Außer vielleicht in Südbaden erinnert sich heute kaum noch jemand an den Revolutionär Joseph Fickler. Auch in der historischen Erforschung der 1848er Revolution blieb er eine Randfigur, der die Bühne gern seinen »verwegenen«, mit Schlapphut und Patronengurt auftretenden Mitstreitern, wie Friedrich Hecker und Gustav Struve überließ. Seine politischen Gegner hingegen maßen ihm eine ganz andere Bedeutung zu. Nach Ansicht etwa des Legationssekretärs beim preußischen Gesandten in Karlsruhe, Siegmund Lucas von Arnim, Sohn von Achim und Bettina von Arnim, stand Fickler gar »an der Spitze der werdenden Republik« – eine auf den ersten Blick irritierende Äußerung über einen allgemein höchstens als politische »Provinzgröße« geltenden Publizisten, dessen Ambitionen über den Konstanzer Seekreis, dem kleinsten Verwaltungsbezirk im Großherzogtum Baden, nie erkennbar hinausreichten. Fickler suchte keine überregionale Prominenz, sondern die Nähe zu »seinen Leuten«, den Seebauern, Kleinbürgern und Handwerksgesellen, deren »Gefühle und Meinungen« er »mit Glück in Druckerschwärze zu übersetzen« versuchte, wie Karl Marx in seiner Schmähschrift »Die großen Männer des Exils« ironisch anmerkte. Dieser »Volksmann« als Anführer einer badischen Republik?
Joseph-Ferdinand Fickler wurde 1808 als eines von dreizehn Kindern von Jakob und Eva Fickler in Konstanz geboren. Über seine Kindheit, Schulzeit und Jugend ist wenig bekannt, eine höhere Schulbildung war ihm aufgrund der Mittellosigkeit seiner Familie nicht möglich. Stattdessen muss sich der junge Fickler schon früh hart arbeitend durchschlagen. Er beginnt eine Kaufmannslehre, wird Lagerverwalter, versucht sich als Makler – und wird dabei als »Kleinbürger« zweifellos für all die Ungerechtigkeiten und Benachteiligungen sensibilisiert, denen sich Leute wie er – also die meisten Menschen seiner Zeit – durch Adel und Großbürgertum ausgesetzt sehen. Dagegen beginnt er aufzubegehren, lässt sich in den Konstanzer Bürgerausschuss wählen und vertritt dort vor allem die Belange der sogenannten kleinen Leute, wodurch er, als Kommunalpolitiker, bald in ganz Südbaden zu einer Institution wird.
Aber Fickler, ganz Volksmann, möchte nicht nur stellvertretend für andere kämpfen, er will kein Anführer, Patriarch oder politischer Funktionär sein, ihn treibt eher das politisch-pädagogische Ethos, die breiten Volksschichten, die Bauern, Handwerker und Arbeiter aufzuklären und zu ertüchtigen, damit sie selbst politisch aktiv werden.
Dieser Mission verschreibt sich Fickler nun voll und ganz. Schon im Alter von 24 Jahren gibt er 1832 das kämpferische Konstanzer Wochenblatt heraus und übernimmt nur fünf Jahre später, 1837, die Redaktion der ein Jahr zuvor gegründeten Seeblätter, des zu diesem Zeitpunkt einzigen Oppositionsblattes in Baden. Die Zeitung wird zu seinem publizistischen Lebensprojekt. Von vornherein geht es ihm darum, nicht zu theoretisieren und das Wünschenswerte auszumalen, sondern das Notwendige und »Machbare« kenntlich werden zu lassen und das politische Geschehen »dem Bürger- und Bauernstand zugänglich und verständlich« zu machen. Dabei waren er und das Blatt zwar stets kritisch, aber zunächst durchaus »loyal«. Mit der 1818 beschlossenen und 1819 eingeführten Aufteilung der Badischen Ständeversammlung in zwei Kammern –dem Oberhaus und der eigentlichen Volksvertretung – verfügte Baden über das liberalste Kammerparlament im Deutschen Bund. Durch ein ebenfalls freizügiges Wahlrecht wurden in der Folge gewichtige oppositionelle Stimmen (etwa Johann Adam von Itzstein, Carl Theodor Welcker oder Friedrich Hecker) parlamentarisch hörbar. Nach Ansicht des Fürsten von Metternich, Außenminister und ab 1821 Staatskanzler des Kaisertums Österreich, fanden sich in der badischen Zweiten Kammer »unleugbar die ausgeprägtesten Demagogen Deutschlands wieder«.
