In jenem Sommer gelang mir einfach alles: Die Geschäfte liefen famos. Zuerst verdiente ich mein Geld mit einem Posten Winterkleidung, den ich für einen Spottpreis übernommen hatte. Dann machte ich Geschäfte mit Einkochapparaten, Rillengläsern und ähnlichen Einweckutensilien. Obwohl der Herbst noch ein gutes Vierteljahr hin war, verdiente ich wieder gut. Anschließend machte ich, es war schon Juli, August, ein drittes Geschäft mit einem Restposten Faschingsartikel und verdiente noch einmal recht ordentlich.
Vor zwei Jahren hatte ich einen Laden in der Stadt gemietet, ein ehemaliges Buchgeschäft, das einige Jahre so dahinvegetiert hatte. Ich hatte kaum etwas in den Umbau der kleinen Räumlichkeiten investiert; die alten Buchregale dienten mir immer noch als Gestelle für die unterschiedlichen Waren. Das Wichtigste war ein geräumiger Abstellraum, der zum Hinterhof zeigte und mir beste Lagermöglichkeiten bot. Die Idee mit den Restposten, das heißt mit dem Verkauf von billigen Lagerkapazitäten zur völlig unpassenden Jahreszeit, war mir gekommen, als ich las, dass irgendwo in Amerika ein Geschäftsmann mit Wintersportgeräten mitten im Sommer steinreich geworden war.
Kurz und gut, mein Umsatz war ausgezeichnet gewesen. Anfang September waren die Narrenkostüme und Pappnasen aus den Regalen verschwunden. Ich hatte einfach keine Lust, mich gleich wieder in ein neues Geschäft zu stürzen. So verbrachte ich einige Urlaubswochen an der Ostsee auf Rügen. Sommerurlaub im Oktober, das passte doch zu meiner Geschäftsphilosophie. Außerdem wollte ich endlich einmal etwas von dem verdienten Geld ausgeben. Ich kann mir ja nicht jedes Jahr ein neues Auto zulegen, und meine Mutter trägt den Schmuck, den ich ihr kaufe, sowieso nicht.
Nach drei, vier sorgenfreien Wochen langweilte mich der ewige Müßiggang, und ich fühlte, dass mir irgendetwas fehlte. Schnell erkannte ich, dass meine Sehnsucht in Richtung meines jetzt leerstehenden Geschäftes ging. Der tägliche Strandspaziergang und der wunderschönste Sonnenuntergang, was war das schon gegen das morgendliche Aushängen des Ladengitters und besonders gegen den abendlichen Kassensturz. Zudem hatte ich im benachbarten Strandbad einen größeren Posten Badeartikel recht preisgünstig erworben. Nach einem verregneten Sommer hatte ein Sportgeschäft dicht gemacht.
Es war mittlerweile schon tiefer Herbst, ja, es war sogar schon Anfang November, als ich die Spinnenweben an der kleinen Ladentür entfernte. Keine zehn Minuten später erschien Nikos mit einer Flasche Metaxa. Nikos war der griechische Besitzer des kleinen Imbissladens von nebenan. Den Weinbrand hatte er stets zur Begrüßung von Freunden griffbereit. Er war ein hilfsbereiter Nachbar, der auch ein paar Tage später kräftig mit zupackte, als die Kisten mit den Badeartikeln kamen.
»O Mann, was willst Du mit den Luftmatratzen, Bikinis und all dem Sommer-Schnickschnack?«
»Nikos, wart’s nur ab.«
Er nickte, allzu oft hatte er sich vom Erfolg meiner Geschäfte überzeugen müssen.
Ich brauchte keine Woche, bis ich merkte, dieses Mal lief das Geschäft nicht.
Bei einem seiner Kurzbesuche bemerkte Nikos: »Du bist zum ersten Mal traurig, seit wir uns kennen.« Kameradschaftliche Fürsorge lag in seiner Stimme.
Ich schüttelte den Kopf, weil ich es nicht glauben wollte. Doch nachdem wir einige Metaxa hinuntergekippt hatten, heulte ich mich fast aus.
»Was wirst du tun?« Er kam jeden Tag mit dieser Frage und mit der tröstenden Flasche.
»Das wird noch anders, Nikos. Glaub mir!«, antwortete ich stets, doch mehr, um mir Mut zu machen. So verging ein Tag um den anderen, und es änderte sich nichts. Das Einzige, was sich rabiat änderte, war das Wetter. Mitte November hatten wir plötzlich winterliche Verhältnisse. Nachtfrost und jede Menge Schnee. Durch das Schaufenster konnte ich die Leute in ihren dicken Wintermänteln beobachten. Genügend Zeit hatte ich ja. Es lag so viel Schnee, dass die Kinder selbst die Innenstadt zum Rodelgebiet machten.
Es war verdammt kalt. Nikos war der Einzige, der mir in der misslichen Lage beistand. Er schaute mehrmals am Tage herein, obwohl die Kundschaft ihm bei diesem Frost die Imbiss-Bude einrannte. Es war, als wollte er sich nur vergewissern, dass ich noch da war und mir nichts antun würde.
