Skip to content

Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

Menu
Menu

Ein vergessener Revolutionär

Außer viel­leicht in Süd­ba­den erin­nert sich heu­te kaum noch jemand an den Revo­lu­tio­när Joseph Fick­ler. Auch in der histo­ri­schen Erfor­schung der 1848er Revo­lu­ti­on blieb er eine Rand­fi­gur, der die Büh­ne gern sei­nen »ver­we­ge­nen«, mit Schlapp­hut und Patro­nen­gurt auf­tre­ten­den Mit­strei­tern, wie Fried­rich Hecker und Gustav Struve über­ließ. Sei­ne poli­ti­schen Geg­ner hin­ge­gen maßen ihm eine ganz ande­re Bedeu­tung zu. Nach Ansicht etwa des Lega­ti­ons­se­kre­tärs beim preu­ßi­schen Gesand­ten in Karls­ru­he, Sieg­mund Lucas von Arnim, Sohn von Achim und Bet­ti­na von Arnim, stand Fick­ler gar »an der Spit­ze der wer­den­den Repu­blik« – eine auf den ersten Blick irri­tie­ren­de Äuße­rung über einen all­ge­mein höch­stens als poli­ti­sche »Pro­vinz­grö­ße« gel­ten­den Publi­zi­sten, des­sen Ambi­tio­nen über den Kon­stan­zer See­kreis, dem klein­sten Ver­wal­tungs­be­zirk im Groß­her­zog­tum Baden, nie erkenn­bar hin­aus­reich­ten. Fick­ler such­te kei­ne über­re­gio­na­le Pro­mi­nenz, son­dern die Nähe zu »sei­nen Leu­ten«, den See­bau­ern, Klein­bür­gern und Hand­werks­ge­sel­len, deren »Gefüh­le und Mei­nun­gen« er »mit Glück in Drucker­schwär­ze zu über­set­zen« ver­such­te, wie Karl Marx in sei­ner Schmäh­schrift »Die gro­ßen Män­ner des Exils« iro­nisch anmerk­te. Die­ser »Volks­mann« als Anfüh­rer einer badi­schen Republik?

Joseph-Fer­di­nand Fick­ler wur­de 1808 als eines von drei­zehn Kin­dern von Jakob und Eva Fick­ler in Kon­stanz gebo­ren. Über sei­ne Kind­heit, Schul­zeit und Jugend ist wenig bekannt, eine höhe­re Schul­bil­dung war ihm auf­grund der Mit­tel­lo­sig­keit sei­ner Fami­lie nicht mög­lich. Statt­des­sen muss sich der jun­ge Fick­ler schon früh hart arbei­tend durch­schla­gen. Er beginnt eine Kauf­manns­leh­re, wird Lager­ver­wal­ter, ver­sucht sich als Mak­ler – und wird dabei als »Klein­bür­ger« zwei­fel­los für all die Unge­rech­tig­kei­ten und Benach­tei­li­gun­gen sen­si­bi­li­siert, denen sich Leu­te wie er – also die mei­sten Men­schen sei­ner Zeit – durch Adel und Groß­bür­ger­tum aus­ge­setzt sehen. Dage­gen beginnt er auf­zu­be­geh­ren, lässt sich in den Kon­stan­zer Bür­ger­aus­schuss wäh­len und ver­tritt dort vor allem die Belan­ge der soge­nann­ten klei­nen Leu­te, wodurch er, als Kom­mu­nal­po­li­ti­ker, bald in ganz Süd­ba­den zu einer Insti­tu­ti­on wird.

Aber Fick­ler, ganz Volks­mann, möch­te nicht nur stell­ver­tre­tend für ande­re kämp­fen, er will kein Anfüh­rer, Patri­arch oder poli­ti­scher Funk­tio­när sein, ihn treibt eher das poli­tisch-päd­ago­gi­sche Ethos, die brei­ten Volks­schich­ten, die Bau­ern, Hand­wer­ker und Arbei­ter auf­zu­klä­ren und zu ertüch­ti­gen, damit sie selbst poli­tisch aktiv werden.

