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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Ein Psychologe erschießt sich

Im Gegen­satz zu sei­nen mar­xi­stisch gestimm­ten Eltern war der Ber­li­ner libe­ra­le Psy­cho­lo­ge Karl Dun­cker, gebo­ren Anfang Febru­ar 1903, eher unpo­li­tisch. Ab 1936/​38 Emi­grant in Eng­land und den USA, wohn­te er zuletzt wie­der mit sei­ner eben­falls geflüch­te­ten Mut­ter Käte zusam­men. Er starb 1940, erst 37 Jah­re alt, dies­mal Ende Febru­ar. Heu­te wird er zu den Kapa­zi­tä­ten der »Gestalt­psy­cho­lo­gie« der Ber­li­ner Schu­le gezählt. Dun­cker galt als aus­ge­spro­chen begabt und frucht­bar, brach­te es frei­lich, wohl wegen eini­ger Feind­schaf­ten gegen ihn und sei­ne Arbeits­stel­le, nie zu einem Lehr­stuhl. Bis zu sei­ner Amts­ent­he­bung im Som­mer 1935 war er am Psy­cho­lo­gi­schen Insti­tut der Ber­li­ner Uni­ver­si­tät »nur« Assi­stent gewe­sen. Sei­ne Habi­li­ta­ti­on wur­de blockiert, obwohl er aus­drück­lich ver­si­chert hat­te, »nie Kom­mu­nist oder Sozi­al­de­mo­krat« gewe­sen zu sein. Zuletzt, ab 1938, hat­te er sich, am US-Swarthmo­re Col­lege (bei Phil­adel­phia, Penn­syl­va­nia), mit dem Posten »Ins­truc­tor« zu beschei­den. Folgt man Sören Wen­del­borns gründ­li­cher, wenn auch fremd­wort­la­sti­ger Stu­die von 2003 (Peter Lang Ver­lag), hat­ten die Belan­ge der beruf­li­chen Lauf­bahn kei­nen uner­heb­li­chen Anteil an Dun­ckers Schritt, sich 1940 in einem Wald­stück bei Bal­ti­more zu erschie­ßen. Ich neh­me an, die nahe Groß­stadt im benach­bar­ten Staat Mary­land ist gemeint, wo sich Dun­cker nach Ver­mu­tung sei­ner Mut­ter zuvor die Schuss­waf­fe besorgt hat­te. Man fand den Emi­gran­ten nebst »wirr« beschrif­te­tem Zet­tel in sei­nem unter Bäu­men gepark­ten Wagen. Für die Nach­schla­ge­wer­ke erfolg­te sein Schritt aus einer alles und nichts sagen­den »Depres­si­on« heraus.

Dun­ckers Eltern Käte und Her­mann, bei­de Leh­rer, waren stram­me Kom­mu­ni­sten, ver­such­ten jedoch, die poli­tisch »neu­tra­le«, viel­leicht sogar »ein­fäl­ti­ge« War­te ihres älte­sten Soh­nes in Kauf zu neh­men. Bei der Mut­ter hat­te er sogar einen dicken Stein im Brett. Man konn­te zuwei­len glau­ben, Karl sei ihr Lieb­ha­ber. Mit Her­mann war sie eher unglück­lich. Was ihren Lieb­ling angeht, tat sich der mit ande­ren Frau­en offen­sicht­lich ziem­lich schwer. Sei­ne 1929 mit Ger­da Naef geschlos­se­ne Ehe hielt kei­ne drei Jah­re lang. Die wis­sen­schaft­li­che Arbeit war ihm viel wich­ti­ger. Man gewinnt den Ein­druck, Dun­ckers geschlecht­li­chen Begier­den sei­en ent­we­der von Natur aus mager oder aber von ihm sel­ber in eine Fla­sche ein­ge­korkt gewe­sen, die er manch­mal in siche­rer Ent­fer­nung auf dem Was­ser schwim­men ließ. Jeden­falls scheu­te er, obwohl als durch­aus »char­mant, lie­bens­wür­dig und gut­aus­se­hend« beschrie­ben, Nähe. Wen­del­borns Mate­ri­al legt den Ver­dacht nahe, dafür sei Dun­cker ein­fach zu stolz, hoch­mü­tig, ja, selbst­ver­liebt gewe­sen. Es ist kein Wider­spruch dazu, wenn er es auch wie­der schätz­te, zu lei­den und Opfer zu sein. Bei sei­nem Ehr­geiz war er dar­auf aus, der »Welt sei­nen Stem­pel auf­zu­drücken«, wie Wen­del­born for­mu­liert, doch sei­ne Äng­ste und Arbeits­schwie­rig­kei­ten lie­ßen ihn dar­in immer wie­der stol­pern. Er sei im Grun­de ein Zer­ris­se­ner, ein »Unent­schie­de­ner« gewe­sen, sagt Wen­del­born. Somit ent­behr­te er einer inne­ren Festig­keit, auf der man eini­ger­ma­ßen sicher ste­hen konn­te. Das wäre ihm wohl zu beschränkt gewe­sen. Schließ­lich wünsch­te er, über den Din­gen zu ste­hen. Wahr­schein­lich war es Karl­chen nie ver­gönnt, den Grö­ßen­wahn­sinn des Kin­des abzu­le­gen. Ent­spre­chend behaup­tet Wen­del­born, er habe sich nie aus­rei­chend von sei­nen Eltern, zumal sei­ner Mut­ter, gelöst. Aber wem gelingt das schon.

