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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Ein Werkzeugkasten des Widerstands

In der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land gibt es seit mehr als vier­zig Jah­ren die herr­schen­de Leh­re eines alter­na­tiv­lo­sen öko­no­mi­schen Sach­ver­stands, die für sich in Anspruch nimmt, theo­re­tisch begrün­det und empi­risch über­prüf­bar zu sein sowie dem gesun­den Men­schen­ver­stand einzuleuchten.

Ihre Bot­schaft, die von Professor(inn)en, Politiker(inne)n und den Leit­me­di­en per­ma­nent ver­kün­det wird, lau­tet: Wenn es den Unter­neh­men gut geht, gedeiht auch das Land. Hohe Gewin­ne erlau­ben Inve­sti­tio­nen. So ent­ste­hen Arbeits­plät­ze. Wer­den die Pro­fi­te durch unmä­ßi­ge Lohn­stei­ge­run­gen, Sozi­al­ab­ga­ben der Unter­neh­men für Arbeits­lo­sen-, Kran­ken- und Alters­ver­si­che­rung sowie Steu­ern geschmä­lert, kostet dies Jobs.

Als neo­li­be­ral gilt die­se Leh­re, weil ihre Verfechter(innen) die Wie­der­her­stel­lung unge­zü­gel­ter Märk­te for­dern. In den Jahr­zehn­ten nach dem Zwei­ten Welt­krieg sei­en die­se durch Staats­ein­grif­fe und Gewerk­schafts­macht schäd­li­cher­wei­se ein­ge­schränkt worden.

Aber da gibt es ein Pro­blem: Gera­de in jener angeb­lich so schreck­li­chen Ver­gan­gen­heit zwi­schen 1947 und ca. 1975 gab es hohes Wachs­tum mit Voll­be­schäf­ti­gung bei guten Löh­nen. Seit der Neo­li­be­ra­lis­mus sich durch­ge­setzt hat, erle­ben wir hef­ti­ge Kri­sen, mehr Arbeits­lo­sig­keit, schlep­pen­de Ent­wick­lung, eine sich immer wei­ter öff­nen­de Kluft zwi­schen Arm und Reich.

Die neo­li­be­ra­le Theo­rie hat also den Pra­xis­test nicht bestan­den. Was lief falsch?

Kai Eicker-Wolf, Lei­ter der Abtei­lung Wirt­schafts­po­li­tik beim DGB Hes­sen, und Patrick Schrei­ner, in ähn­li­cher Funk­ti­on bei der Bun­des­ver­wal­tung von ver.di tätig, gehen, um die­se Fra­ge zu beant­wor­ten, den Weg der imma­nen­ten Kri­tik und des Fak­ten-Checks. Sie tra­gen nicht eine Gegen­er­zäh­lung zum Neo­li­be­ra­lis­mus – etwa eine keyne­sia­ni­sche oder eine mar­xi­sti­sche – vor, son­dern neh­men die herr­schen­de Leh­re beim Wort und ver­su­chen, die Stel­le zu fin­den, wo die Pro­pa­gan­da an den Tat­sa­chen schei­tert. Mate­ri­al haben sie genug: Politiker(innen) von Regie­rungs­par­tei­en, Vertreter(innen) von Arbeit­ge­ber­ver­bän­den, das kapi­tal­na­he Insti­tut der Deut­schen Wirt­schaft, die »Initia­ti­ve Neue Sozia­le Markt­wirt­schaft«, Ökonomieprofessor(innen) und Medi­en­leu­te: Sie set­zen tag­täg­lich State­ments in die Welt, in denen sie aus jeweils aktu­el­lem Anlass die Über­le­gen­heit des Markt­ra­di­ka­lis­mus zu bele­gen ver­su­chen. Die Quint­essenz ihrer Äuße­run­gen lässt sich immer mit einem auf­trump­fen­den Satz zusam­men­fas­sen. Eicker-Wolf und Schrei­ner ana­ly­sie­ren ihn und kom­men zu dem Ergeb­nis, dass da Mär­chen erzählt wer­den. Ihre Befun­de haben sie in einem Buch gesam­melt: »Wirt­schafts­mär­chen. Hun­dert­und­ei­ne Legen­de über Öko­no­mie, Arbeit und Soziales«.

Sie machen es sich nicht leicht. Die Lehr­mei­nun­gen des Neo­li­be­ra­lis­mus mögen falsch sein, ihre Propagandist(inn)en aber sind nicht dumm. Sie beherr­schen die Sug­ge­sti­ons­tech­nik der Wer­be­spra­che: Ein­fa­che Sät­ze, gegen die, so scheint es, kei­ne Gegen­re­de mög­lich ist. Wider­spruch setzt sich dem Vor­wurf aus, zu vie­le Wor­te zu machen, wo doch schon alles klar ist.

