Natürlich haben Gedicht und Novelle nicht viel miteinander zu tun. Beim Lesen des Textes »Luftkreuz« von Fritz Martin Barber, versehen mit dem prätentiösen und eher nichtssagenden Untertitel »Eine Novelle aus dem Lande Lau« drängt sich diese Beziehung aber auf. Es ist, als läse man die Gedichte wieder, die Barber, einer der Protagonisten der Lyrik- und Poetenbewegung der DDR, in den Siebzigerjahren, einst im »Poesiealbum 234« (Verlag Neues Leben, Berlin, 1987) erscheinen ließ.
Die Gedichte Barbers im Bändchen sind Gebilde mit recht skurrilen Inhalten, und der Autor einer kurzen Einführung (Walfried Hartinger) windet sich beinahe, indem er das Aufbrechen von Verkrustungen betont, auch die Gegenarbeit zu »einer pragmatischen, unreflektierten, phantasie- und humorlosen Sinngebung des Lebens«. Insgesamt seien die Gedichte Einladungen »zu mehr Aufmerksamkeit gegenüber dem Leben«. Obwohl solche Floskeln gern benutzt werden, um Unbehagen zu kaschieren, sind die Befunde zutreffend.
Worum geht es? Besser: Um wen geht es? Um einen Lausitzer (»Land Lau«) Mann, verheiratet mit einer Frau aus Schleife. Er baut immer größer werdende Modellflugzeuge, seine Frau muss ins Krankenhaus, er holt sie aber nicht wieder ab, sondern verschwindet. Eines seiner Flugmodelle bleibt in einem Baum hängen. »Was ist das für ein Hakenkreuz oben in den Kiefern im Tagebauvorfeld?, fragte der Junge den Förster nun schon zum dritten Mal. Klare Frage, keine Antwort. Was soll der Förster sagen, wenn er es nicht weiß.« Natürlich ist eine Lausitzer Geschichte nicht ohne Tagebaue, näher rückende Bagger, Umsiedlungspläne, Kraftwerke am Horizont und Gerhard Gundermann zu denken – und von allem gibt es reichlich.
Das Gedicht »Radel 2« im Poesiealbum 234 endet so: »Ich habe keine Lust auf meinen Tod«. Diesen Vers könnte man über jeden der insgesamt 42(!) Textabschnitte – soll man sie Kapitel oder Novellenteilgedichte nennen? – setzen. Denn, obwohl zerklüftet, sprunghaft und karg erzählt: Es entsteht eine faszinierende Schilderung Lausitzer Lebens, die eine tiefe, verständnisvolle Kenntnis von Land und Leuten offenbart. Das für die Novelle so gern geforderte »unerhörte Ereignis« ist wohl, dass diese Geschichten überhaupt erzählt werden, wobei es unerheblich ist, ob die Lebensläufe oder Momentaufnahmen der Fantasie entsprungen sind oder sich wirklich ereignet haben: Sie sind sämtlich überzeugend, weil sie nicht nur abbilden, sondern den Leser gleichsam zum Teil der Ereignisse machen.
Fritz Martin Barber (1954 bis 2021) war Dramaturg an der Hochschule für Film und Fernsehen in Potsdam-Babelsberg, Regisseur und Dokumentarfilmautor. Die vorliegende Novelle ist sein Debüt als Prosaautor. Man merkt den Texten die »filmischen« Bestrebungen seines Autors an, was ihnen zu ganz eigenem Humor verhilft. Ein wunderschönes Beispiel ist Nr. 6 »Autobahnstau«: Während Protestierer Pappeln erklimmen, staut sich auf der A15 der Verkehr, darin stehen ein Mann vom Fernstraßen-Bundesamt aus Berlin, der zu einem Seminar »Staubvermeidung, Staubegleitung« nach Cottbus unterwegs ist, und ein Mann vom Luftfahrt-Bundesamt aus Braunschweig, der sich um das Flugwrack aus den Kiefern kümmern soll. Obwohl sie sich nicht kennen, ist ihr Urteil jeweils eindeutig: »Scheiß Lausitz«. Eigentlich, denkt der eine, sollte man die Lausitz als Zwergstaat aus der Aufsicht der Bundesrepublik Deutschland ausgliedern.
Dann kämen wir freilich um die schönen Geschichten, die sich, sei es nun geschilderte Vergangenheit oder Gegenwart, nur im jetzt »geeinten« Land ereignen konnten und können.
Ein wenig störend sind im Textfluss die zahlreichen Anspielungen und Zitate, die bei dem eher schmalen Buch einen Anmerkungsapparat von fast drei Seiten nötig machen. Sonst aber liest man beinahe naturalistisch genau erzähltes Leben, Biografien und Ereignisse, wie sie typisch sind für jenen Landstrich, in dem sich mit dem geplanten Kohleausstieg wieder alles umwälzen wird und in dem die Menschen vielleicht doch immer die Gleichen bleiben, Lausitzer eben.
Fritz Martin Barber: Luftkreuz. Eine Novelle aus dem Lande Lau, Mitteldeutscher Verlag 2023, 168 S., 20 €.