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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Eine famose Bescherung

In jenem Som­mer gelang mir ein­fach alles: Die Geschäf­te lie­fen famos. Zuerst ver­dien­te ich mein Geld mit einem Posten Win­ter­klei­dung, den ich für einen Spott­preis über­nom­men hat­te. Dann mach­te ich Geschäf­te mit Ein­koch­ap­pa­ra­ten, Ril­len­glä­sern und ähn­li­chen Ein­weckuten­si­li­en. Obwohl der Herbst noch ein gutes Vier­tel­jahr hin war, ver­dien­te ich wie­der gut. Anschlie­ßend mach­te ich, es war schon Juli, August, ein drit­tes Geschäft mit einem Rest­po­sten Faschings­ar­ti­kel und ver­dien­te noch ein­mal recht ordentlich.

Vor zwei Jah­ren hat­te ich einen Laden in der Stadt gemie­tet, ein ehe­ma­li­ges Buch­ge­schäft, das eini­ge Jah­re so dahin­ve­ge­tiert hat­te. Ich hat­te kaum etwas in den Umbau der klei­nen Räum­lich­kei­ten inve­stiert; die alten Buch­re­ga­le dien­ten mir immer noch als Gestel­le für die unter­schied­li­chen Waren. Das Wich­tig­ste war ein geräu­mi­ger Abstell­raum, der zum Hin­ter­hof zeig­te und mir beste Lager­mög­lich­kei­ten bot. Die Idee mit den Rest­po­sten, das heißt mit dem Ver­kauf von bil­li­gen Lager­ka­pa­zi­tä­ten zur völ­lig unpas­sen­den Jah­res­zeit, war mir gekom­men, als ich las, dass irgend­wo in Ame­ri­ka ein Geschäfts­mann mit Win­ter­sport­ge­rä­ten mit­ten im Som­mer stein­reich gewor­den war.

Kurz und gut, mein Umsatz war aus­ge­zeich­net gewe­sen. Anfang Sep­tem­ber waren die Nar­ren­ko­stü­me und Papp­na­sen aus den Rega­len ver­schwun­den. Ich hat­te ein­fach kei­ne Lust, mich gleich wie­der in ein neu­es Geschäft zu stür­zen. So ver­brach­te ich eini­ge Urlaubs­wo­chen an der Ost­see auf Rügen. Som­mer­ur­laub im Okto­ber, das pass­te doch zu mei­ner Geschäfts­phi­lo­so­phie. Außer­dem woll­te ich end­lich ein­mal etwas von dem ver­dien­ten Geld aus­ge­ben. Ich kann mir ja nicht jedes Jahr ein neu­es Auto zule­gen, und mei­ne Mut­ter trägt den Schmuck, den ich ihr kau­fe, sowie­so nicht.

Nach drei, vier sor­gen­frei­en Wochen lang­weil­te mich der ewi­ge Müßig­gang, und ich fühl­te, dass mir irgend­et­was fehl­te. Schnell erkann­te ich, dass mei­ne Sehn­sucht in Rich­tung mei­nes jetzt leer­ste­hen­den Geschäf­tes ging. Der täg­li­che Strand­spa­zier­gang und der wun­der­schön­ste Son­nen­un­ter­gang, was war das schon gegen das mor­gend­li­che Aus­hän­gen des Laden­git­ters und beson­ders gegen den abend­li­chen Kas­sen­sturz. Zudem hat­te ich im benach­bar­ten Strand­bad einen grö­ße­ren Posten Bade­ar­ti­kel recht preis­gün­stig erwor­ben. Nach einem ver­reg­ne­ten Som­mer hat­te ein Sport­ge­schäft dicht gemacht.

Es war mitt­ler­wei­le schon tie­fer Herbst, ja, es war sogar schon Anfang Novem­ber, als ich die Spin­nen­we­ben an der klei­nen Laden­tür ent­fern­te. Kei­ne zehn Minu­ten spä­ter erschien Nikos mit einer Fla­sche Meta­xa. Nikos war der grie­chi­sche Besit­zer des klei­nen Imbiss­la­dens von neben­an. Den Wein­brand hat­te er stets zur Begrü­ßung von Freun­den griff­be­reit. Er war ein hilfs­be­rei­ter Nach­bar, der auch ein paar Tage spä­ter kräf­tig mit zupack­te, als die Kisten mit den Bade­ar­ti­keln kamen.

