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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Ein Philosoph der Tat

»Dr. A. Ruge: Gestalt: gedrun­gen, 5 Fuß 5 Zoll. Alter ca. 50 Jah­re. Haa­re: blond und dünn. Augen: leben­dig, blau oder blau­grau. Stirn: etwas hoch und rund. Nase: stumpf. Mund: klein, etwas star­ke Lip­pen. Gesicht: rund, etwas bleich, doch nicht küm­mer­lich. Spra­che: flie­ßend, dekla­ma­to­risch, mit eini­ger Schär­fe im Ton, doch ohne eigent­li­chen Nasen­laut. In neue­rer Zeit soll er sein Bart­haar habe wach­sen las­sen.« So lau­te­te 1846 die amt­li­che Per­so­nen­be­schrei­bung, mit der die preu­ßi­schen Behör­den die Ver­haf­tung des steck­brief­lich Gesuch­ten anord­ne­ten, soll­te er preu­ßi­sches Staats­ge­biet betre­ten. Der Vor­wurf: Auf­ruf zum Umsturz, mit­hin »Hoch­ver­rat«. Sein Ver­ge­hen: Kri­tik an den herr­schen­den Verhältnissen.

Der skur­ril-prä­zi­sen phy­sio­gno­mi­schen Skiz­ze – nur mit dem Alter lag man leicht dane­ben, der gedrun­ge­ne, bleich­ge­sich­ti­ge Mann war zu die­sem Zeit­punkt noch nicht ein­mal Mit­te 40 – hät­te es gar nicht bedurft. Denn Arnold Ruge, der zu jener Zeit viel­leicht ein­fluss­reich­ste deut­sche Publi­zist, einer der Wort­füh­rer der soge­nann­ten »Jung­he­ge­lia­ner«, war euro­pa­weit bekannt. Und natür­lich ließ er sich, von Freun­den vor­ge­warnt, nicht in Preu­ßen blicken, son­dern rei­ste von Paris aus direkt nach Zürich, um dort mit dem Ver­le­ger Juli­us Frö­bel die Edi­ti­on sei­ner »Gesam­mel­ten Wer­ke« vor­zu­be­rei­ten. Sei­ner Gelas­sen­heit, sei­nem Opti­mis­mus und sei­nem Arbeits­ei­fer konn­te ein sol­cher Haft­be­fehl nicht viel anha­ben. Denn im Kon­flikt mit den mon­ar­chi­schen Behör­den – mit Zen­sur, Bespit­ze­lung, Ver­haf­tun­gen – hat­te er da schon reich­lich Erfahrung.

Am 13. Sep­tem­ber 1802 als erst­ge­bo­re­ner Sohn des Ehe­paa­res Chri­stoph Arnold und Sophia Katha­ri­na Ruge, geb. Wilcken, in Ber­gen auf der Insel Rügen gebo­ren, hat­te Arnold Ruge – nach einer glück­li­chen Kind­heit und dem Besuch des Gym­na­si­ums in Stral­sund – in Hal­le Phi­lo­so­phie stu­diert, wo er recht schnell mit den dor­ti­gen Bur­schen­schaf­ten in Kon­takt gekom­men war. In deren Rei­hen wur­de über poli­ti­sche Fra­gen, die gesell­schaft­li­che Ver­ant­wor­tung der aka­de­mi­schen Jugend und eine »Erneue­rung des Rei­ches«, d. h. die Ein­heit und Frei­heit Deutsch­lands dis­ku­tiert. Ruge fing Feu­er. Aber sol­che »poli­ti­sche Betä­ti­gung« wur­de nicht nur von den Uni­ver­si­täts­lei­tun­gen kri­tisch beob­ach­tet, sie war seit den Karls­ba­der Beschlüs­sen von 1819 auch dezi­diert ver­bo­ten, wes­halb sie im Gehei­men statt­fin­den musste.

