In der Bundesrepublik Deutschland gibt es seit mehr als vierzig Jahren die herrschende Lehre eines alternativlosen ökonomischen Sachverstands, die für sich in Anspruch nimmt, theoretisch begründet und empirisch überprüfbar zu sein sowie dem gesunden Menschenverstand einzuleuchten.
Ihre Botschaft, die von Professor(inn)en, Politiker(inne)n und den Leitmedien permanent verkündet wird, lautet: Wenn es den Unternehmen gut geht, gedeiht auch das Land. Hohe Gewinne erlauben Investitionen. So entstehen Arbeitsplätze. Werden die Profite durch unmäßige Lohnsteigerungen, Sozialabgaben der Unternehmen für Arbeitslosen-, Kranken- und Altersversicherung sowie Steuern geschmälert, kostet dies Jobs.
Als neoliberal gilt diese Lehre, weil ihre Verfechter(innen) die Wiederherstellung ungezügelter Märkte fordern. In den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg seien diese durch Staatseingriffe und Gewerkschaftsmacht schädlicherweise eingeschränkt worden.
Aber da gibt es ein Problem: Gerade in jener angeblich so schrecklichen Vergangenheit zwischen 1947 und ca. 1975 gab es hohes Wachstum mit Vollbeschäftigung bei guten Löhnen. Seit der Neoliberalismus sich durchgesetzt hat, erleben wir heftige Krisen, mehr Arbeitslosigkeit, schleppende Entwicklung, eine sich immer weiter öffnende Kluft zwischen Arm und Reich.
Die neoliberale Theorie hat also den Praxistest nicht bestanden. Was lief falsch?
Kai Eicker-Wolf, Leiter der Abteilung Wirtschaftspolitik beim DGB Hessen, und Patrick Schreiner, in ähnlicher Funktion bei der Bundesverwaltung von ver.di tätig, gehen, um diese Frage zu beantworten, den Weg der immanenten Kritik und des Fakten-Checks. Sie tragen nicht eine Gegenerzählung zum Neoliberalismus – etwa eine keynesianische oder eine marxistische – vor, sondern nehmen die herrschende Lehre beim Wort und versuchen, die Stelle zu finden, wo die Propaganda an den Tatsachen scheitert. Material haben sie genug: Politiker(innen) von Regierungsparteien, Vertreter(innen) von Arbeitgeberverbänden, das kapitalnahe Institut der Deutschen Wirtschaft, die »Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft«, Ökonomieprofessor(innen) und Medienleute: Sie setzen tagtäglich Statements in die Welt, in denen sie aus jeweils aktuellem Anlass die Überlegenheit des Marktradikalismus zu belegen versuchen. Die Quintessenz ihrer Äußerungen lässt sich immer mit einem auftrumpfenden Satz zusammenfassen. Eicker-Wolf und Schreiner analysieren ihn und kommen zu dem Ergebnis, dass da Märchen erzählt werden. Ihre Befunde haben sie in einem Buch gesammelt: »Wirtschaftsmärchen. Hundertundeine Legende über Ökonomie, Arbeit und Soziales«.
Sie machen es sich nicht leicht. Die Lehrmeinungen des Neoliberalismus mögen falsch sein, ihre Propagandist(inn)en aber sind nicht dumm. Sie beherrschen die Suggestionstechnik der Werbesprache: Einfache Sätze, gegen die, so scheint es, keine Gegenrede möglich ist. Widerspruch setzt sich dem Vorwurf aus, zu viele Worte zu machen, wo doch schon alles klar ist.
Wer sich dennoch mit derlei auseinandersetzen will, kann sich aber doch ein intellektuelles Vergnügen bereiten, wie man sie beim Lösen von Denksportaufgaben empfindet, nämlich so: Jedes der von Eicker-Wolf/Schreiner referierten »Märchen« beginnt mit einem Satz aus dem Arsenal des Neoliberalismus. Es empfiehlt sich, danach nicht sofort weiterzulesen, sondern das Buch zuzuklappen und sich dann ein eigenes Urteil über das Gelesene zu bilden. Zwei Beispiele: »Der demografische Wandel macht die Rente unbezahlbar« (S. 62), oder: »Man kann Geld nur einmal ausgeben« (161).
Lassen Sie, verehrte Leserin, geschätzter Leser, diese Behauptungen auf sich wirken, prüfen sie sie auf ihre innere Schlüssigkeit und vergleichen sie sie mit den Tatsachen: Nachdem Sie mit Ihren Überlegungen zu einem Ergebnis gekommen sind, können Sie das Buch wieder öffnen und ihre eigenen Schlussfolgerungen einerseits mit den Thesen der Märchenerzähler, andererseits von Eicker-Wolf und Schreiner vergleichen. Na, was kommt dabei heraus?
Allerdings kann es Ihnen passieren, dass zum intellektuellen Spaß sich schließlich Frustration gesellt. Ja, das Lehrgebäude des Neoliberalismus ist theoretisch ein Hirngespinst. In der Praxis wird es aber unerschütterlich von politischer und ökonomischer Macht gestützt. Deren Nutznießer lassen sich von der Widerlegung ihrer Propaganda nicht stören. Nach wie vor folgt die praktische Wirtschaftspolitik Konzepten, die die Reichen immer reicher, die Armen immer ärmer machen und in immer kürzeren Intervallen von einer Krise zur nächsten führen. Jede Kritik daran erscheint ohnmächtig. Das wirkt demotivierend für Leute, die es anders wollen: Macht schlägt Denken.
So mag resignieren, wer sich die Dinge von außen betrachtet. Mit derlei Melancholie können sich Menschen nicht bescheiden, die auf Verbesserung ihrer wirtschaftlichen Lage angewiesen sind. Regelmäßig finden Tarifverhandlungen statt, jedes Jahr stellen Bund, Länder und Gemeinden ihre Haushaltspläne auf. Immer geht es dabei um Verteilungsfragen. Gewerkschaften und die wenigen linken Abgeordneten, die es in kommunalen Körperschaften, in Landtagen und im Bundestag noch gibt, brauchen Argumente, um für die Unterklassen etwas herauszuholen. Kapitaleigentümer und die von ihnen ausgehaltenen Parteien mögen das kaltlächelnd auszusitzen versuchen. Beine machen kann ihnen nur die Selbstmobilisierung derer, die auf anständige Löhne und eine leistungsfähige öffentliche Infrastruktur angewiesen sind.
Der Neoliberalismus mag sich noch weit länger halten, als seinen Gegnern und Opfern lieb ist. Derweil treten immer neue Alterskohorten ins Wirtschaftsleben ein, die mit seiner Propaganda konfrontiert werden. Das Buch von Kai Eicker-Wolf und Patrick Schreiner ist eine Art Werkzeugkasten: Er enthält Argumente, mit denen sich diejenigen wehren können, die es müssen.
Patrick Schreiner und Kai Eicker-Wolf: Wirtschaftsmärchen. Hundertundeine Legende über Ökonomie, Arbeit und Soziales, Köln 2023, PapyRossa Verlag, 270 S., 19,90 €.