Einem Brief der Mut­ter an ihren Gat­ten aus dem Todes­mo­nat ver­dan­ken wir recht bün­di­ge Behaup­tun­gen über das Selbst­mord­mo­tiv. »Die Angst vor einem völ­li­gen Ver­sa­gen sei­ner Arbeits­kraft u. die Ver­zweif­lung dar­über; das Zusam­men­tref­fen unglück­li­cher Zufäl­lig­kei­ten u. Umstän­de; der Wunsch Köh­lers, ihm durch Stel­lung leich­ter Auf­ga­ben zu hel­fen, was ihn nur noch mehr ent­mu­tig­te (denn er mein­te, auch ihnen nicht mehr gewach­sen zu sein) u. ihn demü­tig­te; die Angst, dem Col­lege zur Last zu fal­len; wohl auch die Ver­ant­wor­tung für uns bei­de – all das hat mit­ge­wirkt, das Leben war ein­fach zu schwer für ihn.«

Ein Ein­ge­hen auf die von Wolf­gang Köh­ler und Max Wert­hei­mer gepräg­te »Gestalt­psy­cho­lo­gie« bit­te ich mir zu erlas­sen. Zum einen dürf­te sie in sol­chen Pro­blem­fäl­len eine echt neben­säch­li­che, zufäl­li­ge Rol­le spie­len. Als Anfer­ti­ger bestimm­ter Gesund­heits­san­da­len oder Erfin­der eines neu­en drei­fach geschraub­ten Sprun­ges beim Eis­lau­fen hät­te Dun­cker die glei­chen Pro­ble­me gehabt. Zum ande­ren gibt es unge­fähr so vie­le psy­cho­lo­gi­sche, wahl­wei­se phi­lo­so­phi­sche Schu­len, wie es spalt­ba­re Haa­re auf einer gut durch­blu­te­ten Kopf­haut gibt. Sie alle tei­len mit den Gesund­heits­san­da­len und dem Eis­lauf­sprung das Frucht­lo­se und somit Über­flüs­si­ge. Aber für die Kar­rie­re sind sie oft nütz­lich, und des­halb folgt Abzweig auf Abzweig auf Abzweig, bis man von der Wirk­lich­keit und der Wahr­heit kein Fit­zel­chen mehr sieht.

Neben Schwe­ster Hed­wig, die Ärz­tin war und stein­alt wur­de, hat­te der Gestalt­psy­cho­lo­ge noch einen jün­ge­ren Bru­der – der auch jün­ger umkam. Wolf­gang Dun­cker (1909-42) trat in die Fuß­stap­fen sei­ner Eltern, wur­de kom­mu­ni­sti­scher Jour­na­list, wohl spe­zi­ell Film­kri­ti­ker. Nach Wen­del­born war er vor­wie­gend für Ber­lin am Mor­gen, eine Tages­zei­tung aus dem »roten« Mün­zen­berg-Kon­zern, tätig. Wohl 1935 traf Wolf­gang (mit Gat­tin Eri­ka) im Gelob­ten Land ein, in Mos­kau also, wo er als Schnitt­mei­ster (Cut­ter) gear­bei­tet haben soll. Aller­dings sah er sich bald dar­auf ver­haf­tet, angeb­lich wegen sei­ner Nähe zu Bucha­rin. Er soll mit 33 vor »Ent­kräf­tung« im Gulag von Worku­ta, Nähe Nord­meer, gestor­ben sein. Frau und Sohn über­leb­ten. Ver­mut­lich bewog das über Jah­re hin­weg unge­wis­se Schick­sal ihres Jüng­sten die Mut­ter Käte Dun­cker mit dazu, sich nach dem Krieg in der DDR von der SED fernzuhalten.