Herr Bundeskanzler Scholz,
seit mehr als 11 Monaten tobt mitten in Europa ein erbarmungsloser Krieg, der im Februar des vergangenen Jahres mit dem Angriff Russlands auf die Ukraine begonnen hat. Ein Krieg ist ein aus der Kontrolle geratener schwerwiegender Konflikt, der mit militärischen Mitteln ausgetragen wird. Wie jeder andere Konflikt durchläuft er mehrere Phasen, für die alle Konfliktbeteiligten eine (Mit)Verantwortung tragen. Auch auf den Krieg in der Ukraine bezogen gibt es solche Verantwortungsebenen: Für seine Vorgeschichte, seinen Beginn, seinen Verlauf, seine Beendigung und die Zeit danach. Unstrittig dürfte dabei sein, dass für den Beginn des Angriffskrieges gegen die Ukraine Russland ganz allein verantwortlich ist, während die Verantwortung hinsichtlich der anderen Ebenen weitaus schwieriger zu verorten ist und am Ende unweigerlich auch zu uns selbst führt.
Bereits seit mehreren Monaten ist die öffentliche Debatte zum Ukrainekrieg in Deutschland ganz wesentlich davon bestimmt, dass der Ruf nach Waffenlieferungen immer lauter wird und stereotyp weitere Waffenlieferungen gefordert werden, noch bevor die vorherigen Forderungen erfüllt worden sind. Für Ihre abwägende Haltung werden Sie dafür immer wieder heftig kritisiert, und die mediale Berichterstattung zeichnet dabei gern das Bild eines Getriebenen: Getrieben von der Ukraine, der sie unterstützenden Militärallianz, der Waffenindustrie und den Kriegsbefürwortern innerhalb Ihrer eigenen Regierung. Mich erstaunt dabei immer wieder die scheinbar unerschütterliche Gewissheit der Befürworter von Waffenlieferungen, dass dieser Krieg nur mit militärischen Mitteln zu einem guten Ende kommen kann, während jene Stimmen, die mehr Diplomatie fordern, dabei nur allzu oft ignoriert und desavouiert werden, selbst wenn es sich um ausgewiesene Militärexperten handelt.
Noch vor wenigen Jahrzehnten bestimmte die Parole »Nie wieder Krieg« das Lebensgefühl der Deutschen. Sie wurde in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg geboren, als der »Friedensbund der Kriegsteilnehmer« 1919 versuchte, jene Deutschen zu sammeln, die der Krieg zu Pazifisten werden ließ und die sich mit Abscheu vom preußisch-deutschen Militarismus abwendeten. Im Mai 1945, nach der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht, erlebte die Parole »Nie wieder Krieg« eine Renaissance, und es schien so, als wäre die große Mehrheit der Deutschen von nun an zu einer pazifistischen Gesinnung bereit. In diese Zeit fällt auch das Friedensgebot des Grundgesetzes, das den Deutschen eine pazifistisch ausgerichtete Grundorientierung geben sollte, um sie vor weiteren Kriegserfahrungen zu schützen.
Inzwischen sind fast achtzig Jahre vergangen, und mitten in Europa tobt wieder ein Krieg, an dem Deutschland mit Waffenlieferungen, mit finanziellen Hilfen und der Ausbildung von ukrainischen Soldaten auf Bundeswehrstützpunkten beteiligt ist. Und plötzlich ist sogar die Rede von einem »guten Krieg« (Sonja Zekri) gegen Russland, der nur militärisch entschieden werde kann, so als hätte es die leidvollen Erfahrungen aus den beiden bisherigen Weltkriegen nicht gegeben.
Uns Deutschen ist in unsere historische DNA das tiefe Gefühl der (Kriegs)Schuld, aber auch die ebenso tiefe Erfahrung der Vergebung und Versöhnung gelegt worden. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs begann für uns Deutsche ein mühsamer und langer Weg hin zu einem friedvollen Miteinander, sowohl innerhalb unserer Gesellschaft als auch innerhalb der Weltgemeinschaft, die uns ihre versöhnende Hand gereicht hat und damit Deutschland zu dem werden ließ, was es heute ausmacht. Diese spezifisch deutsche Erfahrung von Vergebung und Versöhnung dürfte eine nicht zu unterschätzende Rolle in Willy Brandts Ostpolitik gespielt haben, die sich mit dem Bild seines Kniefalls in Warschau und seinen Worten »Der Frieden ist nicht alles, aber alles ist ohne den Frieden nichts« in unser historisches Gedächtnis eingebrannt hat.
In dem Krieg in der Ukraine sind Schätzungen zufolge bisher 200.000 gefallene und verletzte ukrainische und russische Soldaten zu beklagen und etwa 50.000 zivile Opfer sowie Millionen von Geflüchteten. Und auch weiterhin scheint es so zu sein, dass keine der beiden Kriegsparteien diesen Krieg gewinnen kann.
Vor diesem Hintergrund war Ihre bisher stets abwägende Haltung bei der Frage nach immer weiteren Waffenlieferungen an die Ukraine mehr als begrüßenswert. Inzwischen haben Sie aber dem Druck nachgegeben und der Lieferung von Leopard-Kampfpanzern an die Ukraine zugestimmt, worauf als unmittelbare Antwort darauf inzwischen bereits die Lieferung von Kampfjets gefordert wird: »Die russische Aggression kann nur mit adäquaten Waffen gestoppt werden«, wird der ukrainische Präsident in der Tagesschau hierzu zitiert, denn »der (russische) Terrorstaat wird es anders nicht verstehen«, so Wolodymyr Selenskyj.
In dieser Situation wird an Sie dringend appelliert:
- Klären Sie die Öffentlichkeit über Ihr konkretes Ziel im Ukrainekrieg auf!
- Übernehmen Sie eine nichtmilitärische und friedensorientierte Führungsrolle innerhalb der die Ukraine unterstützenden Staatengemeinschaften und leiten Sie erste Schritte zu einem Waffenstillstand sowie zu einer diplomatischen Lösung des Ukrainekrieges ein!
- Verhelfen Sie damit dem Friedensgebot des Grundgesetzes zu jener friedenspolitischen Rolle, die die Mütter und Väter des Grundgesetzes im Auge hatten, um künftige Kriege zu verhindern und nötigenfalls zu beenden!