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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Ein später Schuldspruch

Von Juni 1943 bis April 1945 arbei­te­te Irm­gard F. als Sekre­tä­rin im KZ Stutt­hof. 77 Jah­re spä­ter nun der Schuld­spruch: Das Land­ge­richt Itze­hoe ver­ur­teil­te sie wegen Bei­hil­fe zum Mord in tau­sen­den Fäl­len zu einer zwei­jäh­ri­gen Bewäh­rungs­stra­fe. Die­ser Schuld­spruch ist gut und rich­tig – und Beleg einer skan­da­lö­sen Verspätung.

Nach der Urteils­ver­kün­dung gibt sich die Ange­klag­te regungs­los. Die 97 Jah­re alte Frau ist zu einer Jugend­stra­fe von zwei Jah­ren Haft auf Bewäh­rung ver­ur­teilt wor­den – wegen Bei­hil­fe zum Mord in 10.505 Fäl­len sowie Bei­hil­fe zum ver­such­ten Mord in fünf Fäl­len. Nun sitzt sie, mit Man­tel, Müt­ze und Mas­ke, die Augen hin­ter einer dunk­len Bril­le, neben ihrem Ver­tei­di­ger und folgt schwei­gend den Aus­füh­run­gen des Richters.

Ein Mam­mut-Pro­zess in der nord­deut­schen Pro­vinz fin­det sein Ende. In gut 14 Mona­ten waren die Pro­zess­ak­ten auf unge­fähr 3.600 Sei­ten ange­schwol­len. Dazu kam ein USB-Stick mit etwa 2.000 Ver­neh­mungs­pro­to­kol­len. 14 Zeu­gin­nen und Zeu­gen wur­den gehört, acht davon Über­le­ben­de des KZ Stutt­hof. Sie alle berich­te­ten über ihre Lei­dens­zeit im Lager. Ein Ort des Grauens.

Für die Kam­mer ist aus­ge­schlos­sen, dass die Ange­klag­te, die zum Zeit­punkt der Tat zwi­schen 18 und 19 Jah­re alt war, nichts von den syste­ma­ti­schen Mor­den gewusst haben soll. Da die Tötun­gen in Kon­zen­tra­ti­ons­la­gern syste­ma­tisch waren, hät­ten sie viel Schrift­ver­kehr und Büro­kra­tie erfor­dert – Auf­ga­ben, für die die Ange­klag­te als ein­zi­ge Schreib­kraft des Lager­chefs ver­ant­wort­lich war. So hat sie laut Gericht zum Bei­spiel die Todes­mär­sche aus dem Lager Anfang 1945 schrift­lich mit­or­ga­ni­siert. Irm­gard F. konn­te nicht ent­ge­hen, was im Lager geschah. Gas­kam­mer und Kre­ma­to­ri­um hat­te die Ange­klag­te laut Kam­mer von ihrem Arbeits­platz zwar nicht direkt im Blick – aber die Wege dort­hin und auch den Sam­mel­platz, auf dem die Gefan­ge­nen anka­men. Min­de­stens 1000 der Ermor­de­ten sei­en mit dem Gift­gas Zyklon B getö­tet wor­den. 9500 wei­te­re sei­en infol­ge der bewusst her­bei­ge­führ­ten lebens­feind­li­chen Bedin­gun­gen gestorben.

Ein Urteil, allen­falls mit Sym­bol­kraft: zwei Jah­re Jugend­stra­fe auf Bewäh­rung. Die Grei­sin, die in einem Pfle­ge­heim lebt, wird wenig Mög­lich­kei­ten haben, gegen die Auf­la­gen zu ver­sto­ßen. Ihr Anwalt ver­kün­det im Anschluss an die Urteils­be­grün­dung, dass er nicht ein­ver­stan­den sei mit dem Schuld­spruch: »Wir haben gemeint, dass man der Ange­klag­ten den ver­blei­ben­den Zwei­fel zugu­te­hal­ten muss, und hal­ten eine sol­che Ver­ur­tei­lung nicht für rich­tig.« Er denkt dar­an, Revi­si­on ein­zu­le­gen. Es ist das gute Recht eines Ver­tei­di­gers. Wir leben in einem Rechtsstaat.

Tat­sa­che ist: Das Urteil gegen die 97-jäh­ri­ge ist Beleg einer skan­da­lö­sen Ver­spä­tung. Jahr­zehn­te­lang waren Ver­fah­ren nicht eröff­net oder bei­na­he rou­ti­ne­mä­ßig ein­ge­stellt wor­den. Es soll­te nur bestraft wer­den, wer einer Betei­li­gung an ganz kon­kre­ten Mor­den über­führt wur­de. Es fehl­te durch­weg an gesetz­ge­be­ri­schen Signa­len. Es fehl­te das »Wol­len«, NS-Täter, als die­se noch kei­ne Grei­se waren, vor Gericht zu brin­gen. Per­sön­li­che Schuld ver­schwand so im Dickicht von Beweis­ak­ten, Gut­ach­ten und Verteidiger-Strategien.

Die Nicht-Ver­fol­gung von NS-Ver­bre­chen ist beschä­mend, eine jahr­zehn­te­lan­ge Ver­wei­ge­rung von Straf­ver­fol­gung, eine kon­se­quen­te Straf­ver­ei­te­lung im Amt. Dafür gehör­te die Justiz auf die Ankla­ge­bank. Eini­ge Zah­len: In den drei West­zo­nen und der Bun­des­re­pu­blik wur­de von 1945 bis 2005 ins­ge­samt gegen 172 294 Per­so­nen wegen straf­ba­rer Hand­lun­gen wäh­rend der NS-Zeit ermit­telt. Das ist ange­sichts der mon­strö­sen Ver­bre­chen und der Zahl der dar­an Betei­lig­ten nur ein win­zi­ger Teil. Das hat­te sei­ne Grün­de: Im Justiz­ap­pa­rat saßen anfangs die­sel­ben Leu­te wie einst in der NS-Zeit. Vie­le mach­ten sich nur mit Wider­wil­len an die Arbeit. Auch poli­tisch wur­de auf eine Been­di­gung der Ver­fah­ren gedrängt, dafür sorg­ten schon zahl­lo­se Amnestiegesetze.

