Here I lie in my hospital bed / Tell me, Sister Morphine, when are you coming round again? / Oh, I don’t think I can wait that long / Oh, you see that I’m not that strong. (The Rolling Stones, 1971)
Bücher haben wie ihre Autoren ihre eigene Geschichte, tiefsinniger oder metaphysisch gesagt: ihr Schicksal. Und wenn dieses Schicksal irgendwann gnadenlos den Hobel ansetzt, um alles gleichzuhobeln, wie es in dem einst bekannten Hobellied des österreichischen Dramatikers Ferdinand Raimund aus dem Jahr 1834 heißt, dann bedarf es schon schier übermenschlicher Anstrengungen, wenn das Werk gelingen soll.
Der Journalist Oliver Teutsch, Redakteur der Frankfurter Rundschau, hat Anfang des Jahres unter dem Titel Die Akte Klabautermann die Geschichte solch eines Werkes und seines Autors vorgelegt, des Romans Jeder stirbt für sich allein von Rudolf Ditzen, der sich als Schriftsteller Hans Fallada nannte. Teutsch beschreibt, wie der Roman entstanden ist und wie er von seinem Verfasser in einem selbstzerstörerischen, eruptiven Schöpfungsakt innerhalb von 24 Tagen hervorgebracht wurde. Fallada selbst hat die Veröffentlichung nicht mehr erlebt. Heute ist das Werk ein Weltbestseller.
In seinen früheren Büchern hatte Hans Fallada den »aussichtslosen Existenzkampf des Kleinbürgers unter kapitalistischen Verhältnissen« beschrieben, wie es in einem Lexikon aus der DDR zu lesen steht. Er war mit dem Inflationsroman Wolf unter Wölfen und dem Gefängnisroman Wer einmal aus dem Blechnapf frisst zu einem Chronisten der Jahre zwischen den beiden Weltkriegen geworden. Sein 1932 erschienener Arbeitslosenroman mit dem inzwischen sprichwörtlichen Titel Kleiner Mann was nun? hatte Fallada weltberühmt gemacht. Der Rowohlt Verlag veröffentlichte den 20 Jahre alten Roman schon 1950 erneut, als Nr. 1 seiner neuen Taschenbuch-Reihe rororo: eine Verbeugung gegenüber dem großen Autor, der dem Verlagshaus durch Höhen und Tiefen freundschaftlich verbunden blieb, und eine Reverenz an das »Buch vom armen, geduldigen kleinen Mann« (Hermann Hesse), in dem sich sicherlich so mancher Nachkriegsdeutsche wiederfand.
Fallada, geboren am 21. Juli 1893 in Greifswald, war Zeit seines Lebens nicht auf Rosen gebettet. Das Rad des Schicksals meinte es nicht gut mit ihm. In seinem beruflichen Leben hatte er als landwirtschaftlicher Beamter und Buchhalter, Kartoffelzüchter, Nachtwächter, Adressenschreiber, Handlungsgehilfe und Anzeigenwerber gearbeitet, bevor er 1931 mit Bauern, Bonzen und Bomben den ersten erfolgreichen Roman vorlegte, angeregt durch seine Teilnahme als Berichterstatter am Landvolkprozess 1929 in Neumünster.
In Teutschs Roman begegnen wir Hans Fallada im Jahr 1945 in Berlin, wohin ihn die Kriegswirren geführt hatten und dessen Panorama der Trümmerlandschaften und Schwarzmärkte, dessen Alltagsleben Teutsch entfaltet. Zuletzt hatte Fallada auf einem ländlichen Besitztum in Mecklenburg gelebt. Nun wohnte er wieder in seiner alten Wohnung in der Meraner Straße, allerdings nicht allein, mit Mitmietern und seiner zweiten Frau. Hier treffen wir auf das Ehepaar Ditzen.
»Die Blondine seufzte tief und ließ die Blätter auf ihre Brust sinken. So kann man doch keinen Text lernen. Was für ein Gepolter und Geschrei schon wieder da draußen. Sie wollte keinen Ärger mit den beiden, aber so langsam würde sie mal was sagen müssen. Wieso streiten die immer? Die Blondine überlegte. Hatten ihre Eltern sich auch so viel gestritten? Sie versuchte sich zu erinnern, doch ein markerschütternder Schrei ließ sie zusammenfahren. Also wirklich. Sie rappelte sich von ihrer Matratze auf, ging zur Tür, öffnete sie einen Spalt weit, lugte vorsichtig nach draußen. Genau in diesem Augenblick rannte die Frau wimmernd und mit weit aufgerissenen Augen den Flur runter, der Mann mit großem Messer und wuterfüllter Fratze hinterher.« Ulla und Rudolf Ditzen. Sie sind süchtig, er seit seiner Jugend. Süchtig nach Kokain, Alkohol, Nikotin, Schlaftabletten, vor allem aber nach Morphium.