Die­ser Mis­si­on ver­schreibt sich Fick­ler nun voll und ganz. Schon im Alter von 24 Jah­ren gibt er 1832 das kämp­fe­ri­sche Kon­stan­zer Wochen­blatt her­aus und über­nimmt nur fünf Jah­re spä­ter, 1837, die Redak­ti­on der ein Jahr zuvor gegrün­de­ten See­blät­ter, des zu die­sem Zeit­punkt ein­zi­gen Oppo­si­ti­ons­blat­tes in Baden. Die Zei­tung wird zu sei­nem publi­zi­sti­schen Lebens­pro­jekt. Von vorn­her­ein geht es ihm dar­um, nicht zu theo­re­ti­sie­ren und das Wün­schens­wer­te aus­zu­ma­len, son­dern das Not­wen­di­ge und »Mach­ba­re« kennt­lich wer­den zu las­sen und das poli­ti­sche Gesche­hen »dem Bür­ger- und Bau­ern­stand zugäng­lich und ver­ständ­lich« zu machen. Dabei waren er und das Blatt zwar stets kri­tisch, aber zunächst durch­aus »loy­al«. Mit der 1818 beschlos­se­nen und 1819 ein­ge­führ­ten Auf­tei­lung der Badi­schen Stän­de­ver­samm­lung in zwei Kam­mern –dem Ober­haus und der eigent­li­chen Volks­ver­tre­tung – ver­füg­te Baden über das libe­ral­ste Kam­mer­par­la­ment im Deut­schen Bund. Durch ein eben­falls frei­zü­gi­ges Wahl­recht wur­den in der Fol­ge gewich­ti­ge oppo­si­tio­nel­le Stim­men (etwa Johann Adam von Itz­stein, Carl Theo­dor Welcker oder Fried­rich Hecker) par­la­men­ta­risch hör­bar. Nach Ansicht des Für­sten von Met­ter­nich, Außen­mi­ni­ster und ab 1821 Staats­kanz­ler des Kai­ser­tums Öster­reich, fan­den sich in der badi­schen Zwei­ten Kam­mer »unleug­bar die aus­ge­präg­te­sten Dem­ago­gen Deutsch­lands wieder«.

Joseph Fick­ler ver­folg­te die Arbeit die­ser »Dem­ago­gen« in sei­nen See­blät­tern anfangs jour­na­li­stisch wohl­wol­lend. Er berich­te­te über Debat­ten, Ver­hand­lun­gen, Gesetz­ent­wür­fe und mach­te damit Poli­tik für vie­le erst­mals erfahr­bar, sah sich aber zuneh­mend des­il­lu­sio­niert. All den hoch­mö­gen­den, for­dern­den Par­la­ments­re­den folg­ten so gut wie kei­ne Taten, die Zwei­te – bür­ger­li­che – Kam­mer blieb weit­ge­hend macht­los, das letz­te Wort behiel­ten stets der Fürst und die vom Adel domi­nier­te Erste Kam­mer, das Ober­haus. Fick­lers Bericht­erstat­tung über die Zwei­te Kam­mer wird zuneh­mend unge­dul­di­ger, for­dern­der, kri­ti­scher, in sei­nen See­blät­tern übt er – stets im Kampf gegen die Zen­sur – immer schär­fe­re Kri­tik an sei­nen ein­sti­gen poli­ti­schen Mit­strei­tern: »Weil uns zehn Jah­re des Zusa­gens und Nach­ge­bens nicht wei­ter­ge­bracht haben (…), dar­um wol­len wir es ein­mal auf die Pro­be ankom­men las­sen, was eine uner­schüt­ter­li­che Kam­mer­mehr­heit im Sin­ne des Fort­schritts zu bewir­ken ver­mö­ge (…). Hat sie in zehn Jah­ren sich nicht bes­ser erprobt als das Juste­mi­lieu, dann wol­len wir die­sem wie­der den Vor­zug geben, weil bei sei­ner Poli­tik der Kopf nicht zu sehr ange­strengt und die Lebens­tä­tig­keit nicht zu sehr in Anspruch genom­men wird. Etwas wol­len und die Mit­tel zurück­wei­sen, womit es zu errei­chen ist, das zeugt von Schwä­che und Feig­heit, Stumpf­sinn oder Lüge.«

