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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Eine zerfallende Welt

Dass die Metro­po­le Chi­ca­go als »Fleisch­topf« und »Motor« des US-ame­ri­ka­ni­schen Kapi­ta­lis­mus for­di­sti­scher Prä­gung auch sei­ne sozia­len Abgrün­de hat, ist spä­te­stens seit dem 1905 erschie­ne­nen Erfolgs­ro­man »Der Dschun­gel« des sozi­al­kri­ti­schen Schrift­stel­lers Upt­on Sin­clair bekannt. Die damals in den Indu­strie­zen­tren im Nord­osten der USA kon­zen­trier­ten Arbei­ter­ma­ssen muss­ten ja irgend­wie ver­pflegt wer­den. Chi­ca­go wur­de dem­zu­fol­ge in der Früh­pha­se kapi­ta­li­sti­schen Wirt­schafts­wun­ders in den USA zu einem gigan­ti­schen Schlacht­haus, in dem die aus den Prä­rien des Mit­tel­we­stens in Rich­tung Ost­kü­ste getrie­be­nen Rin­der­her­den zu Fleisch- und Wurst­kon­ser­ven ver­ar­bei­tet wur­den. Eine Hand­voll Fleisch­ba­ro­ne ver­dien­te sich an die­sem Geschäft eine gol­de­ne Nase, den Beschäf­tig­ten der Fleisch­in­du­strie blieb eine mise­ra­ble Bezah­lung samt ent­spre­chen­den Arbeitsbedingungen.

Die US-ame­ri­ka­ni­sche Kri­mi­au­to­rin Sara Parets­ky hat sich mit der in den sozia­len Abgrün­den des post­for­di­sti­schen Chi­ca­gos ermit­teln­den Pri­vat­de­tek­ti­vin V. I. War­shaw­ski auch hier­zu­lan­de schnell eine Fan­ge­mein­de erobert. In ihrem kürz­lich auch in deut­scher Über­set­zung erschie­ne­nen Buch »Ent­sorgt« geht es zunächst um ein jun­ges Mäd­chen, dass von der Hel­din eher zufäl­lig gefun­den wird: bewusst­los, ohne Papie­re, mit schwe­ren Brand­ver­let­zun­gen. Um wen han­delt es sich?

Die Detek­ti­vin recher­chiert, wird mit schau­der­haf­ten Lebens­be­din­gun­gen in Alters- und Pfle­ge­hei­men kon­fron­tiert, die sich im Besitz dubio­ser Fir­men­grup­pen befin­den. Sie stellt fest, dass das Mäd­chen im Besitz eines wert­vol­len Gegen­stands war, wel­cher jetzt nicht mehr auf­find­bar ist. Das Büro der Detek­ti­vin wird von Poli­zi­sten durch­sucht, ihre Woh­nung ver­wanzt. Und dann ver­schwin­det das unbe­kann­te Mäd­chen plötzlich.

Die wei­te­ren Ermitt­lun­gen füh­ren die Detek­ti­vin in die Vil­la der Fami­lie eines ehe­mals stein­rei­chen Fabri­kan­ten. Gehört das Mäd­chen zu eben­die­ser Fami­lie? Das Haus ist zwar unbe­wohnt, aber noch im Besitz von Nach­kom­men des Fir­men­grün­ders. Hielt man das Mäd­chen hier gefan­gen? Hat­te es sich mit­tels Brand­le­gung befreit? Oder hat sie eine hier eben­falls fest­ge­hal­te­ne Ver­wand­te aus den Räum­lich­kei­ten herausgeholt?

Eini­ge Rät­sel klä­ren sich auf, als das Mäd­chen tat­säch­lich wie­der­ge­fun­den wird – es han­delt sich um eine inner­fa­mi­liä­re Aus­ein­an­der­set­zung. Wer erbt irgend­wann die­se Vil­la? Mitt­ler­wei­le ist die Immo­bi­lie ein Ver­mö­gen wert. Und die Zustän­de in den pri­va­ti­sier­ten Alters­hei­men und Pfle­ge­ein­rich­tun­gen sowie die immer kor­rup­ter wer­den­de Poli­zei erleich­tern es skru­pel­lo­sen Ver­wand­ten, sich pro­blem­los gigan­ti­sche Ver­mö­gens­wer­te aneig­nen zu können.

Das Buch lie­fert aller­dings nicht nur schau­ri­ge Details eines Erb­schafts­streits, es gewährt außer­dem Ein­blicke in eine Welt unter­halb derer, die in den offi­zi­el­len Medi­en prä­sen­tiert wird: Eine zer­fal­len­de Welt, domi­niert von Hun­ger, Gewalt, Krank­heit und Obdach­lo­sig­keit. Eine Welt, in der Men­schen ver­zwei­felt kämp­fen müs­sen, um ihr eige­nes Über­le­ben und das ihrer Fami­li­en zu sichern.

Sara Parets­ky: Ent­sorgt, aus dem ame­ri­ka­ni­schen Eng­lisch von Else Lau­dan, Edi­ti­on Ari­ad­ne im Argu­ment Ver­lag, Ham­burg 2024, 544 S., 25 €.