Wer sich den­noch mit der­lei aus­ein­an­der­set­zen will, kann sich aber doch ein intel­lek­tu­el­les Ver­gnü­gen berei­ten, wie man sie beim Lösen von Denk­sport­auf­ga­ben emp­fin­det, näm­lich so: Jedes der von Eicker-Wol­f/­Schrei­ner refe­rier­ten »Mär­chen« beginnt mit einem Satz aus dem Arse­nal des Neo­li­be­ra­lis­mus. Es emp­fiehlt sich, danach nicht sofort wei­ter­zu­le­sen, son­dern das Buch zuzu­klap­pen und sich dann ein eige­nes Urteil über das Gele­se­ne zu bil­den. Zwei Bei­spie­le: »Der demo­gra­fi­sche Wan­del macht die Ren­te unbe­zahl­bar« (S. 62), oder: »Man kann Geld nur ein­mal aus­ge­ben« (161).

Las­sen Sie, ver­ehr­te Lese­rin, geschätz­ter Leser, die­se Behaup­tun­gen auf sich wir­ken, prü­fen sie sie auf ihre inne­re Schlüs­sig­keit und ver­glei­chen sie sie mit den Tat­sa­chen: Nach­dem Sie mit Ihren Über­le­gun­gen zu einem Ergeb­nis gekom­men sind, kön­nen Sie das Buch wie­der öff­nen und ihre eige­nen Schluss­fol­ge­run­gen einer­seits mit den The­sen der Mär­chen­er­zäh­ler, ande­rer­seits von Eicker-Wolf und Schrei­ner ver­glei­chen. Na, was kommt dabei heraus?

Aller­dings kann es Ihnen pas­sie­ren, dass zum intel­lek­tu­el­len Spaß sich schließ­lich Fru­stra­ti­on gesellt. Ja, das Lehr­ge­bäu­de des Neo­li­be­ra­lis­mus ist theo­re­tisch ein Hirn­ge­spinst. In der Pra­xis wird es aber uner­schüt­ter­lich von poli­ti­scher und öko­no­mi­scher Macht gestützt. Deren Nutz­nie­ßer las­sen sich von der Wider­le­gung ihrer Pro­pa­gan­da nicht stö­ren. Nach wie vor folgt die prak­ti­sche Wirt­schafts­po­li­tik Kon­zep­ten, die die Rei­chen immer rei­cher, die Armen immer ärmer machen und in immer kür­ze­ren Inter­val­len von einer Kri­se zur näch­sten füh­ren. Jede Kri­tik dar­an erscheint ohn­mäch­tig. Das wirkt demo­ti­vie­rend für Leu­te, die es anders wol­len: Macht schlägt Denken.

So mag resi­gnie­ren, wer sich die Din­ge von außen betrach­tet. Mit der­lei Melan­cho­lie kön­nen sich Men­schen nicht beschei­den, die auf Ver­bes­se­rung ihrer wirt­schaft­li­chen Lage ange­wie­sen sind. Regel­mä­ßig fin­den Tarif­ver­hand­lun­gen statt, jedes Jahr stel­len Bund, Län­der und Gemein­den ihre Haus­halts­plä­ne auf. Immer geht es dabei um Ver­tei­lungs­fra­gen. Gewerk­schaf­ten und die weni­gen lin­ken Abge­ord­ne­ten, die es in kom­mu­na­len Kör­per­schaf­ten, in Land­ta­gen und im Bun­des­tag noch gibt, brau­chen Argu­men­te, um für die Unter­klas­sen etwas her­aus­zu­ho­len. Kapi­tal­ei­gen­tü­mer und die von ihnen aus­ge­hal­te­nen Par­tei­en mögen das kalt­lä­chelnd aus­zu­sit­zen ver­su­chen. Bei­ne machen kann ihnen nur die Selbst­mo­bi­li­sie­rung derer, die auf anstän­di­ge Löh­ne und eine lei­stungs­fä­hi­ge öffent­li­che Infra­struk­tur ange­wie­sen sind.

Der Neo­li­be­ra­lis­mus mag sich noch weit län­ger hal­ten, als sei­nen Geg­nern und Opfern lieb ist. Der­weil tre­ten immer neue Alters­ko­hor­ten ins Wirt­schafts­le­ben ein, die mit sei­ner Pro­pa­gan­da kon­fron­tiert wer­den. Das Buch von Kai Eicker-Wolf und Patrick Schrei­ner ist eine Art Werk­zeug­ka­sten: Er ent­hält Argu­men­te, mit denen sich die­je­ni­gen weh­ren kön­nen, die es müssen.

 Patrick Schrei­ner und Kai Eicker-Wolf: Wirt­schafts­mär­chen. Hun­dert­und­ei­ne Legen­de über Öko­no­mie, Arbeit und Sozia­les, Köln 2023, Papy­Ros­sa Ver­lag, 270 S., 19,90 €.