Ich stelle mir vor, wie sich Heinrich August Winkler, Nestor der deutschen Geschichtsschreibung, aus seinem Sessel erhebt, sich zum Fenster seines Elfenbeinturms begibt, starr nach links schaut, wo sich all diese Sozialdemokraten, Grünen und Nichtregierungsorganisationen befinden, und erklärt: »Die Verfassungsschöpfer wollten nie ein individuelles Grundrecht auf Asyl.« Das musste unbedingt zwei Wochen vor der Bundestagswahl in einem Spiegel-Essay ausgesprochen werden, egal, was die juristische Zunft dazu sagen würde. Die These vom subjektiven individuellen Asylrecht widerspreche den Absichten der Verfassungsschöpfer. Sie hätten damals in erster Linie an politisch Verfolgte aus der sowjetischen Besatzungszone gedacht. Schon da verhaspelt sich unser Mann, wenn er schreibt, dass dasselbe Recht auf Asyl diesen so zu gewähren sei wie verfolgten Ausländern. Also doch?
Systematisch betrachtet: Warum fixiert der Parlamentarische Rat das Asylrecht im Grundrechtskatalog des Grundgesetzes, wenn es kein Grundrecht sein soll? Bedauernd nimmt der selbsternannte Verfassungsrechtler Winkler allerdings dann doch zur Kenntnis, dass die These vom Grundrecht auf Asyl in der Rechtsprechung bestätigt wurde und »dem bundesdeutschen Kollektiv-Ego zunehmend schmeichelte«.
Winklers Vorschlag ist, das subjektive durch das institutionelle Asylrecht zu ersetzen. Erkennt er also das subjektive Recht auf Asyl nun doch an? Ziemlich verwirrend dieses Gemisch aus angeblich historischer Analyse, rechtlicher Darlegung und politischem Vorschlag.
Der Legendenaufräumer ruft zur Bekräftigung seiner Verneinung eines Asylgrundrechts durch den Parlamentarischen Rat auch noch einen Fachkollegen, Michael Mayer, zu Hilfe, der das – peinlich, peinlich – aber gar nicht bestätigen mag, wie sich ebenfalls aus dem Spiegel ergibt. Mayer merkt zwar an, dass der Parlamentarische Rat 1948 wirklich in erster Linie an Deutsche gedacht habe, die aus der Ostzone fliehen wollten, da Ausländer damals überhaupt nicht auf die Idee gekommen seien, in das weitgehend zerstörte Deutschland zu flüchten. Dennoch habe das Asylrecht auch damals schon für Ausländer gegolten, denen die Möglichkeit gegeben werden müsse, einen solchen Asylantrag zu stellen.
Erwartungsgemäß sprangen auch Verfassungsjuristen Winkler nicht bei, sondern erklärten, spätestens seit der Novellierung von Art. 16 des Grundgesetzes 1993 sei das Grundrecht auf Asyl (wenn auch arg gestutzt) anerkannt worden, zumal es das Bundesverfassungsgericht bereits 1959 ausdrücklich bestätigt habe. Schließlich habe Winkler seinen Blick auch auf die deutsche Rechtslage verengt und die schon 1951 verabschiedete Genfer Flüchtlingskonvention ebenso aus seinen Überlegungen verbannt wie die Europäische Asylpolitik mit ihren Regelungsmechanismen.
Zum Schluss packt Winkler in seinem Rundumschlag gegen angeblich linke Ideologie, die ja bis in den Merkelflügel der CDU reiche, noch einmal eine ganz alte Keule aus, nämlich den Vorwurf, dass mit dem Begriff »Faschismus« der Nationalsozialismus verharmlost werde, weil mit Faschismus nur die italienische Variante gemeint sei. Nicht zur Kenntnis nehmen mag Winkler offenbar, dass es seit Langem in den Politik- und Sozialwissenschaften eine Forschungsrichtung gibt, die sich mit verschiedenen Spielarten rechtsradikaler Herrschaftssysteme unter dem Label »Faschismus« auseinandersetzt. Dass es dabei Unterschiede gibt, ist doch eigentlich eine Selbstverständlichkeit.
Abschließend stelle ich mir die Frage, was Herr Merz dem tapferen, für die Wahrheit (die keine ist) streitenden Professor für seinen Beitrag gezahlt hat. Oder bekommt er von der CDU wenigstens eine symbolische Spendenbescheinigung?