Dass die Metropole Chicago als »Fleischtopf« und »Motor« des US-amerikanischen Kapitalismus fordistischer Prägung auch seine sozialen Abgründe hat, ist spätestens seit dem 1905 erschienenen Erfolgsroman »Der Dschungel« des sozialkritischen Schriftstellers Upton Sinclair bekannt. Die damals in den Industriezentren im Nordosten der USA konzentrierten Arbeitermassen mussten ja irgendwie verpflegt werden. Chicago wurde demzufolge in der Frühphase kapitalistischen Wirtschaftswunders in den USA zu einem gigantischen Schlachthaus, in dem die aus den Prärien des Mittelwestens in Richtung Ostküste getriebenen Rinderherden zu Fleisch- und Wurstkonserven verarbeitet wurden. Eine Handvoll Fleischbarone verdiente sich an diesem Geschäft eine goldene Nase, den Beschäftigten der Fleischindustrie blieb eine miserable Bezahlung samt entsprechenden Arbeitsbedingungen.
Die US-amerikanische Krimiautorin Sara Paretsky hat sich mit der in den sozialen Abgründen des postfordistischen Chicagos ermittelnden Privatdetektivin V. I. Warshawski auch hierzulande schnell eine Fangemeinde erobert. In ihrem kürzlich auch in deutscher Übersetzung erschienenen Buch »Entsorgt« geht es zunächst um ein junges Mädchen, dass von der Heldin eher zufällig gefunden wird: bewusstlos, ohne Papiere, mit schweren Brandverletzungen. Um wen handelt es sich?
Die Detektivin recherchiert, wird mit schauderhaften Lebensbedingungen in Alters- und Pflegeheimen konfrontiert, die sich im Besitz dubioser Firmengruppen befinden. Sie stellt fest, dass das Mädchen im Besitz eines wertvollen Gegenstands war, welcher jetzt nicht mehr auffindbar ist. Das Büro der Detektivin wird von Polizisten durchsucht, ihre Wohnung verwanzt. Und dann verschwindet das unbekannte Mädchen plötzlich.
Die weiteren Ermittlungen führen die Detektivin in die Villa der Familie eines ehemals steinreichen Fabrikanten. Gehört das Mädchen zu ebendieser Familie? Das Haus ist zwar unbewohnt, aber noch im Besitz von Nachkommen des Firmengründers. Hielt man das Mädchen hier gefangen? Hatte es sich mittels Brandlegung befreit? Oder hat sie eine hier ebenfalls festgehaltene Verwandte aus den Räumlichkeiten herausgeholt?
Einige Rätsel klären sich auf, als das Mädchen tatsächlich wiedergefunden wird – es handelt sich um eine innerfamiliäre Auseinandersetzung. Wer erbt irgendwann diese Villa? Mittlerweile ist die Immobilie ein Vermögen wert. Und die Zustände in den privatisierten Altersheimen und Pflegeeinrichtungen sowie die immer korrupter werdende Polizei erleichtern es skrupellosen Verwandten, sich problemlos gigantische Vermögenswerte aneignen zu können.
Das Buch liefert allerdings nicht nur schaurige Details eines Erbschaftsstreits, es gewährt außerdem Einblicke in eine Welt unterhalb derer, die in den offiziellen Medien präsentiert wird: Eine zerfallende Welt, dominiert von Hunger, Gewalt, Krankheit und Obdachlosigkeit. Eine Welt, in der Menschen verzweifelt kämpfen müssen, um ihr eigenes Überleben und das ihrer Familien zu sichern.
Sara Paretsky: Entsorgt, aus dem amerikanischen Englisch von Else Laudan, Edition Ariadne im Argument Verlag, Hamburg 2024, 544 S., 25 €.