Joseph Fickler verfolgte die Arbeit dieser »Demagogen« in seinen Seeblättern anfangs journalistisch wohlwollend. Er berichtete über Debatten, Verhandlungen, Gesetzentwürfe und machte damit Politik für viele erstmals erfahrbar, sah sich aber zunehmend desillusioniert. All den hochmögenden, fordernden Parlamentsreden folgten so gut wie keine Taten, die Zweite – bürgerliche – Kammer blieb weitgehend machtlos, das letzte Wort behielten stets der Fürst und die vom Adel dominierte Erste Kammer, das Oberhaus. Ficklers Berichterstattung über die Zweite Kammer wird zunehmend ungeduldiger, fordernder, kritischer, in seinen Seeblättern übt er – stets im Kampf gegen die Zensur – immer schärfere Kritik an seinen einstigen politischen Mitstreitern: »Weil uns zehn Jahre des Zusagens und Nachgebens nicht weitergebracht haben (…), darum wollen wir es einmal auf die Probe ankommen lassen, was eine unerschütterliche Kammermehrheit im Sinne des Fortschritts zu bewirken vermöge (…). Hat sie in zehn Jahren sich nicht besser erprobt als das Justemilieu, dann wollen wir diesem wieder den Vorzug geben, weil bei seiner Politik der Kopf nicht zu sehr angestrengt und die Lebenstätigkeit nicht zu sehr in Anspruch genommen wird. Etwas wollen und die Mittel zurückweisen, womit es zu erreichen ist, das zeugt von Schwäche und Feigheit, Stumpfsinn oder Lüge.«
Schon ab 1842 fordert Fickler unverhohlen eine legale Revolution mit »verfassungsmäßigen Mitteln«, denn mit den Fürsten und den Konstitutionellen, die auf ein »Arrangement« mit der monarchischen Macht setzen, sei kein demokratischer Staat zu machen. Auch anderswo setzt im Jahr 1842 eine Radikalisierungswelle ein. In Köln erscheint die links-oppositionelle Rheinische Zeitung von Karl Marx, in Sachsen schlägt Robert Blum in seinen Sächsischen Vaterlandsblättern immer radikaldemokratischere Töne an. War Fickler in seiner schärfer werdenden Kritik anfangs noch politisch isoliert, so findet er in der Folge für sein konsequentes Demokratie-Verständnis immer größere Unterstützung.
Dies kulminierte schließlich in den überwältigenden Offenburger Volksversammlungen vom 10. September 1847 und vom 19. März 1848, auf denen sich zigtausende Menschen offen gegen die Monarchie stellten und die Installierung einer möglichst gesamtdeutschen Republik forderten. Nicht mehr auf Vereinbarungen hoffen, sondern die Konfrontation wagen! Angesichts der nun überall vorgebrachten »Forderungen des Volkes« wankten die Fürstenhäuser und gaben – scheinbar – nach (Vorparlament, Märzregierungen, Nationalversammlung), während sie hinter den Kulissen ihre Kräfte sammelten. Denn dieses Nachgeben, das war zweifellos absehbar, spaltete die demokratische Bewegung. Republik ja! Aber der Weg dahin war umstritten.
