Im Gegensatz zu seinen marxistisch gestimmten Eltern war der Berliner liberale Psychologe Karl Duncker, geboren Anfang Februar 1903, eher unpolitisch. Ab 1936/38 Emigrant in England und den USA, wohnte er zuletzt wieder mit seiner ebenfalls geflüchteten Mutter Käte zusammen. Er starb 1940, erst 37 Jahre alt, diesmal Ende Februar. Heute wird er zu den Kapazitäten der »Gestaltpsychologie« der Berliner Schule gezählt. Duncker galt als ausgesprochen begabt und fruchtbar, brachte es freilich, wohl wegen einiger Feindschaften gegen ihn und seine Arbeitsstelle, nie zu einem Lehrstuhl. Bis zu seiner Amtsenthebung im Sommer 1935 war er am Psychologischen Institut der Berliner Universität »nur« Assistent gewesen. Seine Habilitation wurde blockiert, obwohl er ausdrücklich versichert hatte, »nie Kommunist oder Sozialdemokrat« gewesen zu sein. Zuletzt, ab 1938, hatte er sich, am US-Swarthmore College (bei Philadelphia, Pennsylvania), mit dem Posten »Instructor« zu bescheiden. Folgt man Sören Wendelborns gründlicher, wenn auch fremdwortlastiger Studie von 2003 (Peter Lang Verlag), hatten die Belange der beruflichen Laufbahn keinen unerheblichen Anteil an Dunckers Schritt, sich 1940 in einem Waldstück bei Baltimore zu erschießen. Ich nehme an, die nahe Großstadt im benachbarten Staat Maryland ist gemeint, wo sich Duncker nach Vermutung seiner Mutter zuvor die Schusswaffe besorgt hatte. Man fand den Emigranten nebst »wirr« beschriftetem Zettel in seinem unter Bäumen geparkten Wagen. Für die Nachschlagewerke erfolgte sein Schritt aus einer alles und nichts sagenden »Depression« heraus.
Dunckers Eltern Käte und Hermann, beide Lehrer, waren stramme Kommunisten, versuchten jedoch, die politisch »neutrale«, vielleicht sogar »einfältige« Warte ihres ältesten Sohnes in Kauf zu nehmen. Bei der Mutter hatte er sogar einen dicken Stein im Brett. Man konnte zuweilen glauben, Karl sei ihr Liebhaber. Mit Hermann war sie eher unglücklich. Was ihren Liebling angeht, tat sich der mit anderen Frauen offensichtlich ziemlich schwer. Seine 1929 mit Gerda Naef geschlossene Ehe hielt keine drei Jahre lang. Die wissenschaftliche Arbeit war ihm viel wichtiger. Man gewinnt den Eindruck, Dunckers geschlechtlichen Begierden seien entweder von Natur aus mager oder aber von ihm selber in eine Flasche eingekorkt gewesen, die er manchmal in sicherer Entfernung auf dem Wasser schwimmen ließ. Jedenfalls scheute er, obwohl als durchaus »charmant, liebenswürdig und gutaussehend« beschrieben, Nähe. Wendelborns Material legt den Verdacht nahe, dafür sei Duncker einfach zu stolz, hochmütig, ja, selbstverliebt gewesen. Es ist kein Widerspruch dazu, wenn er es auch wieder schätzte, zu leiden und Opfer zu sein. Bei seinem Ehrgeiz war er darauf aus, der »Welt seinen Stempel aufzudrücken«, wie Wendelborn formuliert, doch seine Ängste und Arbeitsschwierigkeiten ließen ihn darin immer wieder stolpern. Er sei im Grunde ein Zerrissener, ein »Unentschiedener« gewesen, sagt Wendelborn. Somit entbehrte er einer inneren Festigkeit, auf der man einigermaßen sicher stehen konnte. Das wäre ihm wohl zu beschränkt gewesen. Schließlich wünschte er, über den Dingen zu stehen. Wahrscheinlich war es Karlchen nie vergönnt, den Größenwahnsinn des Kindes abzulegen. Entsprechend behauptet Wendelborn, er habe sich nie ausreichend von seinen Eltern, zumal seiner Mutter, gelöst. Aber wem gelingt das schon.
Einem Brief der Mutter an ihren Gatten aus dem Todesmonat verdanken wir recht bündige Behauptungen über das Selbstmordmotiv. »Die Angst vor einem völligen Versagen seiner Arbeitskraft u. die Verzweiflung darüber; das Zusammentreffen unglücklicher Zufälligkeiten u. Umstände; der Wunsch Köhlers, ihm durch Stellung leichter Aufgaben zu helfen, was ihn nur noch mehr entmutigte (denn er meinte, auch ihnen nicht mehr gewachsen zu sein) u. ihn demütigte; die Angst, dem College zur Last zu fallen; wohl auch die Verantwortung für uns beide – all das hat mitgewirkt, das Leben war einfach zu schwer für ihn.«
Ein Eingehen auf die von Wolfgang Köhler und Max Wertheimer geprägte »Gestaltpsychologie« bitte ich mir zu erlassen. Zum einen dürfte sie in solchen Problemfällen eine echt nebensächliche, zufällige Rolle spielen. Als Anfertiger bestimmter Gesundheitssandalen oder Erfinder eines neuen dreifach geschraubten Sprunges beim Eislaufen hätte Duncker die gleichen Probleme gehabt. Zum anderen gibt es ungefähr so viele psychologische, wahlweise philosophische Schulen, wie es spaltbare Haare auf einer gut durchbluteten Kopfhaut gibt. Sie alle teilen mit den Gesundheitssandalen und dem Eislaufsprung das Fruchtlose und somit Überflüssige. Aber für die Karriere sind sie oft nützlich, und deshalb folgt Abzweig auf Abzweig auf Abzweig, bis man von der Wirklichkeit und der Wahrheit kein Fitzelchen mehr sieht.
Neben Schwester Hedwig, die Ärztin war und steinalt wurde, hatte der Gestaltpsychologe noch einen jüngeren Bruder – der auch jünger umkam. Wolfgang Duncker (1909-42) trat in die Fußstapfen seiner Eltern, wurde kommunistischer Journalist, wohl speziell Filmkritiker. Nach Wendelborn war er vorwiegend für Berlin am Morgen, eine Tageszeitung aus dem »roten« Münzenberg-Konzern, tätig. Wohl 1935 traf Wolfgang (mit Gattin Erika) im Gelobten Land ein, in Moskau also, wo er als Schnittmeister (Cutter) gearbeitet haben soll. Allerdings sah er sich bald darauf verhaftet, angeblich wegen seiner Nähe zu Bucharin. Er soll mit 33 vor »Entkräftung« im Gulag von Workuta, Nähe Nordmeer, gestorben sein. Frau und Sohn überlebten. Vermutlich bewog das über Jahre hinweg ungewisse Schicksal ihres Jüngsten die Mutter Käte Duncker mit dazu, sich nach dem Krieg in der DDR von der SED fernzuhalten.