Schon ab 1842 for­dert Fick­ler unver­hoh­len eine lega­le Revo­lu­ti­on mit »ver­fas­sungs­mä­ßi­gen Mit­teln«, denn mit den Für­sten und den Kon­sti­tu­tio­nel­len, die auf ein »Arran­ge­ment« mit der mon­ar­chi­schen Macht set­zen, sei kein demo­kra­ti­scher Staat zu machen. Auch anders­wo setzt im Jahr 1842 eine Radi­ka­li­sie­rungs­wel­le ein. In Köln erscheint die links-oppo­si­tio­nel­le Rhei­ni­sche Zei­tung von Karl Marx, in Sach­sen schlägt Robert Blum in sei­nen Säch­si­schen Vater­lands­blät­tern immer radi­kal­de­mo­kra­ti­sche­re Töne an. War Fick­ler in sei­ner schär­fer wer­den­den Kri­tik anfangs noch poli­tisch iso­liert, so fin­det er in der Fol­ge für sein kon­se­quen­tes Demo­kra­tie-Ver­ständ­nis immer grö­ße­re Unterstützung.

Dies kul­mi­nier­te schließ­lich in den über­wäl­ti­gen­den Offen­bur­ger Volks­ver­samm­lun­gen vom 10. Sep­tem­ber 1847 und vom 19. März 1848, auf denen sich zig­tau­sen­de Men­schen offen gegen die Mon­ar­chie stell­ten und die Instal­lie­rung einer mög­lichst gesamt­deut­schen Repu­blik for­der­ten. Nicht mehr auf Ver­ein­ba­run­gen hof­fen, son­dern die Kon­fron­ta­ti­on wagen! Ange­sichts der nun über­all vor­ge­brach­ten »For­de­run­gen des Vol­kes« wank­ten die Für­sten­häu­ser und gaben – schein­bar – nach (Vor­par­la­ment, März­re­gie­run­gen, Natio­nal­ver­samm­lung), wäh­rend sie hin­ter den Kulis­sen ihre Kräf­te sam­mel­ten. Denn die­ses Nach­ge­ben, das war zwei­fel­los abseh­bar, spal­te­te die demo­kra­ti­sche Bewe­gung. Repu­blik ja! Aber der Weg dahin war umstritten.

Für Joseph Fick­ler war die Sache klar: Obwohl Prag­ma­ti­ker und für tak­ti­sche Kon­zes­sio­nen stets auf­ge­schlos­sen, erkann­te er spä­te­stens im März 1848 das Momen­tum und plä­dier­te wäh­rend der Offen­bur­ger Ver­samm­lung für die sofor­ti­ge Aus­ru­fung der (badi­schen) Repu­blik; die ande­ren deut­schen Län­der wür­den die­sem Bei­spiel dann schon fol­gen. Damit mein­te er dezi­diert kei­nen gewalt­sa­men Auf­stand, son­dern gewis­ser­ma­ßen einen Volks­ent­scheid, der eine mili­tä­ri­sche Aus­ein­an­der­set­zung gleich­wohl in Kauf nahm. Das »Volk«, die Mehr­heit der Men­schen, stand zu die­sem Zeit­punkt hin­ter den Demo­kra­ten. Wann, wenn nicht jetzt? Aber die bei­den ande­ren popu­lä­ren Anfüh­rer der »Erhe­bung«, Fried­rich Hecker und Gustav Struve, zöger­ten. Sie, die übli­cher­wei­se viel mar­tia­li­scher als Fick­ler auf­tra­ten, woll­ten – zumin­dest vor­erst – nicht mit den Libe­ra­len bre­chen und setz­ten auf das gemein­schaft­lich gefor­der­te und nur kurz dar­auf zusam­men­tre­ten­de Vor­par­la­ment und die Frank­fur­ter Natio­nal­ver­samm­lung, um die Repu­blik in allen deut­schen Län­dern gleich­zei­tig auf par­la­men­ta­risch-legi­ti­mem Weg durchzusetzen.

