Schon vor der aktuellen Krise war die Bahn in keinem guten Zustand. Unfassbare 6500 Kilometer Bahnstrecken wurden seit 1994 in Deutschland eingestellt, wie die Bundesregierung auf Anfrage der Linken zugeben musste. 160.000 Stellen hat die Deutsche Bahn AG (DB AG) seitdem abgebaut. Rund 10.000 Bahnbrücken sind marode. Der Nahverkehr wurde ausgedünnt, so dass viele Regionen nicht mehr an die Bahn angeschlossen sind. Fernverkehrszüge halten in deutlich weniger kleinen und mittelgroßen Städten. Dazu kommt der alltägliche Ärger: hohe Preise, intransparente Rabattsysteme, Verspätungen, Zugausfälle, defekte Sanitäranlagen, heruntergekommene Bahnhöfe, fehlende Barrierefreiheit und so weiter. Laut Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft EVG beträgt allein der »Rückstau« von Ersatzinvestitionen bei der Bahn 57 Milliarden Euro, davon 50 Milliarden bei der Schiene und sieben Milliarden bei den Bahnhöfen.
Nun kommen zu der schlechten Ausgangslage auch noch die Herausforderungen der Corona-Krise hinzu. Die Bilanz wird durch Einnahmeausfälle weiter verschlechtert, gleichzeitig kosten Hygieneauflagen und andere Maßnahmen zusätzliches Geld. Um das zu kompensieren, wird der Bund erneut mit einer großen Finanzspritze nachhelfen. Die Schuldenobergrenze der DB AG soll auf 30 Milliarden Euro angehoben werden, weitere fünf Milliarden sollen der Bahn direkt als frisches Eigenkapital zugesteckt werden. Es ist richtig, die Bahn in der Krise zu stützen und den Fahrplan weitgehend aufrechtzuerhalten. Denn ein geringerer Takt würde vollere Züge und damit höhere Infektionsgefahren bedeuten. Aber die Bundesregierung knüpft die Hilfen an die Bedingung, dass bei den Personalkosten und Tarifabschlüssen gespart werden soll. Eine bessere Lösung wäre, die Ursachen der maroden Situation der DB AG endlich in Angriff zu nehmen.
Der schlechte Zustand der DB AG ist das Ergebnis einer Verkehrspolitik, die immer weniger die eigentliche Aufgabe der Bahn im Auge hat: Menschen und Güter möglichst kostengünstig und umweltschonend von A nach B zu bringen. Die folgenschwere Strukturreform der Bahn 1994 ist der Ausgangspunkt einer langen Kette von Fehlentscheidungen, die in einer kaputten Bahninfrastruktur, in Organisationschaos und viel zu hohen Fahrpreisen mündete. So ist die Bahn weder im Personen- noch im Güterverkehr in der Lage, eine attraktive, klimafreundliche Alternative zu PKW und LKW zu sein.
Am 2. Dezember 1993 stimmten die Abgeordneten des Deutschen Bundestags mit 558 Ja-Stimmen, 13 Gegenstimmen und vier Enthaltungen für die 1994 startende Bahnreform, mit der die Deutsche Reichsbahn und die Bundesbahn zusammengeführt und strukturell neu ausgerichtet wurden. Die Bahn wurde zur Aktiengesellschaft und sollte bilanzorientiert arbeiten. Anvisiert wurde eine vollständige Privatisierung zum schnellstmöglichen Zeitpunkt. Fortan agierte die Bahn wie ein privater Konzern. Die Rendite- und Wettbewerbsorientierung wurde in die Unternehmensstruktur eingebaut und der Konzern in eine Reihe von Subunternehmen (DB Netze, DB Regio, DB Cargo et cetera) aufgesplittert. Ein Vergleich: Niemand würde eine Schule als öffentliche Einrichtung daran messen, ob sie Rendite erwirtschaftet. Die Gesellschaft ist bereit, für sie Geld auszugeben, ohne zu verlangen, dass sie sich refinanziert. Es gilt die Überzeugung, dass eine staatlich finanzierte Bildung für alle einen Mehrwert erschafft, den wir vom reinen Geldwert her gar nicht messen können.
Die Steuergelder, die jährlich in die DB AG fließen, werden seitdem nicht allein eingesetzt, um in den Fahrbetrieb, in Züge, Strecken, Personal und Wartung zu investieren, sondern auch, um auf den weltweiten Märkten möglichst renditeorientiert zu operieren. Die Kernaufgabe, Bevölkerung und Güter gut und kostengünstig zu transportieren, ist dabei aus dem Fokus gerückt. Denn die Bahn beteiligte sich in Folge immer stärker in Branchen, die mit Schienenverkehr wenig bis gar nichts zu tun haben. Besonders prägnante Beispiele sind die Übernahmen des global tätigen Logistikdienstleisters Schenker und der britischen Arriva, die europaweit neben dem Schienenverkehr vor allem Buslinien betreibt. Aktuell besteht die DB AG aus etwa 700 verschiedenen Unternehmen. Davon hat ein großer Teil mit den eigentlichen Aufgaben einer Eisenbahn nicht oder nur noch bedingt zu tun. Mitte der 1990er Jahre machte die Bahn noch 95 Prozent ihres Umsatzes in Deutschland und 90 Prozent direkt durch den Schienenverkehr. Heute macht sie lediglich noch 57 Prozent ihres Umsatzes im Inland und dazu rund 50 Prozent des gesamten Konzernumsatzes in Branchen, die nicht zum Schienenverkehr gehören.
