren Offiziersanwärter Fritz Hartnagel kennengelernt. Es war eine mitunter reibungsvolle Beziehung: So quittierte Sophie seine »Begeisterung« für das Soldatentum mit den Worten »Sag nicht, es ist fürs Vaterland«. Mit den Kampfhandlungen im benachbarten Frankreich war der Krieg viel fassbarer geworden als beim Überfall auf das ferne Polen. Als Hartnagel später die Feldzüge in West- und Osteuropa und das Leiden der Bevölkerung erlebte, entwickelte er sich vom Wehrmacht-Begeisterten zum durchaus kritischen Offizier.
Nach ihrem Abitur begann Sophie im Frühjahr 1940 eine Ausbildung zur Kindergärtnerin an einem evangelischen Fröbel-Seminar. Damit wollte sie dem ungeliebten Reichsarbeitsdienst als Vorleistung für ein Studium entgehen. Danach wurde sie dennoch zum Reichsarbeitsdienst eingezogen. Im Anschluss daran musste sie ab Oktober 1941 in einem Ulmer Rüstungsbetrieb noch ein halbes Jahr »Kriegshilfsdienst« absolvieren, der inzwischen für Studierwillige eingeführt worden war.
Literatur hatte in der Familie Scholl immer eine zentrale Rolle gespielt. Die lesehungrige Sophie vertiefte sich auf der Suche nach ihrer eigenen Identität in die Werke von Hans Carossa, Ernst Wiechert und beschäftigte sich mit den Kirchenlehrern Augustinus und Thomas von Aquin. Darüber hinaus Tolstoi, Dostojewski, Gogol, Baudelaire und Verlaine – die Literatur gab Sophie Kraft und machte sie letztlich immun gegen die Ideologie des Nationalsozialismus.
Am 18. Mai 1942 immatrikulierte sich Sophie Scholl an der Münchener Universität für die Fächer Biologie und Philosophie. Ihr Bruder Hans hatte in München seit 1939 ein Medizinstudium aufgenommen. Mit Alexander Schmorell und anderen Kommilitonen, die das NS-Regime ebenfalls ablehnten, hatte er die Widerstandsgruppe »Weiße Rose« gegründet. Im Juni 1942 fertigten sie die ersten vier regimefeindlichen Flugblätter von jeweils 100 Exemplaren an, in denen sie zum passiven Widerstand aufriefen. Versandt wurden die Flugschriften illegal an »ausgewählte« Münchner Adressaten – vor allem an Intellektuelle, Künstler und politische Entscheidungsträger, von denen sich jedoch ein Drittel bei der Polizei meldete.
Im Juli 1942 wurden Hans Scholl und seine Freunde für ein Vierteljahr als Sanitäter an die Ostfront abkommandiert, wo sie als »Hilfsärzte« unmittelbar mit der brutalen Realität des Krieges konfrontiert wurden. Nach ihrer Rückkehr stießen weitere Studenten zu ihrem Freundeskreis; auch Sophie Scholl beteiligte sich jetzt in der Widerstandsgruppe. Ihre Aufgabe bestand vor allem in der Beschaffung von Materialien (Matrizen, Saugpapier, Umschläge und Briefmarken). Mit einem neuen leistungsfähigeren Vervielfältigungsapparat konnten nun wesentlich mehr Flugschriften hergestellt werden.
Nach dem Erscheinen des fünften Flugblattes Anfang Februar 1943 verschärfte die Gestapo mit einer Sonderkommission die Fahndung nach den Urhebern der oppositionellen Flugblätter. So wurde die Universität »unter entsprechende Überwachung« gestellt. Mit ihrem sechsten und letzten Flugblatt richtete sich die Gruppe an die Studierenden der deutschen Universitäten: »Kommilitoninnen! Kommilitonen!« lautet die Überschrift, unter der vor dem Hintergrund der Niederlage von Stalingrad und der drohenden Vernichtung weiterer abertausender Menschenleben zu offenem Widerstand in den Hörsälen der deutschen Hochschulen aufgerufen wurde. Die Hälfte der Flugblätter (etwa 2.000 bis 3.000 Exemplare) wurde wiederum auf dem Postweg verschickt. Die anderen wollten Hans und Sophie Scholl in den weiten Hallen des Hauptgebäudes der Universität verteilen.
Am 18. Februar (es war der Tag, an dem Reichspropagandaminister Joseph Goebbels im Berliner Sportpalast in seiner Sportpalastrede zur Intensivierung des »totalen Krieges« aufrief) gegen 11 Uhr legten die Geschwister Scholl die Flugblätter im Universitätsgebäude aus – vor Hörsaaltüren, auf Fenstersimsen oder Mauervorsprüngen. Die restlichen Flugblätter ließen sie einfach in den Lichthof fallen. Dabei wurden sie vom Hausmeister entdeckt und festgehalten. Von der alarmierten Gestapo wurden die Geschwister in die Münchner Gestapo-Leitzentrale überführt und dort dem Haftrichter vorgeführt. Trotz mehrfacher Verhöre stand Sophie zu ihrer Handlungsweise und wollte die Folgen auf sich nehmen. Inzwischen war auch der Mitstreiter Christoph Probst in Haft genommen wurden.
Nur vier Tage später, am 22. Februar 1943, wurden Hans und Sophie Scholl sowie Christoph Probst in den Justizpalast gebracht. Roland Freisler, der Präsident des NS-Volksgerichtshofs, war extra nach München gekommen, um den Schauprozess selbst zu leiten. Wegen »Wehrkraftzersetzung«, »Feindbegünstigung« und »Vorbereitung zum Hochverrat« wurden die Geschwister zum Tode durch das Fallbeil verurteilt und noch am Nachmittag im Strafgefängnis München Stadelheim hingerichtet. Im April 1943 gab es einen zweiten Weiße-Rose-Prozess, bei dem Alexander Schmorell, Willi Graf und der Musikwissenschaftler Professor Kurt Huber zum Tode und zehn weitere Angeklagte zu Gefängnisstrafen verurteilt wurden.
Zum diesjährigen 100. Geburtstag von Sophie Scholl sind einige Biografien erschienen. Der Theologe und Religionslehrer Werner Milstein, der im Vorjahr mit Einen Platz in der Welt haben bereits eine Biografie über Dietrich Bonhoeffer vorgelegt hat, erzählt in Einer muss doch anfangen! die Lebensgeschichte dieser mutigen jungen Frau. Der Autor wendet sich dabei sicher vorrangig an junge Leser, die einen kompakten Eindruck von der »Weißen Rose« und den Geschwistern Scholl bekommen möchten. Die Biografie, die durch einige historische Abbildungen ergänzt wird, macht jungen Menschen Mut, im eigenen Leben für wertvolle Überzeugungen einzustehen. Der Buchtitel Einer muss doch anfangen! geht auf Sophie Scholl zurück, die damit auf eine der unverschämten Anschuldigungen von Freisler geantwortet haben soll.
Werner Milstein: Einer muss doch anfangen! – Das Leben der Sophie Scholl, Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2021, 208 Seiten, 15 €.