Der Monat November war vergangen, an der Situation änderte sich nicht das Geringste. Das Geschäft lief weiter miserabel. Am liebsten wäre ich wieder an die Ostsee geflüchtet. Doch wovon? Mein ganzes Geld steckte in Luftmatratzen und Badebekleidung. Niedergeschlagen, frostig und schweigsam betrachtete ich tagelang die vollen Regale. Sollte es mein letztes Geschäft sein?
Die Geschichte verbreitete sich in der Innenstadt wie ein Lauffeuer. Kopfschüttelnd zogen die Leute an meinem Schaufenster mit der künstlichen Hawaiipalme vorbei. Wie zum Hohn hatten die Kinder neben der Eingangstür einen Schneemann gebaut. Statt eines Reisigbesens hatten sie ihm ein Gummikrokodil in den Arm gedrückt. Nur bei Nikos fand ich Trost. »Es gibt zwei Möglichkeiten«, sagte er eines Tages, »entweder du wirfst den ganzen Plunder auf den Müll und beginnst ein neues Geschäft, oder du wirst Ostern noch auf dem Ramsch sitzen.« Er konnte manchmal sehr direkt sein.
»Red’ keinen Quatsch!« knurrte ich beleidigt, fast aggressiv. Es gibt etwas, das mich rasend macht: Wenn ich der Blamierte bin. Auch ein gescheiterter Geschäftsmann hat seine Würde.
»Entschuldige, du wolltest einen wohlgemeinten Rat.« Er stand beleidigt auf und ließ mich allein zurück. Nach einer halben Stunde kam er zurück und kaufte zwei Wasserbälle und ein Federballspiel. »Für die Kinder meines Bruders«, sagte er und sah mich mitleidsvoll an.
Eine Woche vor Weihnachten verzog sich die sibirische Kälte und der Schnee in der Stadt schmolz von einem Tag zum anderen dahin. Jetzt gibt es einen vorzeitigen Frühling, frohlockte ich im Geheimen. Doch nichts von dem; vielmehr breiteten sich Dauerregen und Nebel aus, als wollte jetzt kurz vor Heiligabend der November sein verspätetes Recht nachholen. Kurz und gut, auch dieser Wetterumschwung belebte meinen Umsatz nicht im Geringsten.
Als Nikos am Nachmittag vorbeischaute, brachte er statt der Schnapsflasche eine große Portion Gyros mit. »Hier!«, er knallte den Teller auf den Tisch, »ich bleib auf dem Zeug regelrecht sitzen. Bei dem Sauwetter geht doch niemand auf die Straße.«
»Ja«, pflichtete ich ihm bei, »entweder haben die Leute schon ihre Weihnachtseinkäufe oder sie lassen es sein.« Wir standen noch eine Weile hinter der Schaufensterscheibe und schauten trübsinnig auf die menschenleere Straße, wo sich riesige Wasserlachen gebildet hatten.
Am Abend, die Geschäfte hatten schon längst geschlossen, und die Innenstadt gehörte ganz allein dem plätschernden Regen – ich saß an dem großen Ladentisch und wickelte einige Sonnencremes in Weihnachtspapier ein, als Geschenk für meine Nachbarin, da tauchte Alfred völlig erschöpft in meinem halbdunklen Laden auf. Er besaß das kleine Reisebüro an der Straßenecke.
Er ließ sich in einen Stuhl fallen. »So was habe ich noch nicht erlebt, man glaubt es nicht.«
Ich sah ihn ungläubig an.
»Die Leute sind verrückt, die buchen wie wild. Alle wollen sie nach Süden, Richtung Sonne.«
»Und Winterurlaub? Weihnachten im Schnee?« Ich war ehrlich bestürzt.
»Vergiss es. Harz und Oberwiesenthal sind passé. Brocken und Fichtelberg sind graue, nackte Felsen. Kreta, Mallorca – die Flüge sind alle ausgebucht. Ich kann’s den Leuten nicht verdenken.«
Wie auch immer, wir kehrten anschließend noch in der »Bierbörse« ein, um seinen unverhofften Geschäftserfolg zu feiern und das Sauwetter zu vergessen.
Am nächsten Morgen – die Regenwolken hatten die Stadt bereits in aller Frühe fest im Griff – glaubte ich zunächst an einen Irrtum, als ich auf meinen Kramladen zusteuerte. Davor drängelte sich ein halbes Dutzend Kunden unter dem überdachten Ladeneingang.
Im ersten Moment war mir zum Heulen zumute, doch mit jedem weiteren Käufer, der in mein Geschäft stürmte, um sich für die kurzfristige Mittelmeerreise noch mit Sonnenschutzmitteln, Sportartikeln und Sandspielzeug für die lieben Kleinen einzudecken, hüpfte mein Unternehmerherz in der Hosentasche. Ich war heilfroh, als Nikos gegen Mittag auftauchte und mir wenigstens half, neue Ware aus dem Abstellraum heranzuschaffen, so sehr war ich mit dem Abkassieren beschäftigt.
Zwei Tage später lag ich erschöpft auf dem Sofa unter dem Weihnachtsbaum meiner Mutter. Ich ließ mich die ganzen Feiertage von ihr verwöhnen: Weihnachtsstolle, Gänsebraten und französischen Cognac. Dabei hatte ich genug Muße, von neuen Geschäften im nächsten Jahr zu träumen.