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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Ein Virus als Lebensbegleiter

Aller­or­ten Coro­na-Kri­se. In die­ser Situa­ti­on drängt sich mir eine Erin­ne­rung an den August 1947 auf, ein Remem­ber an den zwei­ten Nach­kriegs­som­mer nach dem von unse­ren Lands­leu­ten glück­li­cher­wei­se ver­fehl­ten 1000-jäh­ri­gen Reich. Ich hat­te nach vier Jah­ren in der Nazi-»Volksschule« das zwei­te demo­kra­ti­sche Grund­schul­jahr hin­ter mich gebracht und mich für die Feri­en­zeit zu einem Schwimm­kur­sus im Som­mer­bad mei­ner vogt­län­di­schen Hei­mat­stadt Greiz ange­mel­det. Sel­bi­gen muss­te ich wegen gesund­heit­li­cher Pro­ble­me abbre­chen, denn ich hat­te mir eine Nie­ren­becken­ent­zün­dung ein­ge­han­delt – so jeden­falls lau­te­te die Dia­gno­se unse­rer Haus­ärz­tin. Als sich kei­ne Bes­se­rung ein­stell­te und Frau Dok­tor König zunächst mein­te, ich wür­de simu­lie­ren, erho­ben mei­ne Eltern gehar­nisch­ten Ein­spruch. Zu Recht, wie sich zum Ent­set­zen der Fami­lie und der Medi­zi­ne­rin her­aus­stell­te, denn eine gründ­li­che­re Unter­su­chung ergab Polio­mye­li­tis, und zwar sowohl bei mir als auch bei mei­nem zwei­ein­halb­jäh­ri­gen Bru­der. Wir waren in der dama­li­gen sowje­ti­schen Besat­zungs­zo­ne die ersten Polio-Fäl­le in der ost­thü­rin­gi­schen Regi­on, und eini­ge soll­ten noch hin­zu­kom­men. Zunächst jedoch erfolg­te Hals über Kopf unse­re Ein­wei­sung ins Kran­ken­haus. Der Trans­port voll­zog sich in einem aus­ge­beul­ten zwei­tü­ri­gen Pkw vom Typ Opel P 4, der für Kran­ken­trans­por­te lebens­be­droh­lich unge­eig­net war. Die Pati­en­ten konn­ten nicht lie­gend beför­dert wer­den, und das Sit­zen war eine Qual. Aber irgend­wie kamen wir an. Wäh­rend bei mei­nem Bru­der ledig­lich eine gelähm­te Gesichts­par­tie dia­gno­sti­ziert wur­de, die er im Erwach­se­nen­al­ter hin­ter einem Bart ver­barg, hat­te es mich ärger erwischt: Bei­ne und Arme ver­wei­ger­ten eben­so ihren Dienst wie die Bauch- und Rücken­mus­ku­la­tur, und die ein­zi­ge Über­le­bens­chan­ce bestand dar­in, dass die Brust­par­tien und damit die Atmung funk­ti­ons­fä­hig geblie­ben waren. Den­noch berei­te­ten die Ärz­te mei­ne Eltern dar­auf vor, dass ich den Rest des Lebens aller Vor­aus­sicht nach im Roll­stuhl wür­de ver­brin­gen müs­sen. Die Pro­gno­se bewahr­hei­te­te sich dank der Ärz­te, mei­ner Fami­lie und ver­ständ­nis­vol­ler Leh­rer, Klas­sen­ka­me­ra­den und Nach­barn sowie eige­ner Gegen­kräf­te glück­li­cher­wei­se nicht.

Was die Ärz­te damals in der Iso­lier­sta­ti­on des Kran­ken­hau­ses gelei­stet haben, habe ich nicht ver­ges­sen. Es han­del­te sich vor allem um das jun­ge Medi­zi­ner-Ehe­paar Lat­ter­mann, das die Abtei­lung mit gro­ßem Enga­ge­ment, mit Ver­ve und ärzt­li­chem Pathos, mit dem dama­li­gen Wis­sens­stand und mit eini­gen enga­gier­ten Kran­ken­pfle­ge­rin­nen unter schwie­ri­gen Bedin­gun­gen betriebs­fä­hig hielt. Beson­ders her­vor­he­ben möch­te ich die erfah­re­ne Sta­ti­ons­schwe­ster Hil­de Abstrei­ter, die ich noch Jah­re danach an ihrer Arbeits­stel­le besuch­te. Auf die Seu­che war damals nie­mand vor­be­rei­tet, die Schluck­imp­fung wur­de erst Jah­re spä­ter erfun­den, und von der »Eiser­nen Lun­ge«, die spä­ter man­chem das Leben ret­te­te, war noch kei­ne Rede. Ich erin­ne­re mich jedoch an Mas­sa­gen, an phy­sio- und elek­tro­the­ra­peu­ti­sche Maß­nah­men und an die Über­tra­gung von Blut aus dem Kör­per unse­rer Eltern in unse­ren Kinderkreislauf.

