Es sind die Beiläufigkeiten im Text, die die großen Weisheiten der langen Jahre gleichsam wie kleine Boote sicher und ohne Hast über die zahlreichen Wasserläufe der Zeit tragen.
Rita beschreibt ihre Kindheit und Jugend, die Ausbildung, den Beruf und die familiären und sonstigen Beziehungen in der DDR. Die Erinnerungen beginnen mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges in einem Dorf in Thüringen, in das die Familie zog, als das damalige Breslau, Ritas Geburtsort, von Hitler zur Festung erklärt worden war. Und sie führen den Leser bis in das Jahr 1989, das die Autorin in Ostberlin, damals Hauptstadt der DDR, erlebte. Hier wohnt sie, selbst Jahrgang 1938, auch heute noch.
Die Erinnerungen sind chronologisch geordnet und beziehen sich auf Ereignisse des eigenen täglichen Lebens, auch Bildungserlebnisse. Da es der Autorin gelingt, auf überhöhte Wertungen aus nachträglicher Perspektive zu verzichten und stattdessen ihr Erleben in dem jeweils beschriebenen Augenblick zu benennen, wird aus diesem Lebensbericht eine spannende Reise, die es dem Leser erlaubt, die allmähliche Herausbildung einer sozialen Person und später auch qualifizierten Ökonomin sowie Frau und Mutter zu verfolgen. Die Genauigkeit ihres Gedächtnisses ist bestechend. Rita legt in großer Authentizität und größtmöglicher, nüchterner Ehrlichkeit Zeugnis von der Lebensrealität in der DDR ab, ohne dass an irgendeiner Stelle anmaßend oder rechthaberisch verallgemeinert würde, sondern sie bleibt dem Leser gegenüber völlig freilassend. Gerade dadurch wird der Text politisch, da die Verzweigungen und Entscheidungen auf Ritas Weg die vielschichtigen innen- und außenpolitischen Spannungen im Alltagsleben der DDR anhand ihrer sich entwickelnden Lebens- und Wertungsfähigkeit und der Bewältigung ihres Alltages dargelegt werden.
In der stilistischen Klarheit und der genauen, unprätentiösen Sprache spiegelt sich das Kompositionsprinzip der einfachen Entwicklung der Gedanken im Ablauf der Lebensjahre, ohne dass auf komplizierte Rückblicke, redundante Zusammenfassungen und Schnickschnack im Aufbau zurückgegriffen wird. Das Buch steht zwischen Lebensbericht und Erzählung als belletristischer Form einerseits und einem dokumentarisch genauen Sachbuch, das dem Gebiet der empirischen Sozialforschung zugerechnet werden kann, andererseits.
Nachgerade kurios, und ohne Bitterkeit vorgetragen, mutet der Gang der Autorin durch die Institutionen von Wirtschaft, Partei und Funktionärskasten an. Ihre ehrlich verfolgten, idealistischen Ziele, die der Verbesserung und Stabilisierung sozialistischer Verhältnisse dienen sollen, rufen in zunehmender Vergrößerung der Widersprüche und Brüche in der DDR die Sicherheitsorgane auf den Plan und führen zu Ausspähung, Bevormundungsversuchen und Karriereknick. Diese Absurditäten deuten die Anachronismen der Zeit sicherer als mit großem Gestus vorgetragene Anklagen. Die Autorin wird im Verlauf der Ereignisse immer autonomer und stärker. Rita fügt ein damals erarbeitetes Material zur Reform der Wirtschaftspolitik der DDR an, das bekanntlich ohne Anwendung blieb. Dass die heutigen Verhältnisse aus ihrer Sicht von dem, was die Autorin als ideale Gesellschaftsverfassung damals erkannte, viel weiter entfernt sind als ein wie auch immer verbesserungswürdiger Sozialismus, versteht sich von selbst.
Das Buch ist ein Zeitzeugnis, das nur von einer Person geschrieben werden konnte, die die erzählten Jahrzehnte selbstbestimmt und vor Ort erlebt hat, und ist daher unwiederholbar und kostbar. Ursprünglich für die Enkel geschrieben, ist es eine gute Schullektüre.
Rita K. Voigt: »Die Genossin und der Parteiadel«, NORA-Verlagsgemeinschaft, 226 Seiten, 15 €