Obwohl völ­lig unklar war, wie eine Stu­den­ten­ver­schwö­rung die ange­streb­te Ein­heit und Frei­heit Deutsch­lands errei­chen soll­te, schloss sich Ruge der Geheim­or­ga­ni­sa­ti­on »Jüng­lings­bund« an. Als der Bund durch die Indis­kre­ti­on eines Mit­glieds auf­flog, wur­de Arnold Ruge im Janu­ar 1824 in Hei­del­berg ver­haf­tet und zu einer Festungs­stra­fe von 15 Jah­ren ver­ur­teilt. Begrün­dung: »Teil­nah­me an einer ver­bo­te­nen, das Ver­bre­chen des Hoch­ver­rats vor­be­rei­ten­den Ver­bin­dung«. Die näch­sten Jah­re ver­brach­te er in der Festung Kol­berg, bis er im Janu­ar 1830 auf Grund eines könig­li­chen Erlas­ses begna­digt wur­de. Die Festungs­haft ließ ihn nicht etwa sei­ne Ansich­ten über­den­ken, er nutz­te sie viel­mehr, um sie zu grun­die­ren und sich aka­de­misch fort­zu­bil­den. Noch im Jahr sei­ner Ent­las­sung pro­mo­vier­te er mit einer Dis­ser­ta­ti­on über den römi­schen Schrift­stel­ler Juve­nal an der Uni­ver­si­tät Hal­le. Nur zwei Jah­re spä­ter leg­te er sei­ne Habi­li­ta­ti­on über die »Pla­to­ni­sche Ästhe­tik« vor und wur­de als Pri­vat­do­zent an der Uni­ver­si­tät Hal­le tätig.

Aber die Leh­re erfüll­te ihn nicht, sie war ihm zu welt­ab­ge­wandt, zu unpo­li­tisch, zumal 1830 die fran­zö­si­sche Juli­re­vo­lu­ti­on statt­ge­fun­den hat­te, deren Fol­gen ihn weit mehr fes­sel­ten: Die demo­kra­ti­schen Kräf­te in ganz Euro­pa nah­men einen neu­en Auf­schwung. In anony­men Arti­keln in den Blät­tern für lite­ra­ri­sche Unter­hal­tung begrüß­te Arnold Ruge die Juli­re­vo­lu­ti­on als gro­ßes poli­ti­sches Ereig­nis und trat für Pres­se­frei­heit und Volks­sou­ve­rä­ni­tät ein. Sei­ne Tex­te gehör­ten zu den ersten radi­ka­len Äuße­run­gen eines auf­le­ben­den demo­kra­ti­schen Gei­stes inner­halb der von der Metternich’schen Reak­ti­on beherrsch­ten deut­schen Staaten.

Als Ruge im Mai 1832 durch Hei­rat mit der ver­mö­gen­den Hal­len­se­rin Loui­se Düf­fer finan­zi­ell unab­hän­gig wur­de, wid­me­te er sich wie­der ver­stärkt den poli­ti­schen Ver­hält­nis­sen. Jetzt erst, nicht schon wäh­rend sei­ner Stu­di­en in Ber­lin, Hal­le und in der Haft, setzt eine Beschäf­ti­gung mit Georg Wil­helm Fried­rich Hegel ein, des­sen Ein­fluss Anfang der 1830er Jah­re sei­nen Höhe­punkt erreichte.

