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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Ein offener Brief

Herr Bun­des­kanz­ler Scholz,

seit mehr als 11 Mona­ten tobt mit­ten in Euro­pa ein erbar­mungs­lo­ser Krieg, der im Febru­ar des ver­gan­ge­nen Jah­res mit dem Angriff Russ­lands auf die Ukrai­ne begon­nen hat. Ein Krieg ist ein aus der Kon­trol­le gera­te­ner schwer­wie­gen­der Kon­flikt, der mit mili­tä­ri­schen Mit­teln aus­ge­tra­gen wird. Wie jeder ande­re Kon­flikt durch­läuft er meh­re­re Pha­sen, für die alle Kon­flikt­be­tei­lig­ten eine (Mit)Verantwortung tra­gen. Auch auf den Krieg in der Ukrai­ne bezo­gen gibt es sol­che Ver­ant­wor­tungs­ebe­nen: Für sei­ne Vor­ge­schich­te, sei­nen Beginn, sei­nen Ver­lauf, sei­ne Been­di­gung und die Zeit danach. Unstrit­tig dürf­te dabei sein, dass für den Beginn des Angriffs­krie­ges gegen die Ukrai­ne Russ­land ganz allein ver­ant­wort­lich ist, wäh­rend die Ver­ant­wor­tung hin­sicht­lich der ande­ren Ebe­nen weit­aus schwie­ri­ger zu ver­or­ten ist und am Ende unwei­ger­lich auch zu uns selbst führt.

Bereits seit meh­re­ren Mona­ten ist die öffent­li­che Debat­te zum Ukrai­ne­krieg in Deutsch­land ganz wesent­lich davon bestimmt, dass der Ruf nach Waf­fen­lie­fe­run­gen immer lau­ter wird und ste­reo­typ wei­te­re Waf­fen­lie­fe­run­gen gefor­dert wer­den, noch bevor die vor­he­ri­gen For­de­run­gen erfüllt wor­den sind. Für Ihre abwä­gen­de Hal­tung wer­den Sie dafür immer wie­der hef­tig kri­ti­siert, und die media­le Bericht­erstat­tung zeich­net dabei gern das Bild eines Getrie­be­nen: Getrie­ben von der Ukrai­ne, der sie unter­stüt­zen­den Mili­tär­al­li­anz, der Waf­fen­in­du­strie und den Kriegs­be­für­wor­tern inner­halb Ihrer eige­nen Regie­rung. Mich erstaunt dabei immer wie­der die schein­bar uner­schüt­ter­li­che Gewiss­heit der Befür­wor­ter von Waf­fen­lie­fe­run­gen, dass die­ser Krieg nur mit mili­tä­ri­schen Mit­teln zu einem guten Ende kom­men kann, wäh­rend jene Stim­men, die mehr Diplo­ma­tie for­dern, dabei nur all­zu oft igno­riert und des­avou­iert wer­den, selbst wenn es sich um aus­ge­wie­se­ne Mili­tär­ex­per­ten handelt.

Noch vor weni­gen Jahr­zehn­ten bestimm­te die Paro­le »Nie wie­der Krieg« das Lebens­ge­fühl der Deut­schen. Sie wur­de in Deutsch­land nach dem Ersten Welt­krieg gebo­ren, als der »Frie­dens­bund der Kriegs­teil­neh­mer« 1919 ver­such­te, jene Deut­schen zu sam­meln, die der Krieg zu Pazi­fi­sten wer­den ließ und die sich mit Abscheu vom preu­ßisch-deut­schen Mili­ta­ris­mus abwen­de­ten. Im Mai 1945, nach der bedin­gungs­lo­sen Kapi­tu­la­ti­on der Wehr­macht, erleb­te die Paro­le »Nie wie­der Krieg« eine Renais­sance, und es schien so, als wäre die gro­ße Mehr­heit der Deut­schen von nun an zu einer pazi­fi­sti­schen Gesin­nung bereit. In die­se Zeit fällt auch das Frie­dens­ge­bot des Grund­ge­set­zes, das den Deut­schen eine pazi­fi­stisch aus­ge­rich­te­te Grund­ori­en­tie­rung geben soll­te, um sie vor wei­te­ren Kriegs­er­fah­run­gen zu schützen.

