So fertigte der Rezensent des Hamburger Abendblatts nach der Premiere die Leistung des Schauspielers Samuel Weiss ab und setzte hinzu: »Leider wenig mehr.«
Das scheint mir nicht gerechtfertigt. Wie sollte die letzte Veröffentlichung, die Friedrich Nietzsche herausbrachte, bevor sein Wahnsinn manifest wurde, anders als überdreht und komödiantisch dargestellt werden? Im vollen Ernst wäre eine Adaption nicht erträglich.
Die Aufführung am 16.12. fand im Rang-Foyer des Schauspielhauses statt, das für gut zwei Dutzend Personen Platz bot. Das Bühnenbild stellt eine Art riesiger Wohnküche (mit angrenzendem pyramidenartigem Bauwerk) dar, mit Geräten – Kaffeemaschine, Toaster, Mikrowelle –, die alle vom Darsteller Nietzsches in Funktion gesetzt werden, so dass eine Slapstick-Komik entsteht, die auch davor nicht zurückschreckt, dass er sich nach den ersten Schlucken Kaffees auf einem Eimer erleichtert.
Sein Erscheinungsbild ändert sich im Lauf der Aufführung oft; textile Wände dienen als Hilfsmittel der Verkleidung: Zunächst in Jeans und Unterhemd, taucht er dann in einer Art Geisha-Kostüm, dann nackt, später auch in einem durchsichtigen Plastikanzug mit Plateauschuhen und High-Heels auf, dabei auch kopfüber an einem Flaschenzug hängend.
Die burleske Szenerie und das komödiantische Talent des Schauspielers lassen den Verdacht aufkommen, das Ganze sei ein einziger Klamauk. Mein Sitznachbar wollte sich ständig scheckiglachen.
Dagegen ist allerdings darauf hinzuweisen, dass Samuel Weiss durchaus andere Facetten des Verfassers von »Ecce homo« zum Ausdruck brachte: Er war auch der »Übermensch«, der »Weise«, der »tragische Philosoph«, der »Unverstandene«, der »Umwerter«, der Verehrer des Gottes Dionysos, als den Nietzsche sich selbst gern stilisierte.
Ebenso wie diese Facetten, traten Nietzsches Themen hervor, wenngleich weniger offenkundig; sie ließen sich aber durchaus erkennen: der »amor fati« (»ruusische Säälä«), die Weigerung, auf die Schläge des Schicksals zu reagieren, die Abneigung gegen seine Landsleute als Verderber der Kultur, gegen den zuvor von ihm vergötterten Wagner, aber auch die Bedeutung der Ernährung für die Stärkung des »Übermenschen«, den er pries, seine künstliche Genealogie (als Sohn Caesars und Alexanders des Großen) und die Bedeutungslosigkeit der biologischen Eltern für die Entwicklung der Persönlichkeit.
Ist es berechtigt, Nietzsche als »Hanswurst« darzustellen? Ja, aus verschiedenen Gründen: Zum einen, weil dies eine Rolle war, die er nach eigener Aussage der des »Heiligen« vorzog, vor allem aber, weil die Nietzsche-Verehrung in der Geschichte problematische Folgen nach sich zog, für die nicht zuletzt Nietzsches Schwester Verantwortung trug: Irrationalismus, Verehrung des »Übermenschen«, Kronzeuge des Faschismus.
Wenn ich das Schlussbild richtig verstanden habe, zeigt der Regisseur schließlich auch seine Zuneigung: Samuel Weiss umarmt eine Pappsäule, die zu Beginn eine Dynamitstange mit Zündschnur darstellt. Sie erinnerte mich in dieser Funktion an ein Bild vom Ausbruch Nietzsches Wahnsinns in Turin. In Gottfried Benns Gedicht »Turin« heißt es: »Indes Europas Edelfäule/ an Pau, Bayreuth und Epsom sog, / umarmte er zwei Droschkengäule, / bis ihn sein Wirt nach Hause zog. «
Nächste Aufführung: 11.1.2022, 19 Uhr.