Sie sind immer für eine Überraschung gut, unsere englischen Freunde. Als man auf dem Kontinent das Wort »Brexit« nicht mehr hören konnte, weil das Unterhaus erst die Regierung, dann sich selbst blockierte, ging plötzlich alles ganz schnell: Wuschel-Premier Boris Johnson ruft Neuwahlen aus, Labours Jeremy Corbyn zieht über Nacht mit, und alle atmen befreit auf: Alles wird gut!
Na ja, wir wollen mal auf dem Teppich bleiben. Als im Jahr 2016 David Cameron arglos ein Referendum über den Verbleib des Vereinigten Königreichs in der EU vom Zaun brach, hatte er mit einem klaren Ja seiner Landsleute gerechnet. Die entschieden sich gegenteilig. Danach verhandelte die neue Premierministerin Theresa May endlos in Brüssel und hatte nach verlorener Wahl auch noch die Nordiren im Genick, von deren parlamentarischer Unterstützung sie abhing.
Spätestens jetzt wurden viele Menschen unruhig, die gleichsam zwei Welten angehören, Insel und Kontinent. Geht die Freizügigkeit zum Teufel? Kann ich in Zukunft noch problemlos meine Lieben in der anderen Welt besuchen? Und bald las man in den Zeitungen, dass sich viele potentiell Betroffene um Einbürgerung und Pässe bemühten. You never know …
In Swanley (Grafschaft Kent) entschloss sich meine Freundin Inge N., bei der Deutschen Botschaft in London ihre Chancen auf Wiedereinbürgerung zu ergründen. Sie hatte Ende der 1950er Jahre einen Engländer geehelicht, der als Ingenieur an einem geheimen Rüstungsprojekt mitarbeitete. Den Job hätte er mit einer deutschen Ehefrau aufgeben müssen. So ließ sich die Gute einbürgern. Nun schickte ihr die liebenswürdige Botschaft einen Haufen Papier und warnte, bei dem Andrang der »Rückkehrer« könne es schon mal zwei Jahre dauern. Tat es dann aber nicht, weil Urkunden und Nachweise komplett und die lebhaften Beziehungen zum alten Heimatland breit dokumentiert waren. Nach gut einem Dreivierteljahr erfolgte die Wiedereinbürgerung.
Dann kommt der große Tag: Der Pass wird abgeholt! Eine halbe Stunde vor Öffnung der Botschaft steht eine lange Schlange vor dem Nebeneingang. Es ist ein buntes Völkchen, nach Tracht und Aussehen aus vielen Ländern aufgelaufen. Irgendwann sind wir dran. Inge legitimiert sich mit ihrem zweiten – englischen – Pass. Darin liegt eine deutsche Kennkarte ohne Bild aus den späten Vierzigern. Die Security-Frauen – eine farbige Engländerin und eine blutjunge deutsche Bundespolizistin – bestaunen das ungewöhnliche historische Dokument. Sie staunen noch mehr, als ich ihnen erkläre, dass der Geburtsort der Antragstellerin, Wangerin/Kreis Regenwalde (Pommern), seit Kriegsende zu Polen gehört. Die Welt ist voller Wunder.
Deutschland hat eine Bürgerin mehr. Das wird abends mit Rotwein begossen. Und ich muss mal gucken, wie ich zu einem englischen Pass komme. Vielleicht kriegt man so was im Darknet.