Für Joseph Fickler war die Sache klar: Obwohl Pragmatiker und für taktische Konzessionen stets aufgeschlossen, erkannte er spätestens im März 1848 das Momentum und plädierte während der Offenburger Versammlung für die sofortige Ausrufung der (badischen) Republik; die anderen deutschen Länder würden diesem Beispiel dann schon folgen. Damit meinte er dezidiert keinen gewaltsamen Aufstand, sondern gewissermaßen einen Volksentscheid, der eine militärische Auseinandersetzung gleichwohl in Kauf nahm. Das »Volk«, die Mehrheit der Menschen, stand zu diesem Zeitpunkt hinter den Demokraten. Wann, wenn nicht jetzt? Aber die beiden anderen populären Anführer der »Erhebung«, Friedrich Hecker und Gustav Struve, zögerten. Sie, die üblicherweise viel martialischer als Fickler auftraten, wollten – zumindest vorerst – nicht mit den Liberalen brechen und setzten auf das gemeinschaftlich geforderte und nur kurz darauf zusammentretende Vorparlament und die Frankfurter Nationalversammlung, um die Republik in allen deutschen Ländern gleichzeitig auf parlamentarisch-legitimem Weg durchzusetzen.
Für Fickler, erfahren genug in allen parlamentarischen Winkelzügen der Mehrheitsbildung, war das wohl reines Wunschdenken. Dennoch beugte er sich dem Widerstand von Hecker und Struve. Das muss für ihn durchaus bitter gewesen sein. Denn Fickler hatte im Vorfeld der Offenburger Versammlung vom März 1848 auf einer mehrmonatigen konspirativen Reise, die vorgeblich dem Zweck diente, seine Emigration in die USA zu organisieren. auch die Option einer militärischen Konfrontation vorbereitet und sich die Unterstützung militärisch erfahrener Hilfskräfte in der Schweiz und in Köln gesichert – eine Unternehmung, die dem staatlichen Überwachungsapparat freilich nicht verborgen geblieben war.
Nur wenige Wochen nach der Offenburger Versammlung, die die badische Regierung zweifellos in Sorge versetzt hatte, wird Joseph Fickler am 8. April in Karlsruhe verhaftet – auf Veranlassung ausgerechnet von Karl Mathy, einem einstigen Weggefährten und Förderer der Seeblätter, der sich als Kammerabgeordneter zu einem vehementen Fürsprecher der konstitutionellen Monarchie gewandelt hatte. Nach dreizehnmonatiger Haft wird er im Mai 1849 freigesprochen und begibt sich gleich wieder in die politische Arena. Auf einer erneuten Volksversammlung in Offenburg wird er am 13. Mai in den Landesausschuss und am 1. Juni in die provisorische Regierung der nun ausgerufenen badischen Republik gewählt. Aber die »Reaktion« ist in vollem Gang. Nur zwei Tage später, am 3. Mai 1849, wird er in Stuttgart erneut verhaftet und auf der Festung Hohenasperg inhaftiert.
Mit der Einnahme der Festung Rastatt durch Bundestruppen unter preußischer Führung wird die Revolution am 23. Juli 1849 endgültig militärisch niedergeschlagen. Das Schicksal der Seeblätter ist schon vorher besiegelt, am 9. Juli 1849 erscheint die letzte Ausgabe. Joseph Fickler wird gegen Kaution freigelassen und flieht zunächst über die Schweiz nach England, bevor er im Winter 1851/52 in die USA emigriert.
Wegen seiner konsequenten Volksnähe, zu der sicher auch ein schwerer badischer Akzent gehörte, war Joseph Fickler im Kreis der Oppositionellen, den liberalen Akademikern und gelehrten Publizisten, lange ein politischer Außenseiter geblieben – von den meisten bis zuletzt unterschätzt. Nicht so von seinen politischen Gegnern, den Fürsten, Monarchisten und Konstitutionellen, die in ihm den mutmaßlich einflussreichsten Widersacher, die ihn »an der Spitze der werdenden Republik« sahen.
Nach der Generalamnestie für alle 48er kehrte Joseph Fickler im September 1865, praktisch unbemerkt, in sein »Habitat«, nach Konstanz zurück. Er litt mittlerweile an Magenkrebs und starb nur gut zwei Monate später, am 26. November 1865, im Alter von 57 Jahren.
Leseempfehlung: Joseph Fickler: Fort mit den Fürsten: Wir wollen selbst regieren!, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2023 (Edition Paulskirche), 160 S., 14 €.