Durch sei­ne inten­si­ven Hegel-Stu­di­en löste sich Ruge schließ­lich von eini­gen sei­ner bur­schen­schaft­li­chen Ansich­ten. Wäh­rend Hegel in Rei­hen der Bur­schen­schaf­ten als »preu­ßi­scher Hof­phi­lo­soph«, als »Für­sten­knecht« galt, des­sen Den­ken die herr­schen­den Ver­hält­nis­se als ver­nünf­tig recht­fer­tig­te, begriff Ruge, dass Hegels dia­lek­ti­sche Metho­de not­wen­dig zur Kri­tik an poli­ti­scher und reli­giö­ser Knecht­schaft her­aus­for­dert und auf ihre prak­ti­sche Ver­än­de­rung drängt – eine Kon­se­quenz, die von Hegel selbst und sei­nen Schü­lern bis­her nicht gezo­gen wor­den war. Auch Hegel und sein System waren histo­ri­sche Phä­no­me­ne, die durch die dia­lek­ti­sche Metho­de »auf­zu­he­ben«, zu über­win­den sind. Die Phi­lo­so­phie muss­te poli­tisch, muss­te zu einer »Phi­lo­so­phie der Tat« wer­den und sich in den Dienst eines radi­ka­len Sozia­lis­mus und Demo­kra­tis­mus stel­len, um Ver­nunft und Wirk­lich­keit zusammenzuführen.

Die­se Wen­dung der hegel­schen Phi­lo­so­phie ins Poli­tisch-Prak­ti­sche soll­te nach Ruges Auf­fas­sung über den Weg der Publi­zi­stik und des Jour­na­lis­mus erfol­gen, durch Auf­klä­rung und Kri­tik. Zu die­sem Zweck grün­de­te er im Janu­ar 1838 die Hal­li­schen Jahr­bü­cher für deut­sche Wis­sen­schaft und Kunst, die schon sehr bald zu einem hoch­an­ge­se­he­nen Zen­trum des Jung­he­ge­lia­nis­mus, der Reli­gi­ons­kri­tik und der demo­kra­ti­schen Oppo­si­ti­on wur­den – und die Ruge selbst als »Revo­lu­ti­ons­vor­be­rei­tung« ver­stan­den wis­sen wollte.

Das war natür­lich durch­aus nicht im Sin­ne der preu­ßi­schen Macht­ha­ber. Es kam zu per­ma­nen­ten Kon­flik­ten mit der Zen­sur, bis die Hal­le­schen Jahr­bü­cher schließ­lich 1841 in Preu­ßen ver­bo­ten wur­den. Arnold Ruge reagier­te flugs, wich nach Sach­sen aus, ver­leg­te die Redak­ti­on nach Dres­den und nann­te die Jahr­bü­cher in Deut­sche Jahr­bü­cher um. Doch auch hier fie­len ab 1842 zahl­rei­che Arti­kel einer schär­fer wer­den­den Zen­sur zum Opfer. Um den Restrik­tio­nen zu ent­ge­hen, ließ Ruge die Zeit­schrift zweit­wei­se in der Schweiz drucken, aber es nütz­te nichts. Schon 1843 wur­de das Blatt auch von der säch­si­schen Zen­sur verboten.

Zur sel­ben Zeit mach­te auch ein ande­rer Jung­he­ge­lia­ner, Karl Marx, die glei­chen Erfah­run­gen. Auch die Rhei­ni­sche Zei­tung, die Marx 1841 über­nom­men und zu einer gewich­ti­gen radi­kal­de­mo­kra­ti­schen Stim­me gemacht hat­te, wur­de 1843 ver­bo­ten. Marx und Ruge, die sich kann­ten und schätz­ten – weil sie bei­de die Welt nicht nur inter­pre­tie­ren, son­dern ver­än­dern woll­ten, wie es Marx in sei­nen Feu­er­bach­the­sen 1845 for­mu­lie­ren soll­te –, ver­ein­bar­ten nun ein gemein­sa­mes Pro­jekt, das sie von Paris aus rea­li­sie­ren und mit dem sie ihre Anlie­gen wei­ter­ver­fol­gen woll­ten: die Deutsch-Fran­zö­si­schen Jahr­bü­cher. Tat­säch­lich erschien im Febru­ar 1844 eine erste Aus­ga­be die­ser Zeit­schrift, eine umfang­rei­che Dop­pel­num­mer. Es blieb das ein­zi­ge Heft. Nicht nur war das Blatt, trotz Unter­stüt­zung des Schwei­zer Ver­le­gers und Freund Ruges, Juli­us Frö­bel, hoff­nungs­los unter­fi­nan­ziert, es erfolg­te auch sogleich ein Ein­fuhr­ver­bot für die deut­schen Län­der durch die Regie­rung in Preu­ßen, und die mei­sten Fran­zo­sen konn­ten die deutsch­spra­chi­gen Bei­trä­ge nicht lesen. Gleich­zei­tig erließ Preu­ßen einen Haft­be­fehl gegen Marx und Ruge, die bei der Arbeit an der ersten Aus­ga­be dar­über hin­aus in Streit gerie­ten. Zwar gab es in den poli­ti­schen Zie­len eine gro­ße gemein­sa­me Schnitt­men­ge, aber in ent­schei­den­den Punk­ten auch kaum über­brück­ba­re Dif­fe­ren­zen. Marx woll­te das »Pro­le­ta­ri­at« zur Revo­lu­ti­on und an die Macht füh­ren, Ruge blieb im Wesent­li­chen bür­ger­li­cher Demo­krat, der kei­ner »Klas­se« ein Vor­recht ein­räu­men und das Pro­le­ta­ri­at durch eine Reform ihres Bewusst­seins ein­bin­den woll­te. Es kam zum Bruch,