Was mei­ne Eltern in die­ser Zeit und bei häus­li­cher Qua­ran­tä­ne gelei­stet haben, kann ich aus den Erleb­nis­sen der jüng­sten Gegen­wart annä­hernd nach­voll­zie­hen. Sie besuch­ten uns täg­lich, obwohl sie ihr Wohn­haus nur zu unse­rem Besuch ver­las­sen durf­ten und sich der Kon­takt in der Kli­nik nur über den dem Fen­ster vor­ge­la­ger­ten Bal­kon voll­zie­hen konn­te. Dabei hat­ten wir noch das Glück, im Par­terre unter­ge­bracht zu sein. Auch unse­re Groß­mutter Emma Pert­hel und unse­re Tan­te Frie­del besuch­ten uns so oft wie mög­lich und über­rasch­ten uns mit man­chem auf aben­teu­er­li­che Wei­se orga­ni­sier­ten Nasch­werk. Und – auch das ist mir in Erin­ne­rung geblie­ben – die Volks­so­li­da­ri­tät, gera­de gegrün­det und inzwi­schen 70 Jah­re alt, ver­teil­te im Kran­ken­haus Kakao – damals eine Deli­ka­tes­se par excellence.

Mein Bru­der und ich kamen uner­war­tet glimpf­lich über die ange­schla­ge­nen Run­den. Zu mei­nem eige­nen Erstau­nen konn­te ich eines Tages mei­ne Posi­ti­on im Bett wie­der selb­stän­dig ver­än­dern und mich mit Hil­fe einer Schwe­ster von der Lie­ge­statt erhe­ben. Selbst mein Wunsch, mich zum Leh­rer aus­bil­den zu las­sen, konn­te rea­li­siert wer­den, nach­dem sich eini­ge Mus­kel­grup­pen ent­ge­gen der Vor­aus­sa­ge refunk­tio­na­li­siert hat­ten und an die Stel­le des Sport­un­ter­richts in mei­nem Fal­le phy­sio­the­ra­peu­ti­sche Behand­lun­gen und ortho­pä­di­sches Tur­nen getre­ten waren. Dabei wur­de ich bis in die 50er Jah­re hin­ein von den Grei­zer Mas­sa­ge-Pra­xen von Doro­thea Ana­cker und Wulfhil­de Hertzsch betreut. Das änder­te aller­dings nichts dar­an, dass nicht alle Glie­der nor­mal belast­bar waren und ich infol­ge­des­sen Schwie­rig­kei­ten beim Lau­fen hat­te und eine Sko­lio­se (Wir­bel­säu­len­ver­krüm­mung) zurück­be­hielt. Dadurch ver­rin­ger­te sich mein Lun­gen­vo­lu­men, ich litt und lei­de unter Kurz­at­mig­keit und habe seit eini­gen Jah­ren wach­sen­de Schwie­rig­kei­ten beim Trep­pen­stei­gen. Mein Glück war es, dass ich nie am Rau­chen Gefal­len fand. Dass ich nach dem Stu­di­um und dem Staats­examen 32 Jah­re lang im Schul­dienst, davon 24 als Direk­tor einer Kin­der- und Jugend­sport­schu­le, arbei­ten wür­de, und das mit Freu­de, war nicht ein­mal im Traum vor­aus­zu­se­hen – schon des­halb nicht, weil ich von die­ser Art der Spe­zi­al­schu­le vor­her noch nie etwas gehört hatte.

Ich möch­te her­vor­he­ben, dass mir vom Aus­bruch der Krank­heit an und stän­dig bei der Bewäl­ti­gung ihrer Fol­gen viel Ver­ständ­nis und Hilfs­be­reit­schaft ent­ge­gen­ge­bracht wur­de. Mei­ne dama­li­gen Leh­rer und Mit­schü­ler unter­stütz­ten mich, wo sie nur konn­ten, und ich hat­te nie­mals das Gefühl der Hilf­lo­sig­keit. Hat­ten mich anfangs noch mei­ne Ange­hö­ri­gen in die Schu­le gebracht und von dort wie­der abge­holt, über­nah­men das bald mein Mit­schü­ler und Freund Eber­hard Schul­ze sowie wei­te­re Klas­sen­ka­me­ra­den. Die Haus­be­woh­ner in der Oßwald­stra­ße, zum Teil selbst durch die poli­ti­schen Umstän­de ver­trie­be­ne oder zwangs­um­ge­sie­del­te Per­so­nen, erwie­sen sich trotz ihrer Armut soli­da­risch und scho­ben uns man­ches Zubrot in die Tasche.

1951/​52 ver­brei­te­te sich der Polio-Virus noch­mals punk­tu­ell im ost­thü­rin­gi­schen Raum. Mei­ne Tan­te Frie­del, die wäh­rend der ersten Welt­kriegs­jah­re einen DRK-Kur­sus absol­viert hat­te und anschlie­ßend zum Laza­rett-Dienst in umge­wid­me­ten Schu­len ver­pflich­tet wor­den war, wur­de unter Iso­la­ti­ons­be­din­gun­gen im Dorf Neu­gerns­dorf im Land­kreis Greiz meh­re­re Wochen lang zur Bekämp­fung der Seu­che ein­ge­setzt. Für ihr Enga­ge­ment erhielt sie eine vom dama­li­gen thü­rin­gi­schen Mini­ster­prä­si­den­ten Wer­ner Egge­rath per­sön­lich unter­zeich­ne­te Dank­sa­gung, auf die sie stolz war und die sich noch in ihren Hin­ter­las­sen­schaf­ten fand. Das Kreis­kran­ken­haus Greiz wur­de übri­gens unter sei­nem spä­te­ren Lei­ter Pro­fes­sor Kukow­ka ein inter­na­tio­nal aner­kann­tes Behand­lungs- und For­schungs­zen­trum der DDR für die Bekämp­fung der Poliomyelitis.

