»Dr. A. Ruge: Gestalt: gedrungen, 5 Fuß 5 Zoll. Alter ca. 50 Jahre. Haare: blond und dünn. Augen: lebendig, blau oder blaugrau. Stirn: etwas hoch und rund. Nase: stumpf. Mund: klein, etwas starke Lippen. Gesicht: rund, etwas bleich, doch nicht kümmerlich. Sprache: fließend, deklamatorisch, mit einiger Schärfe im Ton, doch ohne eigentlichen Nasenlaut. In neuerer Zeit soll er sein Barthaar habe wachsen lassen.« So lautete 1846 die amtliche Personenbeschreibung, mit der die preußischen Behörden die Verhaftung des steckbrieflich Gesuchten anordneten, sollte er preußisches Staatsgebiet betreten. Der Vorwurf: Aufruf zum Umsturz, mithin »Hochverrat«. Sein Vergehen: Kritik an den herrschenden Verhältnissen.
Der skurril-präzisen physiognomischen Skizze – nur mit dem Alter lag man leicht daneben, der gedrungene, bleichgesichtige Mann war zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal Mitte 40 – hätte es gar nicht bedurft. Denn Arnold Ruge, der zu jener Zeit vielleicht einflussreichste deutsche Publizist, einer der Wortführer der sogenannten »Junghegelianer«, war europaweit bekannt. Und natürlich ließ er sich, von Freunden vorgewarnt, nicht in Preußen blicken, sondern reiste von Paris aus direkt nach Zürich, um dort mit dem Verleger Julius Fröbel die Edition seiner »Gesammelten Werke« vorzubereiten. Seiner Gelassenheit, seinem Optimismus und seinem Arbeitseifer konnte ein solcher Haftbefehl nicht viel anhaben. Denn im Konflikt mit den monarchischen Behörden – mit Zensur, Bespitzelung, Verhaftungen – hatte er da schon reichlich Erfahrung.
Am 13. September 1802 als erstgeborener Sohn des Ehepaares Christoph Arnold und Sophia Katharina Ruge, geb. Wilcken, in Bergen auf der Insel Rügen geboren, hatte Arnold Ruge – nach einer glücklichen Kindheit und dem Besuch des Gymnasiums in Stralsund – in Halle Philosophie studiert, wo er recht schnell mit den dortigen Burschenschaften in Kontakt gekommen war. In deren Reihen wurde über politische Fragen, die gesellschaftliche Verantwortung der akademischen Jugend und eine »Erneuerung des Reiches«, d. h. die Einheit und Freiheit Deutschlands diskutiert. Ruge fing Feuer. Aber solche »politische Betätigung« wurde nicht nur von den Universitätsleitungen kritisch beobachtet, sie war seit den Karlsbader Beschlüssen von 1819 auch dezidiert verboten, weshalb sie im Geheimen stattfinden musste.
Obwohl völlig unklar war, wie eine Studentenverschwörung die angestrebte Einheit und Freiheit Deutschlands erreichen sollte, schloss sich Ruge der Geheimorganisation »Jünglingsbund« an. Als der Bund durch die Indiskretion eines Mitglieds aufflog, wurde Arnold Ruge im Januar 1824 in Heidelberg verhaftet und zu einer Festungsstrafe von 15 Jahren verurteilt. Begründung: »Teilnahme an einer verbotenen, das Verbrechen des Hochverrats vorbereitenden Verbindung«. Die nächsten Jahre verbrachte er in der Festung Kolberg, bis er im Januar 1830 auf Grund eines königlichen Erlasses begnadigt wurde. Die Festungshaft ließ ihn nicht etwa seine Ansichten überdenken, er nutzte sie vielmehr, um sie zu grundieren und sich akademisch fortzubilden. Noch im Jahr seiner Entlassung promovierte er mit einer Dissertation über den römischen Schriftsteller Juvenal an der Universität Halle. Nur zwei Jahre später legte er seine Habilitation über die »Platonische Ästhetik« vor und wurde als Privatdozent an der Universität Halle tätig.
Aber die Lehre erfüllte ihn nicht, sie war ihm zu weltabgewandt, zu unpolitisch, zumal 1830 die französische Julirevolution stattgefunden hatte, deren Folgen ihn weit mehr fesselten: Die demokratischen Kräfte in ganz Europa nahmen einen neuen Aufschwung. In anonymen Artikeln in den Blättern für literarische Unterhaltung begrüßte Arnold Ruge die Julirevolution als großes politisches Ereignis und trat für Pressefreiheit und Volkssouveränität ein. Seine Texte gehörten zu den ersten radikalen Äußerungen eines auflebenden demokratischen Geistes innerhalb der von der Metternich’schen Reaktion beherrschten deutschen Staaten.
Als Ruge im Mai 1832 durch Heirat mit der vermögenden Hallenserin Louise Düffer finanziell unabhängig wurde, widmete er sich wieder verstärkt den politischen Verhältnissen. Jetzt erst, nicht schon während seiner Studien in Berlin, Halle und in der Haft, setzt eine Beschäftigung mit Georg Wilhelm Friedrich Hegel ein, dessen Einfluss Anfang der 1830er Jahre seinen Höhepunkt erreichte.