Zu Ankla­gen kam es letzt­lich gera­de ein­mal in 16 740 Fäl­len – und nur 14 693 Ange­klag­te muss­ten sich tat­säch­lich vor Gericht ver­ant­wor­ten. Ver­ur­teilt wur­den schließ­lich gera­de ein­mal 6656 Per­so­nen, für 5184 Ange­klag­te ende­te das Ver­fah­ren mit Frei­spruch, oft aus Man­gel an Bewei­sen. Die mei­sten Ver­ur­tei­lun­gen – rund 60 Pro­zent – ende­ten mit gerin­gen Haft­stra­fen von bis zu einem Jahr. Gan­ze neun Pro­zent aller Haft­stra­fen waren höher als fünf Jah­re. Vor dem Hin­ter­grund eines der größ­ten Ver­bre­chen in der Mensch­heits­ge­schich­te eine skan­da­lö­se, empö­ren­de Bilanz.

Von der Justiz hat­ten die NS-Täter nichts zu befürch­ten. Die mei­sten Deut­schen woll­ten von Kriegs­ver­bre­chern, von Ver­bre­chen gegen die Mensch­lich­keit, von den NS-Ver­strickun­gen, von schuld­haf­ten Täter-Bio­gra­fien, kurz: vom mora­li­schen und zivi­li­sa­to­ri­schen Desa­ster Hit­ler-Deutsch­lands nichts mehr wis­sen. Aus der Poli­tik gab es kei­ne zwin­gen­den Geset­zes­vor­ga­ben. Unter die­sem Ein­druck zeig­te vor allem die Justiz nur wenig Nei­gung, ehe­ma­li­ge NS-Täter zur Ver­ant­wor­tung zu ziehen.

Der Justiz reich­te es jahr­zehn­te­lang nicht für eine Ankla­ge, dass jemand eine Funk­ti­on in einem Ver­nich­tungs­la­ger inne­hat­te. Viel­mehr muss­te der jewei­li­ge Bei­trag zu mör­de­ri­schen Taten nach­ge­wie­sen wer­den. So konn­ten Täter und Täte­rin­nen unbe­hel­ligt ihr Leben füh­ren. Erst nach dem Urteil gegen John Dem­jan­juk, ein Wach­mann, der als »ukrai­ni­scher Hilfs­wil­li­ge­rer« im Ver­nich­tungs­la­ger Sobi­bór tätig war und 2011 in Mün­chen ver­ur­teilt wur­de, ist die Justiz nach jahr­zehn­tee­lan­ger Untä­tig­keit wie­der aktiv gewor­den. Wer als klei­nes Räd­chen beim gro­ßen Mas­sen­mor­den der Nazis dabei war, der kann seit­her auch ohne kon­kre­ten Tat­ver­dacht wegen Bei­hil­fe zum Mord ange­klagt wer­den. Mord ver­jährt nicht.

Lang­sam, zu lang­sam hat sich die deut­sche Justiz von ihrer »zwei­ten Schuld« befreit: der man­geln­den Straf­ver­fol­gung von NS-Tätern und Täte­rin­nen in der Bun­des­re­pu­blik nach den Schand­ur­tei­len des Natio­nal­so­zia­lis­mus. Auch nach dem Urteil im Pro­zess von Itze­hoe bleibt die Fra­ge: Kann die Justiz nach Jahr­zehn­ten die­se Ver­bre­chen noch süh­nen? Kann ein Gericht jeman­den ange­mes­sen bestra­fen für die Betei­li­gung an einem kol­lek­ti­ven System der Bar­ba­rei – dafür, am »rei­bungs­lo­sen Ablauf der Tötungs­ak­tio­nen« rei­bungs­los teil­ge­nom­men zu haben? Vor allem aber: Kann den Opfern und ihren Hin­ter­blie­be­nen über­haupt Gerech­tig­keit, spä­te Wie­der­gut­ma­chung wider­fah­ren? Sicher, man kann dar­über strei­ten, ob das Straf­maß von zwei Jah­ren auf Bewäh­rung für Irm­gard F. gerecht und ob der Auf­wand des Ver­fah­rens gerecht­fer­tigt ist. Doch unstrit­tig soll­te sein: Der Respekt vor den Hin­ter­blie­be­nen ver­pflich­tet uns, die Schuld und die Schul­di­gen zu benen­nen und vor Gericht zu brin­gen, solan­ge es noch mög­lich ist. Die Ver­bre­chen von damals sind zu gewal­tig, um heu­te zu sagen: Jetzt soll end­lich ein­mal Schluss sein.

»Es tut mir leid, was alles gesche­hen ist. Ich bereue, dass ich zu der Zeit gera­de in Stutt­hof war. Mehr kann ich nicht sagen.« Die­se dür­ren Sät­ze sag­te Irm­gard F. im Pro­zess. Eine Aner­kennt­nis der Schuld war dar­in nicht zu erkennen.

Lese-Hin­weis: Hel­mut Ort­ner, Volk im Wahn, Edi­ti­on Faust, 296 Sei­ten, 22 €.