Für Fick­ler, erfah­ren genug in allen par­la­men­ta­ri­schen Win­kel­zü­gen der Mehr­heits­bil­dung, war das wohl rei­nes Wunsch­den­ken. Den­noch beug­te er sich dem Wider­stand von Hecker und Struve. Das muss für ihn durch­aus bit­ter gewe­sen sein. Denn Fick­ler hat­te im Vor­feld der Offen­bur­ger Ver­samm­lung vom März 1848 auf einer mehr­mo­na­ti­gen kon­spi­ra­ti­ven Rei­se, die vor­geb­lich dem Zweck dien­te, sei­ne Emi­gra­ti­on in die USA zu orga­ni­sie­ren. auch die Opti­on einer mili­tä­ri­schen Kon­fron­ta­ti­on vor­be­rei­tet und sich die Unter­stüt­zung mili­tä­risch erfah­re­ner Hilfs­kräf­te in der Schweiz und in Köln gesi­chert – eine Unter­neh­mung, die dem staat­li­chen Über­wa­chungs­ap­pa­rat frei­lich nicht ver­bor­gen geblie­ben war.

Nur weni­ge Wochen nach der Offen­bur­ger Ver­samm­lung, die die badi­sche Regie­rung zwei­fel­los in Sor­ge ver­setzt hat­te, wird Joseph Fick­ler am 8. April in Karls­ru­he ver­haf­tet – auf Ver­an­las­sung aus­ge­rech­net von Karl Mathy, einem ein­sti­gen Weg­ge­fähr­ten und För­de­rer der See­blät­ter, der sich als Kam­mer­ab­ge­ord­ne­ter zu einem vehe­men­ten Für­spre­cher der kon­sti­tu­tio­nel­len Mon­ar­chie gewan­delt hat­te. Nach drei­zehn­mo­na­ti­ger Haft wird er im Mai 1849 frei­ge­spro­chen und begibt sich gleich wie­der in die poli­ti­sche Are­na. Auf einer erneu­ten Volks­ver­samm­lung in Offen­burg wird er am 13. Mai in den Lan­des­aus­schuss und am 1. Juni in die pro­vi­so­ri­sche Regie­rung der nun aus­ge­ru­fe­nen badi­schen Repu­blik gewählt. Aber die »Reak­ti­on« ist in vol­lem Gang. Nur zwei Tage spä­ter, am 3. Mai 1849, wird er in Stutt­gart erneut ver­haf­tet und auf der Festung Hohen­a­s­perg inhaftiert.

Mit der Ein­nah­me der Festung Rastatt durch Bun­des­trup­pen unter preu­ßi­scher Füh­rung wird die Revo­lu­ti­on am 23. Juli 1849 end­gül­tig mili­tä­risch nie­der­ge­schla­gen. Das Schick­sal der See­blät­ter ist schon vor­her besie­gelt, am 9. Juli 1849 erscheint die letz­te Aus­ga­be. Joseph Fick­ler wird gegen Kau­ti­on frei­ge­las­sen und flieht zunächst über die Schweiz nach Eng­land, bevor er im Win­ter 1851/​52 in die USA emigriert.

Wegen sei­ner kon­se­quen­ten Volks­nä­he, zu der sicher auch ein schwe­rer badi­scher Akzent gehör­te, war Joseph Fick­ler im Kreis der Oppo­si­tio­nel­len, den libe­ra­len Aka­de­mi­kern und gelehr­ten Publi­zi­sten, lan­ge ein poli­ti­scher Außen­sei­ter geblie­ben – von den mei­sten bis zuletzt unter­schätzt. Nicht so von sei­nen poli­ti­schen Geg­nern, den Für­sten, Mon­ar­chi­sten und Kon­sti­tu­tio­nel­len, die in ihm den mut­maß­lich ein­fluss­reich­sten Wider­sa­cher, die ihn »an der Spit­ze der wer­den­den Repu­blik« sahen.

Nach der Gene­ral­am­ne­stie für alle 48er kehr­te Joseph Fick­ler im Sep­tem­ber 1865, prak­tisch unbe­merkt, in sein »Habi­tat«, nach Kon­stanz zurück. Er litt mitt­ler­wei­le an Magen­krebs und starb nur gut zwei Mona­te spä­ter, am 26. Novem­ber 1865, im Alter von 57 Jahren.

Lese­emp­feh­lung: Joseph Fick­ler: Fort mit den Für­sten: Wir wol­len selbst regie­ren!, Kie­pen­heu­er & Witsch, Köln 2023 (Edi­ti­on Pauls­kir­che), 160 S., 14 €.