Es war tra­gisch, dass ich mit der Polio-Pro­ble­ma­tik in mei­nen Jah­ren als Klas­sen­lei­ter noch­mals kon­fron­tiert wur­de. Inzwi­schen hat­te man die Schluck­imp­fung ent­wickelt und die tücki­sche Krank­heit fast besiegt, als ihr einer mei­ner Schü­ler im Jah­re 1959 erlag und in der »Eiser­nen Lun­ge« an einer Kanü­le erstick­te. Er hat­te sich das Virus beim Schwim­men wäh­rend der Som­mer­fe­ri­en an der Ost­see zuge­zo­gen. Die Teil­nah­me an der Trau­er­fei­er und die Gesprä­che mit den ver­zwei­fel­ten Eltern wir­bel­ten alles noch ein­mal auf, was ich über­wun­den glaubte.

Reich­lich 70 Jah­re spä­ter, im Früh­jahr 2020, erin­nert mich die Coro­na-Kata­stro­phe erneut an die Nach­kriegs­si­tua­ti­on. Ein Virus schlug wie­der­um unvor­be­rei­tet zu und ver­brei­te­te sich über die Kon­ti­nen­te. Die Gegen­maß­nah­men offen­bar­ten zunächst die Hilf­lo­sig­keit der Infi­zier­ten, die Über­for­de­rung der medi­zi­ni­schen Fach­leu­te und Ein­rich­tun­gen und der Behör­den sowie die erstaun­li­che Unbe­küm­mert­heit der Nor­mal­bür­ger. Das änder­te sich jedoch dies­mal rela­tiv schnell, da die Poli­ti­ker eine Ein­mü­tig­keit ent­wickel­ten, die sich deut­lich vom zer­mür­ben­den Geran­gel um Posten, Kom­pe­ten­zen und Mehr­heits­ver­hält­nis­se in den Par­la­men­ten abhob.

Die­se rela­ti­ve Beson­nen­heit und Über­ein­stim­mung im Vor­ge­hen gegen die Pan­de­mie unter­schei­det sich posi­tiv vom Agie­ren im Kampf gegen die Kli­ma­ka­ta­stro­phe und der son­sti­gen Zer­strit­ten­heit der Blöcke und Mäch­te. Begreift die Mensch­heit end­lich ihre Chan­ce, Prio­ri­tä­ten dau­er­haft zu verändern?

»Glau­ben Sie mir: Wenn jeder sei­nen Bei­trag lei­stet und … alles tut, was in sei­ner Macht steht, … wer­den wir es gemein­sam über­ste­hen«, beschwor Phil­ip Roth die Leser sei­nes 2010 erschie­ne­nen düste­ren Romans »Neme­sis«. Er bezog sich dabei auf die im Früh­som­mer 1944 in New Jersey/​USA gras­sie­ren­de Polio und plä­dier­te für die Bewah­rung der Nor­ma­li­tät. Aber: »Wie lässt sich das Rich­ti­ge tun, wenn nie­mand sicher sagen kann, was das Rich­ti­ge ist?« Roth starb 2018 als über 80-Jäh­ri­ger an Herz­ver­sa­gen in einem New Yor­ker Kran­ken­haus. Hof­fen wir, dass sein Appell sein Enga­ge­ment über­lebt! (Phil­ip Roth: »Neme­sis, Han­ser-Ver­lag, 2010). Erklä­run­gen über »das Rich­ti­ge« hat es zu Roths Zei­ten noch genü­gend gegeben.

Was übri­gens mei­ne Begeg­nun­gen mit einem Virus im Kin­des- und im Grei­sen­al­ter mit­ein­an­der ver­bin­det, ist mei­ne Zuge­hö­rig­keit zu einer jewei­li­gen Risi­ko­grup­pe. Gehör­te ich 1947 noch zu den vom Krie­ge gebeu­tel­ten Ange­hö­ri­gen einer Gene­ra­ti­on, die vor einer unge­wis­sen Zukunft stand, ver­stär­ke ich 2020 die beson­ders gefähr­de­te Pha­lanx der »Hoch­be­tag­ten«. Die Jah­re, Erleb­nis­se, Tätig­kei­ten, Wider­sprü­che und Pro­blem­stel­lun­gen dazwi­schen sind einer gründ­li­che­ren Betrach­tung wert. Soviel steht jedoch fest: Der Kampf gegen ein exi­stenz­be­dro­hen­des Virus ver­läuft nicht los­ge­löst von aller Erdenschwere.