Wer kennt die Frage nicht: »Meinst du, die Russen wollen Krieg?« So beginnt ein bewegendes, vor allem auch in der DDR oft gesungenes antifaschistisches Lied des sowjetischen Dichters Jewgeni Jewtuschenko und des Komponisten Eduard Kolmanowski. Melodie und Worte der von Sigrid Siemund stammenden deutschen Übersetzung dieses Werkes gehen mir immer wieder durch den Kopf, wenn ich über die gefährlich angespannte internationale Lage, über die in der Bundesrepublik und ihren sogenannten Konzernmedien verbreiteten Lügen und Halbwahrheiten über die angeblich von Russland ausgehenden Gefahren für die Sicherheit und den Frieden in Europa nachdenke. Und so steht immer aufs Neue die Frage: »Meinst du, die Russen wollen Krieg?« Nein, sie wollen Frieden. Auch die Mehrheit der US-Amerikaner will keinen Krieg. Aber die beiden Völker unterscheiden sich in dieser Frage insofern, als die Russen allein im 20. Jahrhundert gezwungen waren, unermessliches Leid in zwei Weltkriegen durchzustehen. Der diesjährige Tag des Sieges über den Hitlerfaschismus hat erneut verdeutlicht: Die Russen und ihr Präsident wissen aus bitterer Erfahrung, was Krieg bedeutet, und sie sind gewillt, die Menschheit vor einem tödlichen Inferno im Zeitalter der Massenvernichtungswaffen zu bewahren.
Das kann man von den Herrschenden in den USA leider nicht behaupten. Nach dem Zerfall der Sowjetunion brachte sich die von den USA dominierte NATO gegen Russland in Stellung, um dieses Riesenland mit seinen unermesslichen Naturreichtümern zu unterwerfen. Ihre Konfrontationspolitik bedroht den Frieden. »Frieden ist nicht alles, aber ohne Frieden ist alles andere nichts« (Willy Brandt). Für den Weltfrieden ist ein partnerschaftliches Verhältnis zwischen den USA und Russland unerlässlich. Deutschland sollte dazu einen Beitrag leisten. Die deutsch-russischen Beziehungen sind derzeit aber empfindlich gestört. Sie werden längst nicht mehr von nationalen Interessen unseres Landes bestimmt. Das vereinte Deutschland hat sich willfährig der Geostrategie des USA-Imperialismus untergeordnet.
Die Linke sollte gegen diese Politik entschiedenen Widerstand leisten. Das umso mehr und eigentlich umso naheliegender, da die Deutschen sich mehrheitlich (58 Prozent) eine Annäherung der Bundesrepublik an Russland wünschen, in Ostdeutschland sprechen sich dafür sogar 72 Prozent aus, so das Ergebnis einer repräsentativen Umfrage, die vom Meinungsforschungsinstitut Civey schon vor Jahresfrist erhoben und im Journal Welt-Trend veröffentlicht wurde.
Umso unverständlicher ist es, dass die jüngsten Parteitage der Linken es unter der Regie der Parteiführung tatsächlich fertiggebracht haben, Anträge zur Gestaltung friedlicher Beziehungen Deutschlands zu Russland abzulehnen beziehungsweise sie in den Bundesausschuss zu verweisen. Eine schändliche Haltung!
Man muss kein Kommunist, kein Linker sein, um zu verstehen, dass auch Russland seine Interessen, Sicherheitsinteressen, hat und gewillt ist, sie bei Respektierung der Interessen seiner Partner durchzusetzen, wenn es sein muss, sich gegen Bedrohungen zu wehren.
Denn in Erinnerung sei gerufen: Nicht Russland hat seine Grenzen in Richtung NATO-Staaten versetzt, sondern die NATO hat sich den Westgrenzen Russlands gefährlich genähert und ist dabei, mit der Ukraine die verbliebene Lücke zu schließen; nicht Russland hat Militärstützpunkte um die Vereinigten Staaten errichtet, sondern die USA kreisen Russland ein; nicht Russland hat Raketen an den Grenzen der USA in Stellung gebracht, sondern die USA taten es vor Russlands Territorium; nicht Russland verschwendet die weltweit höchsten Militärausgaben (61,4 Milliarden US-Dollar 2018), sondern die USA (649 Milliarden US-Dollar 2018, 716 Milliarden sind für 2019 vorgesehen). In zwei aufeinanderfolgenden Jahren hat Russland seine Ausgaben sogar reduziert. Nicht Russland hat Staatsstreiche inszeniert, um unliebsame System- beziehungsweise Regimewechsel in fremden Ländern zu erzwingen, sondern die USA; nicht Russland hat in den letzten zwei Jahrzehnten verheerende Kriege angezettelt und großflächige Militärmanöver inszeniert, sondern die von den USA dominierte NATO; nicht Russland initiiert aggressive mediale und Fake-News-Angriffe, sondern die NATO.
Ungeachtet dessen könnten Linkspolitiker entgegnen, man müsse auch Kritikpunkte in der russischen Politik benennen. Das sei ihnen unbenommen. Wie realitätsfremd aber wäre ein solcher Einwand, der Ursache und Folgewirkungen außer Acht lässt, wie geschichtsvergessen und vor allem wie grundverkehrt wäre es, denn hierbei geht es nicht um irgendwelche »Kritikpunkte« an der Politik eines Landes, sondern um die Parteinahme für den Frieden. Und was treibt einflussreiche Linke um, eine Art Äquidistanz-Haltung gegenüber beiden Großmächten einzunehmen? Außerdem lässt sich Kritik viel wirkungsvoller üben, wenn man sich nicht in einer aggressiven Konfrontationspolitik verfängt. Vielmehr ist eine andere Außen- und Sicherheitspolitik vonnöten, und die ist nur mit, nicht ohne oder gar gegen Russland möglich.