»O Mann, was willst Du mit den Luft­ma­trat­zen, Biki­nis und all dem Sommer-Schnickschnack?«

»Nikos, wart’s nur ab.«

Er nick­te, all­zu oft hat­te er sich vom Erfolg mei­ner Geschäf­te über­zeu­gen müssen.

Ich brauch­te kei­ne Woche, bis ich merk­te, die­ses Mal lief das Geschäft nicht.

Bei einem sei­ner Kurz­be­su­che bemerk­te Nikos: »Du bist zum ersten Mal trau­rig, seit wir uns ken­nen.« Kame­rad­schaft­li­che Für­sor­ge lag in sei­ner Stimme.

Ich schüt­tel­te den Kopf, weil ich es nicht glau­ben woll­te. Doch nach­dem wir eini­ge Meta­xa hin­un­ter­ge­kippt hat­ten, heul­te ich mich fast aus.

»Was wirst du tun?« Er kam jeden Tag mit die­ser Fra­ge und mit der trö­sten­den Flasche.

»Das wird noch anders, Nikos. Glaub mir!«, ant­wor­te­te ich stets, doch mehr, um mir Mut zu machen. So ver­ging ein Tag um den ande­ren, und es änder­te sich nichts. Das Ein­zi­ge, was sich rabi­at änder­te, war das Wet­ter. Mit­te Novem­ber hat­ten wir plötz­lich win­ter­li­che Ver­hält­nis­se. Nacht­frost und jede Men­ge Schnee. Durch das Schau­fen­ster konn­te ich die Leu­te in ihren dicken Win­ter­män­teln beob­ach­ten. Genü­gend Zeit hat­te ich ja. Es lag so viel Schnee, dass die Kin­der selbst die Innen­stadt zum Rodel­ge­biet machten.

Es war ver­dammt kalt. Nikos war der Ein­zi­ge, der mir in der miss­li­chen Lage bei­stand. Er schau­te mehr­mals am Tage her­ein, obwohl die Kund­schaft ihm bei die­sem Frost die Imbiss-Bude ein­rann­te. Es war, als woll­te er sich nur ver­ge­wis­sern, dass ich noch da war und mir nichts antun würde.

Der Monat Novem­ber war ver­gan­gen, an der Situa­ti­on änder­te sich nicht das Gering­ste. Das Geschäft lief wei­ter mise­ra­bel. Am lieb­sten wäre ich wie­der an die Ost­see geflüch­tet. Doch wovon? Mein gan­zes Geld steck­te in Luft­ma­trat­zen und Bade­be­klei­dung. Nie­der­ge­schla­gen, fro­stig und schweig­sam betrach­te­te ich tage­lang die vol­len Rega­le. Soll­te es mein letz­tes Geschäft sein?

Die Geschich­te ver­brei­te­te sich in der Innen­stadt wie ein Lauf­feu­er. Kopf­schüt­telnd zogen die Leu­te an mei­nem Schau­fen­ster mit der künst­li­chen Hawaii­pal­me vor­bei. Wie zum Hohn hat­ten die Kin­der neben der Ein­gangs­tür einen Schnee­mann gebaut. Statt eines Rei­sig­be­sens hat­ten sie ihm ein Gum­mi­kro­ko­dil in den Arm gedrückt. Nur bei Nikos fand ich Trost. »Es gibt zwei Mög­lich­kei­ten«, sag­te er eines Tages, »ent­we­der du wirfst den gan­zen Plun­der auf den Müll und beginnst ein neu­es Geschäft, oder du wirst Ostern noch auf dem Ramsch sit­zen.« Er konn­te manch­mal sehr direkt sein.

»Red’ kei­nen Quatsch!« knurr­te ich belei­digt, fast aggres­siv. Es gibt etwas, das mich rasend macht: Wenn ich der Bla­mier­te bin. Auch ein geschei­ter­ter Geschäfts­mann hat sei­ne Würde.

»Ent­schul­di­ge, du woll­test einen wohl­ge­mein­ten Rat.« Er stand belei­digt auf und ließ mich allein zurück. Nach einer hal­ben Stun­de kam er zurück und kauf­te zwei Was­ser­bäl­le und ein Feder­ball­spiel. »Für die Kin­der mei­nes Bru­ders«, sag­te er und sah mich mit­leids­voll an.

