Seine Aussagen lösten in der niedersächsischen Provinz ein mittleres Erdbeben aus, dessen Auswirkungen das Justizministerium in Hannover erreichten: Entgegen den Gepflogenheiten seines Standes entpuppte sich ein Oldenburger Staatsanwalt als ein engagierter Verteidiger eines Straftäters. Der war wegen erwiesener Kindesmisshandlungen verurteilt worden, sollte nun aber im Berufungsverfahren nach den Vorstellungen eben dieses Staatsanwalts eine Einstellung seines Verfahrens bekommen, zumindest aber eine beträchtliche Strafmilderung auf Bewährung. Seine Begründungen dafür entnahm der Mann der Rechtspflege der Bibel und der kirchlichen Tradition bis hin zum Papst Franziskus sowie der daraus abgeleiteten abendländischen Rechtspraxis, wonach den Erwachsenen gegenüber den Kindern bis in die jüngste Vergangenheit hinein das »Züchtigungsrecht« (in der Regel durch Prügel und Einsperren ausgeübt) zustand. In Deutschland galt das bis ins Jahr 2000, als mit einer Änderung des § 1631, Abs. 2 BGB festgeschrieben wurde: »Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung.«
Schlüsselwort des bibelkundigen Staatsanwaltes war für seine Ausführungen ein Bibelwort, das jahrhundertelang als grundlegende Erziehungsanleitung galt: »Wer sein Kind liebt, der züchtigt es« (Sprüche 13 Vers 24), ähnlich Hebräer 12,6. So brutal der biblische Ratschlag schon ist – er wird von etlichen anderen biblischen Erziehungsratschlägen in ihrer Grausamkeit getoppt: Kinder sind in weiten Teilen der Bibel – übrigens entgegen den Aussagen Jesu, zum Beispiel Markus 10,13 ff. – Objekte oder sogar Opfer der göttlichen und väterlichen Gewalt und Willkür und dadurch ihrer menschlichen Würde beraubt. Nur ein paar Beispiele dazu: Kinder können als Schlacht- oder Brandopfer an Stelle eines Tieres dem Gott Jahwe dargebracht werden, so zum Beispiel 1. Mose 22,2, Richter 11,30 ff.; Kinder des Feindes sollen aus Rache »am Felsen zerschmettert« werden (Psalm 137,9); »ungehorsame Söhne sollen gesteinigt werden« (5. Mose 21, 18-21) und so weiter und so fort.
Solche »Göttlichen Gebote« wurden also mit der kirchlichen Tradition überliefert. Auch wenn sie nicht befolgt wurden – sie stehen nun mal in der »Heiligen Schrift«, die nach Auffassung vieler Gruppen in der Christenheit in allen Aussagen »irrtumslos wahr« und damit verbindlich ist. Auch Luther mochte in seiner Hochschätzung der Bibel davon nicht abweichen. Für das Verhältnis der Eltern zu ihren Kindern galt für ihn Römer 13,1: »Jedermann sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat.« Dem Wort entsprechend musste das »junge Volk« zum absoluten Gehorsam gegenüber den »Oberpersonen« abgerichtet werden. Das hatte Auswirkungen bis in die folgenden Jahrhunderte hinein, eine rechte Untertanenfabrik, vor allem auch für Kriegszwecke. Im Vorwort zu seinem »Kleinen Katechismus«, seinem grundlegenden Lehr- und Erziehungsbuch in »einfacher Form«, ermahnt Luther die Pfarrer, darauf zu achten, dass das »junge Volk« lernt, die Texte der »Fünf Hauptstücke« darin »Wort für Wort auswendig nachzusprechen«. »Aber denen, die es nicht lernen wollen, denen … sollen die Eltern Essen und Trinken versagen und ihnen klarmachen, dass der Fürst solche leichtfertigen Leute aus dem Lande jagen wird.« Im »Großen Katechismus« (zum 4. Gebot) droht der Reformator: »Willst du nicht Vater und Mutter gehorchen und dich lassen ziehen, … so gehorche dem Henker«, wo nicht … »dem Streckebein, das ist der Tod«. Das ist die »frohe Botschaft« für die Kinder, die in den Lutherischen Bekenntnisschriften steht, auf die noch heute die angehenden Pastoren verpflichtet werden.
Zurück zu unserem Oldenburger Staatsanwalt: Seine Vorgesetzten haben zu Recht festgestellt: »Religiöse Begründungen gehören nicht in ein Plädoyer.« Und das niedersächsische Justizministerium bekräftigte: »Kinder haben ein gesetzliches verbrieftes Recht auf eine gewaltfreie Erziehung.« Gut so, immer wieder daran zu erinnern, denn: Laut einer jüngsten Umfrage im Auftrag des Deutschen Kinderschutzbundes hält knapp jeder Zweite in Deutschland körperliche Gewalt gegen Kinder immer noch für angebracht. Die Vorgänge in Oldenburg müssten deshalb in einer gelebten Demokratie Anlass sein, die kinderfeindlichen Texte der Bibel sowie auch alle anderen menschenfeindlichen Gebote dort, zum Beispiel den Aufruf zur Ermordung Homosexueller (3. Mose 20,13) oder die Aufforderung zur Ausrottung aller Einwohner eines fremden Landes in einem von Gott angeordneten Eroberungskrieg (zum Beispiel Josua 6), zusammen mit den vielen antisemitischen Texten im Neuen Testament (Johannes 8 Vers 44: »Die Juden haben den Teufel zum Vater«) endlich einmal aufzulisten und öffentlich als gemeingefährlich zu ächten – Hunderte von Bibelstellen! Sonst nämlich werden, bei anschwellendem evangelikalem Fundamentalismus auch bei uns, immer wieder biblisch/religiös verbrämte Missbrauchsfälle die Gesellschaft und vor allem die Kinder darin heimsuchen und ihrer Würde berauben. Ein Jurist, der dafür eine Rechtfertigung bereithält, wird sich dann immer auch finden lassen.