Schon als 18-Jähriger war Fallada erstmals in ein Sanatorium eingewiesen worden, wegen Suizidgefahr. Im selben Jahr 1911 erschoss er bei einem Duell einen Kontrahenten. Anschließend erneut ein Selbstmordversuch. Wegen Mordes angeklagt, wurde ihm § 51 des damals geltenden Strafgesetzbuches zugebilligt – keine strafbare Handlung bei krankhafter Störung der Geistestätigkeit –, und er wurde für ein Jahr in einer geschlossenen Anstalt untergebracht. Schon vier Jahre später kam es zum ersten Aufenthalt in einer Heilanstalt für Suchtgefährdete. Weitere Einweisungen und Heilversuche folgten, 1924 dann drei Monate Gefängnis. Er hatte Bilanzen gefälscht und war wegen Unterschlagung verurteilt worden: Er brauchte halt Geld für Alkohol und Morphium. Bald danach die zweite Unterschlagung und zweieinhalb Jahre Gefängnis. Erst mit seiner ersten Ehe sowie der Anstellung in der Rezensionsabteilung des Rowohlt Verlages in Berlin und dem ersten größeren Bucherfolg kam etwas Ruhe in sein Leben. In den 1940er Jahren häuften sich erneut die Einweisungen in Berliner Kliniken oder in eine Heilanstalt. 1945 heiratete der 52-Jährige die ebenfalls morphiumsüchtige, dreißig Jahre jüngere Ursula Losch, genannt Ulla, jene Frau, die in der Meraner Straße panisch den Flur entlangstürzte.
Allen persönlichen Fährnissen und politischen Ereignissen zum Trotz ist Falladas literarischer Ruhm aus der Vorkriegszeit 1945 noch nicht verweht. Einer, der viel von ihm hält, der alle seine Bücher gelesen hat, wie man in dem Teutsch-Roman erfährt, und der sich viel von Fallada erhofft, ist der Dichter Johannes R. Becher. Der erste Präsident des gerade gegründeten Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands und spätere Minister für Kultur in der DDR ist erst kurz zuvor nach zwölfjährigem Exil aus Moskau an die Spree zurückgekehrt. Er wird in der kommenden Zeit zum Schutzengel Falladas, auch hinsichtlich seiner Einkünfte und der Wohnungsmöglichkeit.
Was sich Becher von dem bewunderten Dichterkollegen erhoffte, war etwas Besonderes: Fallada soll nichts weniger als »den ersten großen antifaschistischen Roman nach dem Krieg schreiben«. Dies auch, weil er während der NS-Zeit in Deutschland geblieben war und daher als authentische Stimme wahrgenommen werden könnte. Es sollte eine Abrechnung mit der NS-Zeit werden und zugleich ein Identifikationsroman für den »kleinen Mann«, der sich nach 1945 in seiner desolaten Lage wieder dieselbe Frage stellte wie in den dreißiger Jahren: Was nun?
Otto Winzer, damals Stadtrat für Volksbildung im Ostsektor Berlins und später Außenminister der DDR, ebenfalls aus dem Exil in Moskau zurückgekehrt, hatte Becher die Gestapo-Akte Klabautermann zukommen lassen. Es waren die Prozessakten von Otto und Elise Hampel, einem älteren Berliner Arbeiterehepaar, das kleine, selbst geschriebene Karten und Briefe in den Hausfluren ausgelegt hatte, mit denen es zum Widerstand gegen das NS-Regime aufrief. Sie wurden beide gefasst und 1943 hingerichtet.
Teutsch beschreibt, wie Fallada anfänglich keinen Roman zu dem Thema verfassen wollte, »weil er nicht besser erscheinen wolle, als er gewesen ist, er sei kein Widerstandskämpfer gewesen«. Wie dann aber nach zahlreichen Zusammenbrüchen, Exzessen, einem Suizidversuch – Becher rettete ihn im letzten Augenblick – und nach Entziehungskuren des Ehepaars, an deren Ende Fallada ein körperliches Wrack war, was schließlich selbst den ihn ununterbrochen unterstützenden Becher beinahe verzweifelt-hilflos aufgeben ließ, wie nach alledem doch noch die Wende erfolgte; wie Fallada seine Sinnkrise überwand und in einem letzten Aufbäumen in einen regelrechten Schreibrausch verfiel, »als gebe es kein Morgen«; wie er, während Frau Ulla erneut auf Entzug war, bei frostigen Temperaturen berserkerhaft mit letzter Kraft schrieb und schrieb und 550 Druckseiten in 24 Tagen zu Papier brachte: Das alles schildert Teutsch in einem klaren, gut lesbaren Prosa-Stil.