Eine Woche vor Weih­nach­ten ver­zog sich die sibi­ri­sche Käl­te und der Schnee in der Stadt schmolz von einem Tag zum ande­ren dahin. Jetzt gibt es einen vor­zei­ti­gen Früh­ling, froh­lock­te ich im Gehei­men. Doch nichts von dem; viel­mehr brei­te­ten sich Dau­er­re­gen und Nebel aus, als woll­te jetzt kurz vor Hei­lig­abend der Novem­ber sein ver­spä­te­tes Recht nach­ho­len. Kurz und gut, auch die­ser Wet­ter­um­schwung beleb­te mei­nen Umsatz nicht im Geringsten.

Als Nikos am Nach­mit­tag vor­bei­schau­te, brach­te er statt der Schnaps­fla­sche eine gro­ße Por­ti­on Gyros mit. »Hier!«, er knall­te den Tel­ler auf den Tisch, »ich bleib auf dem Zeug regel­recht sit­zen. Bei dem Sau­wet­ter geht doch nie­mand auf die Straße.«

»Ja«, pflich­te­te ich ihm bei, »ent­we­der haben die Leu­te schon ihre Weih­nachts­ein­käu­fe oder sie las­sen es sein.« Wir stan­den noch eine Wei­le hin­ter der Schau­fen­ster­schei­be und schau­ten trüb­sin­nig auf die men­schen­lee­re Stra­ße, wo sich rie­si­ge Was­ser­la­chen gebil­det hatten.

Am Abend, die Geschäf­te hat­ten schon längst geschlos­sen, und die Innen­stadt gehör­te ganz allein dem plät­schern­den Regen – ich saß an dem gro­ßen Laden­tisch und wickel­te eini­ge Son­nen­cremes in Weih­nachts­pa­pier ein, als Geschenk für mei­ne Nach­ba­rin, da tauch­te Alfred völ­lig erschöpft in mei­nem halb­dunk­len Laden auf. Er besaß das klei­ne Rei­se­bü­ro an der Straßenecke.

Er ließ sich in einen Stuhl fal­len. »So was habe ich noch nicht erlebt, man glaubt es nicht.«

Ich sah ihn ungläu­big an.

»Die Leu­te sind ver­rückt, die buchen wie wild. Alle wol­len sie nach Süden, Rich­tung Sonne.«

»Und Win­ter­ur­laub? Weih­nach­ten im Schnee?« Ich war ehr­lich bestürzt.

»Ver­giss es. Harz und Ober­wie­sen­thal sind pas­sé. Brocken und Fich­tel­berg sind graue, nack­te Fel­sen. Kre­ta, Mal­lor­ca – die Flü­ge sind alle aus­ge­bucht. Ich kann’s den Leu­ten nicht verdenken.«

Wie auch immer, wir kehr­ten anschlie­ßend noch in der »Bier­bör­se« ein, um sei­nen unver­hoff­ten Geschäfts­er­folg zu fei­ern und das Sau­wet­ter zu vergessen.

Am näch­sten Mor­gen – die Regen­wol­ken hat­ten die Stadt bereits in aller Frü­he fest im Griff – glaub­te ich zunächst an einen Irr­tum, als ich auf mei­nen Kram­la­den zusteu­er­te. Davor drän­gel­te sich ein hal­bes Dut­zend Kun­den unter dem über­dach­ten Ladeneingang.

Im ersten Moment war mir zum Heu­len zumu­te, doch mit jedem wei­te­ren Käu­fer, der in mein Geschäft stürm­te, um sich für die kurz­fri­sti­ge Mit­tel­meer­rei­se noch mit Son­nen­schutz­mit­teln, Sport­ar­ti­keln und Sand­spiel­zeug für die lie­ben Klei­nen ein­zu­decken, hüpf­te mein Unter­neh­mer­herz in der Hosen­ta­sche. Ich war heil­froh, als Nikos gegen Mit­tag auf­tauch­te und mir wenig­stens half, neue Ware aus dem Abstell­raum her­an­zu­schaf­fen, so sehr war ich mit dem Abkas­sie­ren beschäftigt.

Zwei Tage spä­ter lag ich erschöpft auf dem Sofa unter dem Weih­nachts­baum mei­ner Mut­ter. Ich ließ mich die gan­zen Fei­er­ta­ge von ihr ver­wöh­nen: Weih­nachts­stol­le, Gän­se­bra­ten und fran­zö­si­schen Cognac. Dabei hat­te ich genug Muße, von neu­en Geschäf­ten im näch­sten Jahr zu träumen.