Durch seine intensiven Hegel-Studien löste sich Ruge schließlich von einigen seiner burschenschaftlichen Ansichten. Während Hegel in Reihen der Burschenschaften als »preußischer Hofphilosoph«, als »Fürstenknecht« galt, dessen Denken die herrschenden Verhältnisse als vernünftig rechtfertigte, begriff Ruge, dass Hegels dialektische Methode notwendig zur Kritik an politischer und religiöser Knechtschaft herausfordert und auf ihre praktische Veränderung drängt – eine Konsequenz, die von Hegel selbst und seinen Schülern bisher nicht gezogen worden war. Auch Hegel und sein System waren historische Phänomene, die durch die dialektische Methode »aufzuheben«, zu überwinden sind. Die Philosophie musste politisch, musste zu einer »Philosophie der Tat« werden und sich in den Dienst eines radikalen Sozialismus und Demokratismus stellen, um Vernunft und Wirklichkeit zusammenzuführen.
Diese Wendung der hegelschen Philosophie ins Politisch-Praktische sollte nach Ruges Auffassung über den Weg der Publizistik und des Journalismus erfolgen, durch Aufklärung und Kritik. Zu diesem Zweck gründete er im Januar 1838 die Hallischen Jahrbücher für deutsche Wissenschaft und Kunst, die schon sehr bald zu einem hochangesehenen Zentrum des Junghegelianismus, der Religionskritik und der demokratischen Opposition wurden – und die Ruge selbst als »Revolutionsvorbereitung« verstanden wissen wollte.
Das war natürlich durchaus nicht im Sinne der preußischen Machthaber. Es kam zu permanenten Konflikten mit der Zensur, bis die Halleschen Jahrbücher schließlich 1841 in Preußen verboten wurden. Arnold Ruge reagierte flugs, wich nach Sachsen aus, verlegte die Redaktion nach Dresden und nannte die Jahrbücher in Deutsche Jahrbücher um. Doch auch hier fielen ab 1842 zahlreiche Artikel einer schärfer werdenden Zensur zum Opfer. Um den Restriktionen zu entgehen, ließ Ruge die Zeitschrift zweitweise in der Schweiz drucken, aber es nützte nichts. Schon 1843 wurde das Blatt auch von der sächsischen Zensur verboten.
Zur selben Zeit machte auch ein anderer Junghegelianer, Karl Marx, die gleichen Erfahrungen. Auch die Rheinische Zeitung, die Marx 1841 übernommen und zu einer gewichtigen radikaldemokratischen Stimme gemacht hatte, wurde 1843 verboten. Marx und Ruge, die sich kannten und schätzten – weil sie beide die Welt nicht nur interpretieren, sondern verändern wollten, wie es Marx in seinen Feuerbachthesen 1845 formulieren sollte –, vereinbarten nun ein gemeinsames Projekt, das sie von Paris aus realisieren und mit dem sie ihre Anliegen weiterverfolgen wollten: die Deutsch-Französischen Jahrbücher. Tatsächlich erschien im Februar 1844 eine erste Ausgabe dieser Zeitschrift, eine umfangreiche Doppelnummer. Es blieb das einzige Heft. Nicht nur war das Blatt, trotz Unterstützung des Schweizer Verlegers und Freund Ruges, Julius Fröbel, hoffnungslos unterfinanziert, es erfolgte auch sogleich ein Einfuhrverbot für die deutschen Länder durch die Regierung in Preußen, und die meisten Franzosen konnten die deutschsprachigen Beiträge nicht lesen. Gleichzeitig erließ Preußen einen Haftbefehl gegen Marx und Ruge, die bei der Arbeit an der ersten Ausgabe darüber hinaus in Streit gerieten. Zwar gab es in den politischen Zielen eine große gemeinsame Schnittmenge, aber in entscheidenden Punkten auch kaum überbrückbare Differenzen. Marx wollte das »Proletariat« zur Revolution und an die Macht führen, Ruge blieb im Wesentlichen bürgerlicher Demokrat, der keiner »Klasse« ein Vorrecht einräumen und das Proletariat durch eine Reform ihres Bewusstseins einbinden wollte. Es kam zum Bruch,
Arnold Ruge zog sich in die Schweiz zurück, von wo aus er erst 1847 wieder nach Deutschland zurückkehren konnte. Er ließ sich in Leipzig als Buchhändler nieder, blieb aber politisch-publizistisch aktiv und wurde nach Ausbruch der Märzrevolution 1848 für Breslau in die Frankfurter Nationalversammlung gewählt, wo er sich der äußersten linken Fraktion anschloss. Erneut gründete er eine Zeitschrift Die Reform, die sofort zum Sprachrohr der deutschen Demokratie wurde.
Nach Niederschlagung der Revolution 1849 wurde auch diese Zeitschrift verboten und Ruge zum wiederholten Male zur Fahndung ausgeschrieben. Die politische Polizei des Deutschen Bundes hielt ihn für gefährlicher als den ebenfalls beobachteten Marx. Zusammen mit seiner Familie flüchtete Ruge über Belgien nach Brighton. Hier, in England, schloss er sich Guiseppe Mazzini, Lajos Kossuth und Alexandre Ledru-Rollin und ihrem »Comitato Europeo« an, um eine bürgerlich-demokratische Opposition aufzubauen, die eine gesamteuropäische Republik zum Ziel hatte.
Dieser konföderative Gedanke war es wohl auch, der den späten Ruge wieder mit Preußen und der Politik Bismarcks »versöhnte«. Nur Preußen und Bismarck hielt er für fähig, die Einheit Deutschlands zu gewährleisten und am Ende auch ein vereinigtes Europa herbeizuführen. Für diese »Verdienste um die preußische Politik« gewährte ihm Bismarck ab 1877 sogar einen »Ehrensold« von jährlich 3000 Reichsmark.
Dass seine Hoffnung im Großen und Ganzen unerfüllt blieb und sich der Nationalismus, im Gegenteil, zum Ende des 19. Jahrhundert hin extrem radikalisierte, musste Arnold Ruge nicht mehr erleben. Er starb am 31. Dezember 1880 in Brighton.