Aber als das Buch vollendet war, ein Werk voller innerer Wahrhaftigkeit, »der erste richtige Fallada, seit Wolf unter Wölfen«, wie sein Verfasser sich sicher war, machte die durch Drogen ruinierte, durch den Schreibmarathon und eine fiebrige Erkältung zusätzlich geschwächte Gesundheit nicht mehr mit. Der Schriftsteller wurde in ein Krankenhaus eingeliefert, wo er nach einigen Wochen einem Herzversagen erlag. Ein Freund, der ihn am Tag vor seinem Tod besucht hatte, berichtete später, Fallada habe steinalt ausgesehen, ungepflegt, vernachlässigt, und wenn er schlief, wie schon längst gestorben.
In dem ebenfalls 1946 fertiggestellten und 1947 in dem neu gegründeten Aufbau Verlag erschienenen stark autobiographischen Roman Der Alpdruck, dessen Handlung in einem ähnlichen Zeitabschnitt wie das Teutsch-Buch verläuft, erinnert sich die Hauptfigur Doll-Fallada an das Gedicht Der kleine Tod der Schriftstellerin Irene Forbes-Mosse (1864 – 1946): »Es war gewiss ein ganz anderer Tod, von dem die Dichterin aussagte, aber Doll nannte dies rasche Ausgelöschtwerden durch Medikamente seinen kleinen Tod. Er liebte ihn. In der letzten Zeit hatte er so viel an seinen Bruder, den Großen Tod gedacht, er hatte mit ihm gelebt, gewissermaßen Haut an Haut; er hatte sich daran gewöhnt, ihn als einzige, ihm noch verbliebene Hoffnung anzusehen, die ihn gewiss nicht enttäuschen würde« (7. Kapitel, S. 97 in meinem rororo-Taschenbuch von 1979). Und so geschah es. Der Todestanz mit Sister Morphine war am 5. Februar 1947 zu Ende.
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Aber damit ist der Bericht über das Schicksal dieses Romans noch nicht zu Ende. Das Buch erschien zwar in Falladas Todesjahr im Aufbau Verlag. Was da aber 1947 und seitdem immer wieder im In- und Ausland Auflage für Auflage veröffentlicht wurde, was später auch verfilmt wurde, war eine Überarbeitung des Aufbau-Lektors Paul Wiegler. Erstmals auf Deutsch ist der Roman »in seiner originalen Gestalt, mit allen ›Verstößen‹ gegen Korrektheit, Faktentreue und Geschmacksfragen« 2011 im Aufbau Verlag, Berlin, erschienen. Den Anstoß zur Neuentdeckung gab ein französischer Verleger, der eine Buch-Ausgabe aus dem Jahr 1953 im Nachlass seines Großvaters fand, sie begeistert las und sich auf die Suche nach dem Originalmanuskript machte. 2002 erschien die französische Übersetzung. Bald stand der Roman auf den Bestsellerlisten in 20 Ländern. Die ungekürzte Neuausgabe zeige den Roman »rauer und derber, aber auch intensiver, und vermutlich war es gerade das, was Fallada anstrebte«, urteilt die Autorin und Herausgeberin Almut Giesecke im Nachwort.
Auch Oliver Teutsch war als Leser von dem Buch so fasziniert, dass er sich auf eine Entdeckungsreise zu seinem Ursprung machte. Die Akte Klabautermann ist das informative Ergebnis dieser ausführlichen Recherche. In der Filmbranche würde man es ein Biopic nennen. Was mich allerdings an dem Buch stört, das ist die alte Rechtschreibung: daß, mußten, unschlüßig usf. bremsen inzwischen meinen Lesefluss. Und ich vermisse einen Anhang mit einem Namensregister, in dem historisch greifbare Personen und Ereignisse für die heutige Leserschaft eingeordnet sind, sowie Literatur- und Quellenhinweise. Das Versprechen von Seite 314 des Teutsch-Buches, ein Glossar lasse sich auf der Seite www.dielmann-verlag.de/fallada finden, war Ende August noch nicht erfüllt.
Kurzer Nachtrag: Gegen Ende des Romans lüftet Teutsch die Identität der Blondine aus der Meraner Straße. Als Fallada nämlich im September 1946 den Vertrag zur Abfassung des Romans unterschrieb, fiel sein Blick auf das an der Wand hängende Plakat zu dem neuen DEFA-Film Die Mörder sind unter uns, der im Oktober Premiere haben sollte. Regie: Wolfgang Staudte; Hauptdarstellerin: Hildegard Knef. Verblüfft entfährt es Fallada: »Die kenne ich. Die hat ja bei uns gewohnt.«
Oliver Teutsch: Die Akte Klabautermann, Axel Dielmann-Verlag, Frankfurt am Main 2022, 315 Seiten, 24 €. – Immer noch empfehlenswert: Hans Fallada in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten von Jürgen Manthey, erstmals im Januar 1962 in der Reihe rowohlts monographien erschienen. Der Roman »Der Alpdruck« liegt in einer Neuausgabe im Aufbau Verlag vor.