Gleichzeitig wird von der Schiene viel erwartet. Der soziale Wandel und die Klimafrage stellen unsere Gesellschaft vor große Herausforderungen und die Bahn vor höhere Erwartungen. Unter den kapitalistischen Vorzeichen ist eine zentrale Frage der künftigen Verkehrspolitik, wie es der Mobilitätsforscher Oliver Schwedes auf den Punkt bringt, dass sie »die ökologischen Ziele mit den ökonomischen und sozialen Anforderungen verbinden kann und welche Instrumente ihr dafür zur Verfügung stehen«. Zentraler Vorteil der Bahn ist, dass sie diese Anforderungen an Mobilität, wie Klimafreundlichkeit, beim notwendigen Ausbau ihrer Infrastruktur prinzipiell gewährleisten kann.
Nach dem systematischen Kaputtsparen der Bahninfrastruktur will die aktuelle Regierungskoalition die Fahrgastzahlen auf der Schiene bis zum Jahr 2030 verdoppeln. Dazu sind große Investitionen notwendig, die vor allem aus Steuermitteln kommen sollen. Der Bund schließt mit der Bahn sogenannte Leistungs- und Finanzierungsvereinbarungen (LuFV) ab. In diesen werden die staatlichen Unterstützungsleistungen für die Bahninfrastruktur geregelt. Die aktuelle LuFV wurde 2019 wegen der notwendigen Planungssicherheit für eine Laufzeit von zehn Jahren abgeschlossen. Bis zum Jahr 2030 will der Bund 62 Milliarden Euro investieren. Ob dieser Plan in der Zeit nach der Krise umgesetzt wird, bleibt abzuwarten.
Man muss es klar sagen: Die neoliberalen Versprechungen der Bahnreform der neunziger Jahre, wonach ein an Markt und Wettbewerb orientierter Bahnkonzern effizienter und wirtschaftlicher arbeitet, haben sich nicht bewahrheitet. Im Gegenteil: Durch die Umwandlung der Bahn in eine Aktiengesellschaft, den geplanten Börsengang und die Öffnung des Bahnsektors für private Wettbewerber hat die Politik demokratische Steuerungsmöglichkeiten aus der Hand gegeben und Tür und Tor für den Raubbau an einer traditionsreichen öffentlichen Infrastruktur geöffnet. Jetzt müssen die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler viel Geld für die heruntergewirtschaftete Bahninfrastruktur in die Hand nehmen. Die linke Kritik an der Privatisierung öffentlicher Güter wurde hier einmal mehr bestätigt: Schaden für das Allgemeinwohl, weniger politische Steuerung und demokratische Mitsprache, aber hohe Folgekosten für die öffentliche Hand – das sind wesentliche Ergebnisse nach 26 Jahren Bahnreform.
Es muss erwähnt werden, dass die Architekten und Vollstrecker der Bahnreform allesamt keine Liebhaber der Bahn waren. Vom Flugzeugingenieur Hartmut Mehdorn bis zum Autolobbyisten Rüdiger Grube kamen und kommen zahlreiche im Konzern installierte Manager aus Branchen, die in direkter Konkurrenz zur Bahn stehen. Bei ihnen stand keine demokratische Verkehrspolitik im Zentrum, sondern allenfalls eine Business-Bahn, die die Elite per ICE verbindet und in die nächsten Großstädte und zu Flughäfen bringt. Die Bahn wurde ein immer weniger lokales und regionales Unternehmen, der Nahverkehr ganzer Regionen und Beschäftigtengruppen aufs Abstellgleis manövriert.
Für die politische Linke ist klar, dass es kein »Weiter so« geben darf. Wir wollen eine Bahn in öffentlicher Hand, die Menschen und Regionen verbindet, günstig und klimafreundlich. Eine Bahn, die in der Lage ist, den Güterverkehr von der Straße auf die Schiene zu bringen. Dazu braucht es keine Aktiengesellschaft, sondern ein öffentlich-rechtliches Unternehmen, das auf die Mobilitätsbedürfnisse der Bevölkerungsmehrheit ausgerichtet wird.
Eine Bahnreform für Leute, Land und Klima muss die Privatisierungsmaßnahmen zurücknehmen. Anstelle der Bilanzorientierung sollte wieder der Dienst an der Gesellschaft, also das Bereitstellen der Dienstleistung Mobilität, oberste Maxime sein. Aus den etlichen Kleinunternehmen, die teilweise untereinander konkurrieren, sollte wieder ein Unternehmen in öffentlich-rechtlicher Hand und mit entsprechender Rechtsform werden. Die privatrechtliche sowie zersplitterte Struktur ist im Alltagsgeschäft die Ursache vieler Probleme, erheblicher Reibungsverluste und interner Störmanöver. Aus finanzieller Sicht muss dafür gesorgt werden, dass die Steuermittel in den Ausbau der Netze und die Modernisierung der Infrastruktur fließen.
Für die politische Linke geht es bei der Bahn nicht nur um Verkehrspolitik. Sie ist auch ein soziales, ökonomisches und kulturelles Symbol, ob Menschen und Regionen abgehängt oder angebunden werden. Jeder geschlossene Bahnhof, jeder verwaiste Schalter, jede gestrichene Bahnstrecke verstärkt die Kluft in der Gesellschaft zwischen denen, die bequem mitkommen, und denen, die auf der Strecke bleiben. Der Rückbau von Bahnschienen steht stellvertretend dafür, dass in den letzten Jahrzehnten immer mehr Menschen und ihre Regionen auf dem Abstellgleis gelandet sind. In diesen Zeiten ist der Kampf um eine Bahn für alle auch einer um die politische Kultur als solche.
Victor Perli ist seit 2017 Bundestagsabgeordneter der Partei Die Linke. Er ist Mitglied im Haushaltsausschuss und umverteilungspolitischer Sprecher der Linksfraktion im Bundestag.