Inzwi­schen sind fast acht­zig Jah­re ver­gan­gen, und mit­ten in Euro­pa tobt wie­der ein Krieg, an dem Deutsch­land mit Waf­fen­lie­fe­run­gen, mit finan­zi­el­len Hil­fen und der Aus­bil­dung von ukrai­ni­schen Sol­da­ten auf Bun­des­wehr­stütz­punk­ten betei­ligt ist. Und plötz­lich ist sogar die Rede von einem »guten Krieg« (Son­ja Zekri) gegen Russ­land, der nur mili­tä­risch ent­schie­den wer­de kann, so als hät­te es die leid­vol­len Erfah­run­gen aus den bei­den bis­he­ri­gen Welt­krie­gen nicht gegeben.

Uns Deut­schen ist in unse­re histo­ri­sche DNA das tie­fe Gefühl der (Kriegs)Schuld, aber auch die eben­so tie­fe Erfah­rung der Ver­ge­bung und Ver­söh­nung gelegt wor­den. Nach dem Ende des Zwei­ten Welt­kriegs begann für uns Deut­sche ein müh­sa­mer und lan­ger Weg hin zu einem fried­vol­len Mit­ein­an­der, sowohl inner­halb unse­rer Gesell­schaft als auch inner­halb der Welt­ge­mein­schaft, die uns ihre ver­söh­nen­de Hand gereicht hat und damit Deutsch­land zu dem wer­den ließ, was es heu­te aus­macht. Die­se spe­zi­fisch deut­sche Erfah­rung von Ver­ge­bung und Ver­söh­nung dürf­te eine nicht zu unter­schät­zen­de Rol­le in Wil­ly Brandts Ost­po­li­tik gespielt haben, die sich mit dem Bild sei­nes Knie­falls in War­schau und sei­nen Wor­ten »Der Frie­den ist nicht alles, aber alles ist ohne den Frie­den nichts« in unser histo­ri­sches Gedächt­nis ein­ge­brannt hat.

In dem Krieg in der Ukrai­ne sind Schät­zun­gen zufol­ge bis­her 200.000 gefal­le­ne und ver­letz­te ukrai­ni­sche und rus­si­sche Sol­da­ten zu bekla­gen und etwa 50.000 zivi­le Opfer sowie Mil­lio­nen von Geflüch­te­ten. Und auch wei­ter­hin scheint es so zu sein, dass kei­ne der bei­den Kriegs­par­tei­en die­sen Krieg gewin­nen kann.

Vor die­sem Hin­ter­grund war Ihre bis­her stets abwä­gen­de Hal­tung bei der Fra­ge nach immer wei­te­ren Waf­fen­lie­fe­run­gen an die Ukrai­ne mehr als begrü­ßens­wert. Inzwi­schen haben Sie aber dem Druck nach­ge­ge­ben und der Lie­fe­rung von Leo­pard-Kampf­pan­zern an die Ukrai­ne zuge­stimmt, wor­auf als unmit­tel­ba­re Ant­wort dar­auf inzwi­schen bereits die Lie­fe­rung von Kampf­jets gefor­dert wird: »Die rus­si­sche Aggres­si­on kann nur mit adäqua­ten Waf­fen gestoppt wer­den«, wird der ukrai­ni­sche Prä­si­dent in der Tages­schau hier­zu zitiert, denn »der (rus­si­sche) Ter­ror­staat wird es anders nicht ver­ste­hen«, so Wolo­dym­yr Selenskyj.

In die­ser Situa­ti­on wird an Sie drin­gend appelliert:

  1. Klä­ren Sie die Öffent­lich­keit über Ihr kon­kre­tes Ziel im Ukrai­ne­krieg auf!
  2. Über­neh­men Sie eine nicht­mi­li­tä­ri­sche und frie­dens­ori­en­tier­te Füh­rungs­rol­le inner­halb der die Ukrai­ne unter­stüt­zen­den Staa­ten­ge­mein­schaf­ten und lei­ten Sie erste Schrit­te zu einem Waf­fen­still­stand sowie zu einer diplo­ma­ti­schen Lösung des Ukrai­ne­krie­ges ein!
  3. Ver­hel­fen Sie damit dem Frie­dens­ge­bot des Grund­ge­set­zes zu jener frie­dens­po­li­ti­schen Rol­le, die die Müt­ter und Väter des Grund­ge­set­zes im Auge hat­ten, um künf­ti­ge Krie­ge zu ver­hin­dern und nöti­gen­falls zu beenden!