Arnold Ruge zog sich in die Schweiz zurück, von wo aus er erst 1847 wie­der nach Deutsch­land zurück­keh­ren konn­te. Er ließ sich in Leip­zig als Buch­händ­ler nie­der, blieb aber poli­tisch-publi­zi­stisch aktiv und wur­de nach Aus­bruch der März­re­vo­lu­ti­on 1848 für Bres­lau in die Frank­fur­ter Natio­nal­ver­samm­lung gewählt, wo er sich der äußer­sten lin­ken Frak­ti­on anschloss. Erneut grün­de­te er eine Zeit­schrift Die Reform, die sofort zum Sprach­rohr der deut­schen Demo­kra­tie wurde.

Nach Nie­der­schla­gung der Revo­lu­ti­on 1849 wur­de auch die­se Zeit­schrift ver­bo­ten und Ruge zum wie­der­hol­ten Male zur Fahn­dung aus­ge­schrie­ben. Die poli­ti­sche Poli­zei des Deut­schen Bun­des hielt ihn für gefähr­li­cher als den eben­falls beob­ach­te­ten Marx. Zusam­men mit sei­ner Fami­lie flüch­te­te Ruge über Bel­gi­en nach Brigh­ton. Hier, in Eng­land, schloss er sich Gui­sep­pe Mazzini, Lajos Kos­suth und Alex­and­re Ledru-Rol­lin und ihrem »Comi­ta­to Euro­peo« an, um eine bür­ger­lich-demo­kra­ti­sche Oppo­si­ti­on auf­zu­bau­en, die eine gesamt­eu­ro­päi­sche Repu­blik zum Ziel hatte.

Die­ser kon­fö­de­ra­ti­ve Gedan­ke war es wohl auch, der den spä­ten Ruge wie­der mit Preu­ßen und der Poli­tik Bis­marcks »ver­söhn­te«. Nur Preu­ßen und Bis­marck hielt er für fähig, die Ein­heit Deutsch­lands zu gewähr­lei­sten und am Ende auch ein ver­ei­nig­tes Euro­pa her­bei­zu­füh­ren. Für die­se »Ver­dien­ste um die preu­ßi­sche Poli­tik« gewähr­te ihm Bis­marck ab 1877 sogar einen »Ehren­sold« von jähr­lich 3000 Reichsmark.

Dass sei­ne Hoff­nung im Gro­ßen und Gan­zen uner­füllt blieb und sich der Natio­na­lis­mus, im Gegen­teil, zum Ende des 19. Jahr­hun­dert hin extrem radi­ka­li­sier­te, muss­te Arnold Ruge nicht mehr erle­ben. Er starb am 31. Dezem­ber 1880 in Brighton.